Montag, 27. Februar 2023

Maschinen sind Taktgeber

 

Mit dem Fließband hat es angefangen, inzwischen sind Menschen in jeder Gesellschaft nur noch Glieder einer langen Arbeitskette
Sie sind die Grundlage für Entscheidungen und Regeln. Auch im Tierreich gibt es Werte. Dort basieren sie auf Instinkt. Nur der Mensch hat gelernt, wird zu abstrahieren und ganze Gedankengebäude auf ihnen zu errichten. Human sein bedeutet, menschenfreundliche Werte zu vertreten. Doch die Sichtweise von Mensch zu Mensch differiert je nach Kultur und Nation. Menschliche Grundwerte regeln das Zusammenleben – das auch an regionalen Gegebenheiten und Umweltbedingungen hängt. Insoweit sind menschliche Werte auch von Herkunft und Natur geprägt.

Persönliche Werte gehen die Gesellschaft nichts an

Zurück zum Gebrauch von Werten. Sie sind so nützlich wie Messer und Gabel. Genauso wie mit dem Besteck gehen Menschen mit ihnen um, wenn sie Verhandlungen führen und Zugeständnisse erreichen wollen. Sie tranchieren die Forderungen ihres Gegenübers mit den passenden Werten. Das setzt eine gewisse Kenntnis über den anderen voraus. Es ist wieder der Blick des anderen, diesmal um zu erkennen und die Erkenntnis zum eigenen Vorteil zu nutzen. 

Dabei ist es hilfreich, keine eigenen oder zumindest nur wenige Werte zu haben. Besonders dürfen Werte nicht den Verhandlungspartner einschließen. Wer die Familie hoch hält, hat trotzdem keine Schwierigkeiten, einen Fremden übers Ohr zu hauen.

Der Mensch legt sich seine Werte zurecht. Es gibt allgemeine und persönliche Werte. Die allgemeinen Werte gelten für eine Gesellschaft und sind für einzelne nur sehr schwer zu unterlaufen. Viele sind in Form von Gesetzen festgeschrieben. Selbstverständlich wird auch gegen sie verstoßen. Doch in diesem Fall muss mit ernsthaften Konsequenzen gerechnet werden. Auf den Werteverstoß folgt die Strafe – jedenfalls, wenn der Verstoß festgestellt und der Schuldige ermittelt werden kann. Persönliche Werte dagegen gehen die Gesellschaft nichts an. Sie sind nicht verhandelbar, sondern können auch zum eigenen Vorteil benutzt werden.

Zahlen werden das menschliche Leben aus

Interessanter ist jedoch die Entwicklung der allgemeinen Werte. Sie durchlaufen immer wieder Phasen von Anerkennung über Protest gegen sie bis zu ihrer Aussetzung und sogar Abschaffung. Wie werden diese Phasen ausgelöst? Ein großer Treiber für Werte sind, neben dem kollektiven Strom, Zahlen. Seit Galileo Galilei die Bedeutung des Messens erkannt hat, ist die Macht der Zahlen stetig angewachsen. Heute überlagern sie die menschliche Gesellschaft wie eine Matrix. Zahlen werten das menschliche Leben aus, bewerten es und entscheiden, ob es sich mit den Werten der Gesellschaft im Einklang befindet. Von künstlicher Intelligenz gesteuerte Systeme machen die Vernetzung zwischen Zahlen und Werten zukünftig noch weitaus effektiver. Gesichtserkennung, Datenspeicherung, Verzahnung von Daten aus allen Lebensbereichen von Schule und Job über Bankverbindungen und Finanzunterlagen bis zur medizinischen Versorgung ermöglichen umfassende Analysen jedes einzelnen Menschen. Wer aus der Masse der arbeitenden, unauffälligen Steuerzahler heraussticht, fällt auf und bekommt eine geringere Punktzahl. Oder Wertungszahl – worin der Begriff Wert natürlich deutlich enthalten ist.

Ob ein Mensch für die Gesellschaft einen Wert hat, wird in Zukunft verstärkt von Wertungszahlen abhängen. Dadurch wird ein großer Wertewandel eintreten. Denn plötzlich findet nicht mehr die Masse Werte aus dem kollektiven Strom, sondern die Beherrscher der Zahlen erhalten Macht über Werte und ihre Wertigkeit.

Wie wird das sein? Zunächst sicherlich die Staaten. Die Volksrepublik China experimentiert gerade mit sogenannten Sozialpunkten, einem System, in dem eine Zahl den Wert einer Person ausdrückt. Sie entscheidet über Kreditvergabe, Reisemöglichkeiten und sogar Heiratschancen. Videoaufzeichnungen und Computer überwachen die Menschen und passen ihre Bewertungszahl nach ihrem jeweiligen Verhalten an. Bei Rot über die Ampel gehen oder Abfall auf die Straße werfen gibt beispielsweise Punktabzug. So soll die Ordnung im Staat aufrecht erhalten und verbessert werden. Nur: Wessen Ordnung?

Werte passen sich den Technologien an

Es ist bereits die Ordnung der Maschinen. Sie werden von Menschen kontrolliert, aber sie zwingen ihnen ihren Rhythmus auf. Seit der Entwicklung der mechanischen Webstühle waren die Maschinen nie Handlanger der Menschen, sondern von Anfang an ihre Taktgeber. Ihr Versprechen ist enormer Gewinn. Doch sie verlangen Unterordnung und Gehorsam.

Dieses Schema hat schon früh in der Geschichte begonnen. Der Historiker Noah Yahari weist in seinem Buch „Eine kleine Geschichte der Menschheit“ darauf hin, dass der Mensch überhaupt nicht den Weizen domestiziert haben könnte, sondern der Weizen den Menschen. Sein Argument: Der Weizen ist eine der erfolgreichsten Kulturpflanze. Er wird von Menschen gehegt und gepflegt - und das seit Jahrtausenden. Sein Versprechen: Die Menschen großzügig zu ernähren und ihnen dadurch zu ermöglichen, sich vermehrt fortzupflanzen.

Deutlich ist die Parallele zur Beziehung zwischen Mensch und Maschine zu erkennen. Die Menschheit legt sich für ein Versprechen krumm. Das hat weitreichende Folgen. Dem Technologiewandel folgt der Wertewandel auf dem Fuß. Denn die neuen Möglichkeiten bedingen neue Verhaltensweisen.

Wie die Sesshaftwerdung des Menschen das Staatswesen nach sich zog, werden auch die neuen Technologien bis hin zur künstlichen Intelligenz die Lebensbedingungen von Grund auf verändern. Nicht nur wird es neue Berufe geben, sondern auch das Verhalten der Menschen wird sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Die Technologien werden die Menschen konditionieren. Unweigerlich wird ein Wertewandel diese Konditionierung begleiten. Viele Werte werden passend gemacht, andere kommen hinzu.

Die Spieler verändern die Balance des Schachs

Wird dabei die große Konstante der Menschheit, der Wettbewerb untereinander, verändert? Vermutlich nicht. Denn es ist den Menschen nicht gegeben, eine errichtete Balance ein für alle Mal zu bewahren. Er muss sie immer wieder aufs Neue herstellen, um möglichst einen Ausgleich zu seinen Gunsten zu schaffen.

Ein Schachspiel ist zu Beginn in perfekter Harmonie. Die weißen und schwarzen Figuren stehen sich auf Abstand in genau gleicher Anordnung entgegen. Es bestünde die Möglichkeit, dass sich die Spieler gegenübersitzen und diese Harmonie gemeinsam bewundern, ohne das geringste an der Stellung zu verändern. Sie würden den Aufbau wie ein Gemälde betrachten und dann friedlich auseinandergehen. Doch das entspricht nicht dem menschlichen Sein, dass nicht nur neugierig ist und Dinge verändern will, sondern auch noch persönlichen Vorteil erstrebt. Was geschieht, fragt sich der Spieler mit den weißen Steinen, wenn ich ein Bauern ziehe? Darauf muss ich reagieren, denkt sich der Spieler mit den schwarzen Steinen. Beide beginnen die Stellung aus der Balance zu bringen und hoffen auf einen Gewinn. Ein Zug bedingt den nächsten. Die Spieler können nicht aufhören. Sie kämpfen um die Vormacht. Beide haben Pläne und die müssen erst ausprobiert werden, bevor die sich auf ein Remis einigen, falls nicht einer von ihnen gewinnt.

Thomas Henry Huxley hat einmal gesagt: „Das Schachbrett ist die Welt, die Figuren sind die Erscheinungen im Universum, die Spielregeln sind, was wir die Naturgesetze nennen. Der Spieler auf der anderen Seite ist uns verborgen.“ Der Mensch aber lebt in der Welt und muss seine notwendige Arbeit verrichten, um für seinen Unterhalt zu sorgen. Die Erscheinungen des Universum und die Naturgesetze geben ihm dabei einen Rahmen, an dem er sich orientieren, den er aber nicht überwinden kann. So kämpft er nicht gegen sie, sondern mit ihnen um sein Überleben. Er macht seine Züge und hofft das Beste.

Mittwoch, 15. Februar 2023

Werte sind Bestandteile im alltäglichen Wahnsinn des menschlichen Lebens

Bäume formen sich in Gemeinschaft zu einem Wald, wie Menschen in Städten zu einer Gesellschaft

Die Anregungen kommen von außen. Menschen haben Angst vor diesem Außen. Sie ertragen es nur von einem sicheren Standpunkt aus. Wer sich auf Neues einlässt, braucht eine Möglichkeit zum Rückzug. Jeder hat einen Fluchtinstinkt und muss wissen, wohin er fliehen kann. Für viele Menschen sind ihre Werte das Gebiet, auf das sie sich zurückziehen, wenn das Außen ihnen Angst bereitet.

Das Leben kann furchteinflößend sein. Es hilft, wenn ein Mensch sich auf sich selbst und andere verlassen darf. Doch wenn nicht wegen der Werte, die sie miteinander teilen, weshalb sollten sich Menschen sonst aufeinander verlassen können? Werte liegen ihnen nahe, anderen zu helfen oder sich für erfahrene Hilfe dankbar zu zeigen. Sie regeln auch den Umgang miteinander, bis hin zum Sprachgebrauch. Werte sind ein Wegweiser für das Verhalten von Menschen, die sich nahe stehen oder aus anderen Gründen zusammenkommen.

Dinge bringen uns mit Menschen zusammen

Wie Wasser allmählich Steine glättet, so beeinflusst das Außen die Menschen. Sie vertreten im Laufe der Zeit andere Werte und passen ihre Werte an. Dabei ist das nicht die Intention dieses Außen. Es ist einfach nur da und umgibt die Menschen wie Wasser im Meer oder die Luft zum Atmen. Doch seine ständige Präsenz hinterlässt Spuren. Es schleift die Menschen ab. Schlimmstenfalls zerbricht es sie.

Was ist dieses Außen? Alles, was die Menschen umgibt: von der Natur über die von Menschen gemachte Dingwelt bis zur Bürokratie, Geschichten und anderen Menschen. Das Außen besteht aus Menschen und Nichtmenschen. Denn auch die Dinge, die wir uns anschaffen oder erschaffen, haben Einfluss auf uns. Wir denken, wir wollen die Dinge und beherrschen sie. Doch in Wirklichkeit ist die Wirkung, die wir auf die Dinge haben und sie auf uns, wechselseitig. Kaufen wir uns etwas, werden wir es nicht nur zu unserer Freude benutzen. Wir müssen auch darauf achten, es pflegen und gegebenenfalls reparieren. Die Dinge fordern unsere Aufmerksamkeit. Dadurch belegen sie unsere Zeit und beeinflussen unseren Tagesablauf. Nicht nur das: Die Dinge bringen uns mit anderen Menschen zusammen, weil wir unter Umständen Expertenwissen und Hilfe benötigen. Eventuell treten wir aufgrund eines Dings einem Verein bei oder engagieren uns für etwas.

Wer sich zum Beispiel ein Instrument kauft, braucht nicht nur einen Musiklehrer zum Üben, sondern sucht sich irgendwann ein Orchester oder Gleichgesinnte für eine Band, um gemeinsam zu musizieren. Auf diese Weise erweitert der Musikant Seine Fähigkeiten und verbindet sich mit anderen Menschen. Das hat Auswirkungen auf seine Werte. War er bisher eher unpünktlich und unzuverlässig, wird er sich in diesen Punkten ändern, wenn er dauerhaft mit anderen musizieren will. Er wird sich den Werten der anderen anpassen, damit das Orchester funktioniert oder die Band ein Erfolg wird. Sollten die anderen sich umgekehrt ihm anpassen, wird es aller Voraussicht nach nicht viele Proben geben, weil kaum alle – und schon gar nicht pünktlich – jemals zusammen üben werden.

Wert und Werte hängenden zusammen

Werte setzen sich also nach Praktikabilität durch. Gruppen einigen sich auf Werte, die sie möglichst wenig einengen, bei gleichzeitig maximalem Konsens. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner. Die Schwierigkeiten sind ganz gut bei Kindern zu beobachten. Sie teilen die Werte einer Gruppe, beispielsweise leise zu sein, solange sie können. Doch wenn sie auf einmal auf andere Ideen kommen und plötzlich toben wollen, werfen Sie alle Werte über Bord und stürmen los. Davon fühlen sich natürlich alle gestört und ermahnen die Kinder. Sie reagieren ärgerlich und vermitteln so den Wert leise zu sein. Aber für den Moment werden sich die Kinder nicht abhalten lassen – und weil der Wert, Kinder gut zu behandeln, sehr hoch im Kurs steht, dürfen sie das auch, ohne mehr als genervte Worte befürchten zu müssen.

Das gilt übrigens auch für den Musiker. Ist er ein Ausnahmetalent, werden ihm die anderen seine Fehler eher nachsehen, als wenn er nur ein durchschnittlich begabter Musiker ist. Je höher also der Wert eines Menschen, desto geringer der Anspruch an seine Werte. Von manchen Menschen wird geradezu erwartet, dass sie sich daneben benehmen.

Wert und Werte hängen eng zusammen. Lassen sich Werte also mit Wert beziffern? Es wird versucht. Unternehmen bekennen sich zum Beispiel zu Werten wie Verlässlichkeit, Nachhaltigkeit, Umweltschutz, faire Arbeitsbedingungen und einiges mehr. Sie hoffen auf ein gutes Image und hohes Ansehen bei Kunden, um ihren Umsatz zu steigern. Eine Zeit lang war es sogar Trend, Philosophen einzustellen, die neue Unternehmenskulturen erarbeiten sollten. Natürlich rechnen die Unternehmen, ob der Aufwand sich lohnt.

Werte werden zu Argumenten

Ist dieser Ansatz verwerflich? Jeder Mensch möchte Werte zu seinem Vorteil nutzen. Deshalb wird moralisch argumentiert. Die Moral ist Hammer und Meißel, die Werte unumstößlich in Stein hauen. Allerdings hat jeder Mensch seine eigenen „Gesteinstafeln“, die er nach Gutdünken auslegt und auf seine mit Menschen anwendet.

Das Wesen, dass Menschen Werten verleihen, ist eine Doppelmoral. Für mich so, für dich anders. Das ist der Punkt im Umgang mit Werten. Oder auch: Ich halte diesen einen Wert ein, du musst das auch. Die Menschen machen untereinander Vorgaben. Einseitige Vorgaben. „Ich will, also musst Du damit klarkommen!“ lautet ihr Credo. Sie geben nur nach, wenn es ihnen nicht besonders wichtig ist und streiten, wenn sie etwas unbedingt wollen.

Werte werden in den Händen der Menschen zu Argumenten, Drohungen, Ansprüchen, moralischen Waffen und letzten Ausflüchten, wenn sie sich nicht anders durchsetzen können. Sie sind mitten drin im alltäglichen Wahnsinn des menschlichen Lebens, nichts, das abseits steht und eine allgemein gültige Wahrheit offenbart. Nein, sie sind voll und ganz menschlicher Natur: von Menschen gemacht und von Menschen gebraucht.

Samstag, 11. Februar 2023

Die verlorenen Seelen

 

Der Ich-Erzähler bei Proust ähnelt in gewisser Weise Don Quichotte, der einer eingebildeten Gesellschaft dient

Leidenschaften und Begierden

Der Mensch ist verzweifelt auf der Suche nach dem Menschen. Wo findet er ihn, wo verliert er ihn wieder? Marcel Proust sucht in der Vergangenheit. Er rekapituliert, was es mit der menschlichen Gesellschaft auf sich hat. Mit dem Blick des kranken, bettlägerigen Autors durchdringt er nach und nach die Oberfläche des Beziehungsgeflechts und stößt in den darunter liegenden Schichten auf den eigentlichen Antrieb des Menschen: seine Leidenschaften und Begierden. Es ist das Unerhörte, in dem der Mensch den Menschen findet und wieder verliert.

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kommt so monumental, so verwirrend wie die Gesellschaft selbst daher. Was sollen die überlangen Sätze und die verschachtelte Struktur? Anfangs bleibt das Werk eher unverständlich. Doch je weiter der Leser sich vorwagt, ohne Geduld und Mut zu verlieren, desto mehr begreift er den Zusammenhang zwischen Sprache und Erzählung, zwischen den Bildern der Handlung und eigenen Gedanken, die er sich über Orte und Figuren macht. Er taucht ein in die Welt, fremd und fern, doch seltsam vertraut. Die Welt der menschlichen Gesellschaft.

Die Vergangenheit beschreibt die Gegenwart

Zwar ist bei Proust die Welt in den französischen Adelskreisen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt. Doch das Buhlen um Anerkennung, Freundschaft und Förderung, die Angst vor Ausgrenzung, Ablehnung und üblem Gerede ist auch heute allgegenwärtig. Selbst wenn sein Roman inzwischen mehr als einhundert Jahre alt ist, beschreibt Proust de facto jede menschliche Gesellschaft. Denn das Spielen von Rollen, die Verleugnung des wirklichen Lebens, das Herumscharwenzeln, um sich gegenseitig doch zu erkennen und das Fallen von Masken in manchen Situationen, sind auch den Menschen im Hier und Jetzt bestens vertraut.

Wenn der Ich-Erzähler sich danach sehnt, in die adlige Gesellschaft seiner Zeit aufgenommen zu werden, wird der Leser gewahr, wie sehr er selbst darum kämpft, dazuzugehören. Es ist fast ein persönlicher Erfolg, als der Autor es endlich schafft, eine Einladung in einen bekannten Salon zu erhalten. Staunend tritt er ein und der Leser staunt mit ihm.

Es eröffnet sich eine geheimnisvolle Welt, die bisher hinter undurchdringlichen Türen fest verschlossen war. Der Erzähler wird in diese Welt eingeführt und verweilt von nun an in ihr. Es ist ihm ein großes Vergnügen und er ist stolz von den Menschen, die er bewundert, anerkannt zu sein. Eine Weile genießt er den Umgang und der Leser mit ihm.

Bald setzt jedoch Ernüchterung ein. Was sind das für Gespräche? Worum geht es eigentlich? Die Herzogin von Guermantes, die der Erzähler angehimmelt hat und deren Erscheinen auf der Straße er lange nicht hatte abwarten können, entpuppt sich als charmante, aber auch ein wenig langweilige Gastgeberin. Die Empfänge in ihrem Salon sind Rituale, die feste und erstarrte Regeln befolgen. Gespräche sind eine Aneinanderreihung leerer Floskeln. Besonders deutlich wird dies später im Roman bei der Diskussion über die Dreifuß-Affäre. Ausgetauscht werden Allgemeinplätze. Jeder vertritt eine Meinung, auf der er beharrt. Es gibt keinen großen Unterschied zu einer Stammtischdiskussion über die Politik der Gegenwart.

Die Leiden der Eifersucht

Proust entwickelt sich immer mehr vom Teilnehmer zum Beobachter der Gesellschaft. Er hat sein Ziel erreicht, bald werden seine Besuche in den Salons zur verpflichtenden Routine. Selbst am Strand in Combray holt ihn die Last seiner Bekanntschaften ein. Wobei er mit Baron de Charlus auf eine interessante Persönlichkeit trifft, die im weiteren Verlauf des Romans eine herausragende Stellung einnehmen wird. Denn dieser Charlus ist nicht das, was er vorgibt zu sein. 

Doch zunächst lernt der Ich-Erzähler die Leiden der Eifersucht kennen. Er versuchte seine Geliebte Albertine einzusperren, damit sie immer bei ihm ist. Geht sie aber aus, ist er unruhig und vergeht vor Phantasien, mit welchen anderen Männern sie sich vergnügt. Sehen sie sich wieder, macht er ihr bittere Vorwürfe. Sie hält es nicht lange mit ihm aus, während für Proust die Eifersucht ein tiefes Gefühl ist.

Wo finden wir einen Menschen, wo verlieren wir ihn wieder? Für Proust sind es die Leidenschaften, die Menschen zusammenbringen oder trennen. Wie bei Swann, der aus Eifersucht unstandesgemäß geheiratet hat und dafür von der Gesellschaft missachtet wird.

Baron de Charlus geht einen anderen Weg. Er spielt die Rolle des männlichsten Mannes. Bis er in einer Schlüsselszene des Romans einer zufälligen Bekanntschaft sein wahres Ich enthüllt. Die beiden schwulen Männer erkennen sich und verschwinden in einer Wohnung im Hinterhof.

Ein langer Weg für Autor und Leser

Es ist der Schein, den Proust nach und nach aufdeckt. Selbst langjährige Freundschaft ist in der Gesellschaft nichts als Schein. Denn als der todkranke Swann einen letzten Besuch bei seiner Freundin, der Herzogin von Guermantes, macht, wird er aus Zeitgründen hinauskomplimentiert. Allerdings hat die Herzogin genug Zeit, um die Schuhe zu wechseln, damit sie zu ihrem Kleid passen. Diese roten Schuhe der Herzogin von Guermantes sind das Symbol schlechthin für die Oberflächlichkeit in den Beziehungen der Menschen. 

Tatsächlich ist es die Zeit, die alternde Gesellschaft, die sich selbst entblößt. Als der Ich-Erzähler nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt zurückkehrt, ist er entsetzt über das greise Aussehen seiner Bekannten. Bis er zufällig in einen Spiegel blickt und sich selbst im Alter erkennt.

Vielleicht lehrt die Zeit den Menschen, dass er nie auf der Suche nach anderen ist, sondern immer nur nach sich. Die Gesellschaft mag zerfallen, wie bei Proust durch den Ersten Weltkrieg. Der Autor hat aus diesem Grund sein Werk um einen weiteren Band fortgeführt. Nur, um die von ihm beschriebene Gesellschaft endgültig zu zertrümmern. Der alternde Baron de Charlus verliert im Sado-Maso Club den letzten Rest seiner Würde. Die Unzulänglichkeiten der Gesellschaft treten in aller Brutalität zu Tage.

Es ist ein langer Weg für Proust und seine Leser vom neugierig tastenden Eintritt in die Gesellschaft über das genaue Kennenlernen und die spürbare Langeweile bis zu ihrem Untergang durch Alter, Krieg und Tod.

Der Mensch jagt auf der Suche nach Menschen an ihm vorbei. Denn es sind nur Vorstellungen, um derentwillen er sein Leben führt. Und diese Vorstellungen erweisen sich allzu oft als Chimären. Während am Wegesrand die eine oder andere Blume erblüht, an der die Menschen meist achtlos vorübergehen.

Erst im Rückblick erkennen sie, was sie hatten und was sie übersehen haben. Es sind die eigenen Unzulänglichkeiten, an denen sie scheitern und die sie in die Gesellschaft tragen, die schließlich nur das Produkt all der Menschen ist, die sie ausmacht. Allein durch die menschlichen Schwächen ist die Suche nach Menschen vergebens. Denn sie suchen nach vollkommenen Menschen und finden doch immer nur Teile, während anderes sie abstößt oder ihnen Schwierigkeiten bereitet.

Der Erste Weltkrieg ist der alles entscheidende Wendepunkt

Exemplarisch macht Proust das in der Person des Baron des Charlus deutlich. Er tritt als arroganter alles beherrschender Mann auf und ist hinter der Maske seiner Rolle doch mehr als unglücklich. Folgerichtig reißt ihm der Erzähler am Ende des Romans die Maske vom Gesicht und es bleibt nur noch ein alter, viel zu dick geschminkter Mann, der sein Leben damit verschwendet hat, sich zu verstecken und aus seinem Versteck heraus nach Menschen zu suchen, denen er sich zu erkennen geben durfte. Der Gesellschaft untergeordnet, die er selbst mitbegründet hat.

Dadurch wird deutlich, dass nicht der Mensch im Mittelpunkt steht sondern die Intuition, die Gesellschaft als solche. Oder mit anderen Worten: die Masse. Der einzelne Mensch genießt nur manchmal ihre Gunst. Für einen kurzen Moment wird er zu ihrer Inkarnation, zu der Gestalt, die von der Masse gewollt ist. Ein wenig später sind die fünf Minuten seines Ruhms auch schon wieder vorbei.

Bei Proust ist der alles entscheidende Wendepunkt der Erste Weltkrieg. Er verändert alles. Die Gesellschaft huldigt neuen Günstlingen. Der Adel geht als führende Schicht unter und verharrt in starren Ritualen und Erinnerungen. So enden nicht nur individuelle Leben. Eine ganze Epoche findet einen jähen Abschluss im Untergang des alten Europa.

Nur eines ändert sich nicht: Der Mensch ist noch immer verzweifelt auf der Suche nach Menschen.

Wo findet er ihn in der heutigen Gesellschaft? Wo verliert er ihn wieder? Die Fragestellungen bleiben dieselbe. Insoweit ist der Roman von Marcel Proust auch in unserer Zeit sehr aktuell. Er löst die Fragen natürlich nicht. Aber er gibt Hinweise. Und das auf eine sehr tiefgründige, lesenswerte Art. Hat der Leser sich erst an Prousts Stil gewöhnt, sind die rund viertausend Seiten „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ein wahrer Genuss und keine – verlorene Zeit.

Dienstag, 7. Februar 2023

Werte geben Halt und Struktur

 

Eine Gesellschaft ähnelt einer Stadt mit schiefen Häusern, haltlos ohne Werte, aber auch verbogen von Werten

Werte verlängern Krieg

In beiden Weltkriegen galten hohe Werte: Treue, Loyalität, Ehre, Vaterlandsliebe, Selbstaufopferung, Kameradschaft, Gehorsam und so weiter. Es waren Werte, die zu Kriegen gehören und sie befördern. Sie waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der Gesellschaft implementiert. Davon zeugt zum Beispiel der Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann. Der Staat war hierarchisch organisiert und auch die Zivilgesellschaft hatte eine militärische Attitüde. Die Werte wuchsen Jahrzehnte in Frieden heran und wurden nicht für einen Krieg geschaffen. Sie führten in den Krieg, weil sie langfristig dafür geeignet waren.

Auch wenn der Kriegsbeginn letztlich von Regierungen vollzogen wurde, jubelte doch auch das Volk. Die Grausamkeiten entbehrten zu Beginn jeder Vorstellung und als sie offenkundig zu Tage traten, griffen die oben genannten Werte, um den Krieg um jeden Preis fortzuführen.

Werte sind stärker als jede Vernunft

Es ist eine komische Sache mit den Werten. Fast scheint es, als seien sie der Geist, der Gutes will und Böses schafft. Sie geben den Menschen Halt und Struktur, aber sie führen sie auch in den Abgrund. Das war noch mehr im Zweiten Weltkrieg der Fall, denn er wurde als Vernichtungskrieg angelegt. Nicht nur Soldaten gingen in den Tod, sondern auch Millionen von Zivilisten, die ermordet wurden. Und auch hierfür gab es Werte, die angenommen und befolgt wurden. Einer der obersten Werte hieß Pflichterfüllung. In seinem Namen machte die Masse den Wahnsinn mit. Jeder einzelne hat in seinem Umfeld dazu beigetragen. Dieser Wert der Pflichterfüllung war so stark, dass noch Jahrzehnte nach dem Krieg Deserteure verunglimpft wurden, obwohl sie im Kleinen dazu beigetragen hatten, den Krieg ein wenig früher zu beenden. Dennoch galten sie lange als Vaterlandsverräter.

Manchmal sind Werte stärker als jede Vernunft. Das ist schwer zu ertragen, weil Werte grundsätzlich als positiv angesehen werden. Doch das ist nur die menschliche Sichtweise. Tatsächlich sind Werte, wie schon erwähnt, neutral. Sie sind Container für menschliche Vorstellungen von wünschenswertem Verhalten. Wenn die Menschheit in ihre Ansicht schwankt, so schwanken auch die Werte.

Eventuell sind die Werte eine Maßzahl für den Zustand der menschlichen Gesellschaft in einem bestimmten Augenblick ihrer Geschichte. An ihr lassen sich Denken und Handeln der Menschheit ablesen. Allerdings ist dabei Vorsicht geboten, denn was heute als schrecklich gilt, war zu seiner Zeit vielleicht eine neue Errungenschaft.

Container menschlichen Verhaltens

Werte kommen aus der Zeit und gehen in die Zeit. Selbst die beständigsten verändern zumindest ihren Habitus, selbst wenn sie vom Grundsatz bleiben. Werte sind opportunistisch und launisch. War es lange üblich, dass Männer Krawatte tragen, ist es im Moment eher die Ausnahme. Doch genauso gut kann sich dies in absehbarer Zeit auch wieder ändern. Dann wird plötzlich schief angesehen, wer keine Krawatte trägt.

Es ist schwer, den Werten zu folgen. Wer weiß schon in jedem Augenblick, was richtig oder falsch ist. Ob ein Werte gilt und falls es gilt, wie schlimm ein Verstoß gegen ihn ist. Manche Werte werden nie für einen Moment hochgehalten, um dann wieder fallengelassen zu werden. Andere dulden keinen Widerspruch. Meist ist das Vergehen nicht der Verstoß gegen einen Wert, sondern sich dabei erwischen zu lassen. Überhaupt sind diejenigen, die Werte besonders preisen, meist auch diejenigen, die sie in unbeobachteten Momenten mit Füßen treten. Aber unter Umständen macht erst die Möglichkeit des Verstoßes Werte wirklich stark.

Wenn Werte Container menschlichen Verhaltens sind, stellt sich die Frage, auf welche Weise sie bepackt, gestapelt, transportiert, umgestellt und schließlich ausgepackt werden. Wie gelangen Werte aus dem kollektiven Strom in die Container, in Umlauf und schließlich in Gebrauch? Welche Kräfte wirken, wie tragen Menschen dazu bei?

Jeder Mensch besitzt einen Container voller Werte. Er enthält eine Mischung aus allgemeinen und veränderlichen Werten, wobei es selbstverständlich Überschneidungen gibt. Alle diese Werte stammen aus dem kollektiven Strom. Der Unterschied zwischen Ihnen ist die Verinnerlichung durch die einzelnen Menschen. Es ist individuell, wer welchen Wert besonders lebt, andere akzeptiert und viele mehr oder weniger außer Acht lässt.

Erfahrung ist ein Treiber für den Wertewandel

Da der Mensch zum Träger und Übermittler seiner Werte wird, beeinflussen sich die Wertcontainer über die Menschen gegenseitig. Freunde und Familie teilen oft Werte und sind sich deshalb besonders nah. Andererseits entstehen aus unterschiedlichen Werten Zwistigkeiten und Streit.

Zurück zu den Containern. Sie sind nicht ein für alle Mal gepackt. Es findet ein ständiger Austausch zwischen ihnen statt. Das führt manchmal zum Ausspruch: „Ich erkenne dich gar nicht wieder!“, wenn Menschen sich verändert haben. Veränderung hat sehr viel mit einem persönlichen Wertewandel zu tun.

Einer der stärksten Treiber für den Wertewandel ist Erfahrung. Je mehr Einflüssen ein Mensch ausgesetzt ist, desto mehr unterschiedliche Werte lernt er kennen. Manchmal passt er seine Werte darauf hin an, ein anderes Mal lässt er sich von neuen Werten überzeugen. Vielleicht ernährt er sich nur noch vegetarisch oder engagiert sich aktiv in einer Partei. Ganz gleich was es ist, im Laufe des Lebens ändern und ergänzen sich die Werte eines Menschen immer wieder. Das führt zu neuen Freundschaften, während andere enden. Übrigens wird als Langweiler bezeichnet, wer ein gleichförmiges Leben führt. Dieser Mensch hält an denselben Werten fest und verändert unumstößlich nichts.

Manche Container werden also einmal gepackt und sind dann auf immer geordnet. Andere quellen förmlich über von einer bunten und oftmals neuen Mischung von Werten. Es ist, als hätte einer seinen Container fest verschlossen und den Schlüssel weggeworfen, während einige seiner Mitmenschen gar nicht erwarten können, immer wieder umzupacken.