Sonntag, 30. April 2023

Der Prozess der Anpassung wird durch die Gesellschaft ermittelt

Heftige Demonstrationen werden durch Veränderungen ausgelöst, die angepassten Menschen Angst bereiten
Jeder einzelne Mensch wird von den Werten einer Gesellschaft eingefangen. Sei er noch so anders in seinem Denken und Handeln. Die Notwendigkeiten des Lebens sind dabei die Nabelschnur, die das Individuum immer und zu jeder Zeit mit der Gesellschaft verbindet. Ganz gleich, wie sehr ein Mensch rebelliert – diese Nabelschnur darf er nicht zerreißen, ohne augenblicklich zu Grunde zu gehen. Selbst Rebellion kann deshalb nur in den Grenzen von Werten ablaufen, die von einer Masse akzeptiert werden und die menschliche Gesellschaft nicht grundsätzlich infrage stellen. Die Menschheit ist nicht zu neuen Formen des Zusammenlebens in der Lage, weil sie in die Notwendigkeit ihres eigenen Lebens verhaftet ist. Jede gesellschaftliche Utopie ist nur eine scheinbar neue Lebensweise.

Menschen synchronisieren Werte

Ein besonderer Wesenszug der Spezies Mensch ist die Anpassung. Vielleicht ist sie sogar ein eigener Wert. Seine Flexibilität, sich allen möglichen Situationen anzupassen, macht den Menschen so erfolgreich. Wir haben nie aufgehört uns anzupassen und werden es wohl auch niemals tun. Aber was genau ist diese Anpassung? Was geschieht, wenn wir unseren stärksten Trumpf ausspielen?

Technisch gesehen synchronisieren wir Werte. Wer sich anpasst, übernimmt Werte. Zugleich gibt er einen Teil seiner eigenen Werte auf. Wird ein Mensch zum Beispiel Soldat oder Polizist, muss er damit einverstanden sein, dass der Wert „Du sollst nicht töten“ nicht mehr uneingeschränkt für ihn gilt. Vielmehr lebt er fort an nach dem Wert: „Du darfst töten, wenn Staat und Gesellschaft es Dir erlauben“. Eine Anpassung an den Beruf und die Möglichkeit, die Werte von Staat und Gesellschaft wenn nötig mit Gewalt durchzusetzen. Wer dazu bereit ist, muss ich sehr mit diesen Werten verbunden fühlen.

Die Anpassung der Menschen ist das Fundament einer Gesellschaft. Es ist eine Symbiose zwischen ihr und den einzelnen Menschen. Für die Unterordnung gibt sie Sicherheit und Möglichkeiten der Entfaltung im Rahmen ihrer Werte. Natürlich nicht darüber hinaus. Wie sollte das auch gehen?

Lohn ist Anerkennung

Interessanterweise funktioniert die Anpassung auch bei den nicht Angepassten. Irgendwann jedenfalls. Sobald sie etwas zu verlieren haben. Wenn sich also ihre nicht Anpassung auszuzahlen beginnt. Dann ist die Anpassung Ein Vorteil für die nicht angepassten. Ein Ausgleich für die Langeweile.

Es sind vorwiegend die nicht Angepassten, die neue Werte aus dem kollektiven Strom picken und der Gesellschaft auf diese Weise eine Chance auf Entwicklung geben. Doch sobald sie ihre Aufgabe in Kunst, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik erledigt haben, werden sie von der Masse geschluckt und gliedern sich in das große Heer der Angepassten ein. Ihr Lohn ist Anerkennung, Geld und ewiger Ruhm. Doch die Gefahr, die von ihnen ausgeht, ist zu groß, als dass sie ein Leben lang Andersdenkende sein dürften. Entweder passen auch sie sich nach einer einiger Zeit an oder werden vernichtet. Die Gesellschaft verteidigt ihre Werte. Nur wenigen ist es erlaubt, sie zeitweise mit Füßen zu treten und so einen Prozess der Erneuerung oder Veränderung auszulösen. Diese wenigen wir sind zumeist keine besonders glücklichen Menschen.

Da die Masse sich anpasst, braucht sie diese unglücklichen Menschen, die für eine Vision oder Utopie kämpfen. Der eine oder andere von ihnen wird die Masse auf seinem Gebiet schließlich überzeugen und mitreißen. Doch selbst Individualisten sind letztlich angepasst im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung. Vielleicht nehmen sie sich ein wenig mehr Freiheit heraus. Die aber auch nur im gesellschaftlichen Umfeld existiert.

Der Staat darf jederzeit in das Betriebssystem eingreifen

Die Frage, ob die Menschen irgendwann in einer Zeit der besonderen gesellschaftlichen Anpassung leben oder sich aus der Notwendigkeit des Lebens überdurchschnittlich anpassen müssen, stellt sich nicht. Denn der Prozess der Anpassung, der Anpassungsgrund sozusagen, wird permanent durch die Gesellschaft ermittelt. Er ergibt sich aus dem Wohlstand einer Gesellschaft, der Bedrohung, die ihm von innen und außen droht und dem daraus abgeleiteten Potenzial an Freiheit, das jedem einzelnen zugestanden werden darf. Die größte Einengung erleben die Menschen im Krieg, denn sie haben rund um die Uhr im Sinne der Masse zu funktionieren. Ihre größte Freiheit genießen sie dagegen in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs und eines weltweiten Bemühens um Verständigung.

Freiheit oder erzwungene Anpassung gehen mit Erfolg und Misserfolg einer Gesellschaft einher. Fliehen Menschen aus einer Gesellschaft, wird sie Mauern errichten. Leisten sie Widerstand, wird sie ihre Bürger überwachen. Die Grenzen der Staatsgewalt verschieben sich je nach politischer und wirtschaftlicher Ausrichtung. Doch Grenzen gibt es in jeder Gesellschaft sowie auch erzwungene Anpassung. Werden Werte, die eine Gesellschaft ausmachen, nicht freiwillig eingehalten, wendet jeder Staat Gewalt an. Dabei greift er zu Mitteln, die seine eigenen Werte widerspiegeln: Einsatz von Provokateuren, Polizeigewalt, Aushebelung von Rechten. All das, um übergeordnete Werte zu schützen, die eine Gesellschaft willkürlich definiert. Manchmal geht es auch einfach nur um das Ansehen des Staates und seiner Repräsentanten auf der Weltbühne.

Damit öffnet sich eine neue Ebene von Werten: Sie sind der Repräsentanz einer Gesellschaft, dem Staat, zugeordnet und überstrahlen alle anderen Werte. Das Individuum muss zurückstehen und sogar die Masse verliert ihre Macht. Der Staat hat sozusagen Administratoren Gewalt und darf jederzeit in das Betriebssystem eingreifen. Das bedeutet, er verändert die Spielregeln.