Freitag, 10. März 2023

Die Menschen brechen gerne Regeln

 

Wie ein hübscher Vogel wachen die Werte über den Zusammenhalt einer Gesellschaft und ersticken jedes Aufbegehren
Deshalb wird es nicht vorkommen, dass zwei Schachspieler nur die Schönheit der Balance in der Anfangsstellung bewundern. Weiß wird immer den ersten Zug machen und Schwarz folgen, weil beide es als notwendig erachten, sich sich zu messen. Denn der Mensch ist es gewohnt, seine Umgebung für die Erhaltung seines Lebens zu bezwingen. Alle Werte leiten sich von dieser Notwendigkeit ab. Sie verändern sich erst mit dem Wandel der Arbeitsbedingungen, durch die der Mensch seinen Lebensunterhalt bestreitet.

Wert bemisst sich an Besitz

Ist das nicht bereits der Fall? Nun, die Menschen hetzen weiterhin umher, als seien sie täglich auf der Jagd. Dabei geht es für die meisten nicht mehr um die notwendigen Lebensgrundlagen. Die Grundbedürfnisse sind bei Ihnen durch relativ wenig Arbeit abgedeckt. Es kommt Ihnen vor allem auf die Erfüllung gesellschaftlicher und selbst definierten Werte an.

Die Werte einer modernen Gesellschaft entwickeln sich aus dem Überschuss ihrer wirtschaftlichen Produktion. Gerade, weil die notwendige Arbeitsleistung einen geringen Anteil ausmacht, kann ein Großteil der vergüteten Leistung auf neue Werte gerichtet werden. Diese neuen Werte sind entsprechend vorwiegend materieller Natur. Die Arbeit dient inzwischen dazu, sich alles kaufen zu können, nicht nur notwendige Produkte, sondern besonders begehrenswerte. Der gesellschaftliche Wert eines Menschen bemisst sich an seinem Besitz. Ansehen wird gekauft. Dadurch verschieben sich andere Werte um den Faktor Geld.

Geld wird zum Akkumulator für Werte. Sie werden noch immer aus dem kollektiven Strom entnommen. Doch die Masse blickt anders in den Strom. Es ist der Blick des Geldes. In dem Moment, in dem die Masse wohlhabend ist, verändert sich ihr Fokus. Damit setzt sie die Mechanismen des Wandels in Gang. Denn es ist immer die Masse, durch die sich die Welt verändert.

Werte sind also für die Masse. Sie muss sie akzeptieren. Ihr gefallen offensichtlich leicht verständliche Vorzeigewerte. Deshalb funktionieren zum Beispiel die zehn Gebote. Die Masse braucht einen Rahmen, aus dem heraus sie auf andere mit dem Finger zeigen kann.

Werte polarisieren

Menschen haben im Umgang mit Werten zwei Gesichter: das freundliche, umgängliche, das sich bemüht, Werte zu befolgen und Ihnen gerecht zu werden sowie das düstere, hämische, das sich erfreut, andere daran scheitern zu sehen und es ihnen vorzuwerfen. Werte werden dementsprechend gelebt und benutzt. Vor allem aber dienen sie dazu, die Masse zu beruhigen. Sie geben ihr eine Aufgabe: Werte zu befolgen und all diejenigen zu verachten, die nicht in der Lage oder willens sind, sie zu befolgen. Dabei beneidet sie heimlich die Abtrünnigen, die es wagen, entgegen allen Anfeindungen einen eigenen Weg einzuschlagen.

Werte erfüllen eine wichtige gesellschaftliche Funktion – sie polarisieren. Damit lösen Sie Debatten und Diskussionen aus. Manche verpuffen schnell, andere entzünden einen Sturm. Diese Werte sind Ursache und Anlass von Entwicklungen und Umbrüchen.

Deshalb brechen die Menschen gerne Regeln. Weil sie damit ihre Werte auf die Probe stellen. Kommen Sie mit dem Regelbruch durch oder sind die Werte stärker? Im kleinen oder im großen: die Masse entscheidet auch hier.

Nicht von ungefähr begehrt in jeder Gesellschaft gerade die Jugend auf. Sie hat wenig gefestigt Werte und ist frei, zu experimentieren. Doch die Zeitspanne ist kurz dafür. Werte engen die jungen Menschen von Jahr zu Jahr mehr ein. Bald müssen sie für ihren notwendigen Lebensunterhalt sorgen und dann für den einer eigenen Familie. Der Wert, der am unbarmherzigsten zuschlägt, heißt Verantwortung. Die Verantwortung wird von anderen Werten flankiert: Leistungsbereitschaft, Verzicht, Härte gegen sich selbst. Verbrämt wird sie durch ergänzende Werte wie Nationalstolz, Liebe zur Familie und den eigenen Kindern, Stolz auf das Erreichte und Anerkennung von außen. Wer Verantwortung übernimmt, steht gut da – zumindest, wenn es gut läuft. Falls nicht, greifen andere Werte: sich dem Unvermeidlichen stellen, nicht aufgeben, einstecken können, weitermachen, neu anfangen, nicht klagen und so weiter.

Werte werden zu einer moralischen Instanz

Passend zu jeder Situation im Leben, gibt es mindestens einen brauchbaren Wert. Oft eingebettet in weise Sprüche. Der Mensch wird eingekreist von Werten, die ihn wie ein engmaschiges Sieb umhüllen und nur für opportunes Verhalten durchlässig sind.

Das führt immer wieder zu Protest. An den Werten wird gerüttelt. Die Menschen wollen ausbrechen. Manche schaffen es. Doch Werte sind tückisch. Wer einem von ihnen entflieht, wird von anderen eingefangen. Das funktioniert vor allem deshalb, weil Werte emotional verankert sind. Wer könnte sich entziehen, wenn Menschen in Not geraten oder an nationales Gefühl appelliert wird? Die Frage: „Liebst du mich denn gar nicht?“ mit „Nein!“ zu beantworten, fällt den meisten schwer.

Emotional aufgeladene Werte werden zu einer moralischen Instanz. Sie werden benutzt, Menschen zu Handlungen zu bewegen. Beispielsweise regelmäßig zur Arbeit zu gehen. Allein mit Geldzahlungen und Androhung von Kündigung bei Faulheit funktioniert die Arbeitswelt nicht. Es kommt noch ein übergeordnetes Prinzip hinzu. Die Idee des gesellschaftlichen Wertes und der Freude an der Arbeit. Erst die Gewissheit, von Nutzen zu sein, stellt die Menschen zufrieden und veranlasst sie zu regelmäßig wiederkehrenden Leistungen. Natürlich müssen die Werte geglaubt werden. Doch dafür sorgen die Werte mit ihrem verschachtelten Wesen selbst, indem sie den Menschen das Gefühl geben, es lohne sich, die Werte der Gesellschaft zu befolgen.

Jeder Mensch wird in Werte hineingeboren

Das funktioniert mit einem bizarren Trick: Die Menschen belügen sich selbst um ihren Erfolg und ihr Wohlbehagen in ihrem Leben. Es ist ein gesellschaftliches Ritual, dass ihnen abverlangt, einen guten Platz für sich im Getriebe der Welt zu finden. Keiner wird zugeben, wie hoch der Preis dafür ist. Nur Außenseiter denken laut darüber nach – und werden dafür verlacht. Zumal auch sie nicht darum herumkommen, sich irgendwelchen Werten zu beugen. Das ist der Handel: „Siehst du, auch du hältst dich an Regeln!“ heißt es lapidar. Es stimmt: Flucht vor Regeln ist nicht möglich. Sie sind überall. Schon weil der menschliche Körper nach Regeln funktioniert und die Welt ihre Naturgesetze hat. Jeder Mensch wird in Werte hineingeboren. Nur welche es genau sind, ist eine Laune des Zufalls.

Das Problem ist auch nicht, dass es überhaupt Werte gibt. Vielmehr besteht das Problem darin, dass nicht alle Werte zu jedem Menschen passen und wir trotzdem nicht vor ihnen fliehen können. Wir müssen essen, uns kleiden, wohnen und schlafen. Doch schon dafür gibt es in jeder menschlichen Gesellschaft Regeln und Werte. Der absolute Wert lautet überall: Wer für die Gesellschaft nichts leistet, ist auch nichts wert. Wobei die Gesellschaft selbst entscheidet, was Leistung für sie bedeutet.