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Sonntag, 25. Februar 2024

Die drei Grundwerte der Menschheit

Das Bild symbolisiert auf drei Ebenen die drei Grundwerte der Menscheit.
Als erstes preschte das linke Spektrum voran. Aus der Umweltbewegung entstand eine Partei, die der Forderung der 68er nach dem Marsch durch die Instanzen Leben einhauchte. Sie machte sich auf und eroberte bald politische Macht – zunächst in den Bundesländern, später im gesamten Staat. Die etablierten Parteien wehrten sich vergebens. Eine neue Zeit brach an, die – wie es zunächst aussah – auch neue Werte schuf. Abgeordnete stellten Blumen auf ihre Pulte und strickten während der Parlamentssitzungen. Sie trugen keine Anzüge und sahen teilweise recht wild aus. Anders eben, mit alternativen Vorstellung von einer Gesellschaft. Ein paar Jahre lang schien es, als würde Deutschland sich erneuern. Die linksalternative Partei eroberte mehr und mehr Macht. Nach Außen übernahmen sie scheinbar Verantwortung, doch nach Innen veränderte der Machtzuwachs sie nach und nach. Die Linksalternativen begannen sich anzupassen, um ihre Macht zu sichern und auszuweiten. Sie rückten unverkennbar in die politische Mitte. Ihr neues Ziel war die bürgerliche Gesellschaft. Sie waren angetreten, die Welt zu verändern und gaben letztendlich ihre Zustimmung, Deutschland wieder kriegstüchtig zu machen. Eine interessante Entwicklung, die zu der spannenden Frage führt: Was ist Macht? 

Nur drei Grundwerte

Der Gedanke liegt nahe, dass Macht ein eigener Wert sein könnte. Doch ist sie Teil der rechtlichen und ethischen Grundlage des Zusammenlebens? Eher lässt sich sagen: Macht erschafft Recht und Regeln, dadurch formt sie unter anderem ethische Grundlagen. Sie ist ein vielschichtiges Konzept etwas zu tun und zu beeinflussen, ein eigener Wert ist sie nicht. Vielmehr dient sie dazu, Werte zu formen und zu erhalten. Denn Werte sind die Konstanten einer Gesellschaft und verbreiten sich seit tausenden von Jahren von Generation zu Generation in der menschlichen Geschichte, während Macht stets in geringen Abständen auf ein Neues vergeben wird. Ähnlich wie Bürokratie das eigentliche Zentrum der Macht im Staat darstellt, errichten Werte das fundamentale Gerüst des Zusammenlebens. Ohne sie könnten Menschen nicht dauerhaft kooperieren und sich weiterentwickeln. Dazu bedarf es insgesamt nur dreier Grundwerte:

1. Der Mensch muss sein Überleben sichern

2. Der Mensch muss das Überleben seiner Gruppe sichern

3. Innerhalb der Gruppe muss der Mensch seinen genetischen Einfluss sichern

Alle anderen Werte leiten sich von diesen drei Grundwerten ab.

Jonglieren mit der Masse an Normen

Wer sich an die Regeln der Robotik von Isaak Asimov erinnert fühlt, liegt damit nicht verkehrt. Die Prinzipien des Zusammenlebens sind, ähnlich naturwissenschaftlicher Gesetze, in ihrer Grundstruktur einfach und elegant. Kompliziert wird die menschliche Gesellschaft erst durch Wachstum und die Welt der Dinge, die sich nach und nach aufbaut, ähnlich der Probleme, die sich in der Mathematik durch das Rechnen mit Unendlichkeiten ergeben. Es gelten plötzlich andere Voraussetzungen. 

Je mehr Menschen zu einer Gruppe gehören, desto weiter müssen sich Werte verzweigen, damit die Grundwerte überhaupt noch erfüllt werden können. Ein klassisches Beispiel für die Differenzierung von Werten sind die zehn Gebote. Aber auch die Gesetzestafeln des Hammurabi zeigen, wie kleinteilig Werte schon in frühen Zivilisationen werden, sobald größere Gruppen und ganze Gesellschaften entstehen. Sogar eine Strafe für das Pantschen von Bier wurde im Kodex Hammurabi geregelt. Heutige Gesetze enthalten tausende von Paragraphen. Ungeschriebene Wertvorstellungen und Kodizes kommen noch hinzu. Interessanterweise jonglieren die meisten Menschen im Alltag mit der Masse an Normen recht geschickt. 

In den Grundwerten sind die Kämpfe der Menschheit angelegt

Von Klein auf sind sie damit konfrontiert und erlernen Verhaltensmuster über Eltern und Umwelt. Auf Anpassung folgt Lob, auf Abweichung Strafe. So verinnerlichen die Menschen Werte, denen sie sich unterwerfen – oder freundlicher formuliert: Von denen sie sich in ihrem Leben leiten lassen. Dabei erleben sie die Werte als unveränderlich und arrangieren sich mit ihnen. Später erstaunt es sie, wenn sie auf andere Lebensweisen stoßen. Oft führt das Aufeinandertreffen zu Konflikten, vornehmlich zwischen verschiedenen Generationen und Kulturen. Dabei sind die Grundwerte für alle Menschen vollkommen identisch. Doch ihre Ausprägungen unterscheiden sich mitunter massiv. Darin besteht der Konflikt zwischen Menschen anderen Glaubens, anderer Nationalität und anderer Gesinnung: Werte werden unterschiedlich gedeutet, gelebt und ausgelegt. Dabei verweisen sie auf den Kampf des Individuums und seiner Gruppe um Ressourcen. Denn Überleben und genetischer Einfluss lässt sich nur mit ausreichend Energie sichern. So sind in den Grundwerten bereits die Kämpfe der Menschheit angelegt – und auch der Geltungsbereich der meisten Werte. Sie werden eben nur auf das Zusammenleben in der Gruppe angewendet. Für das Zusammentreffen mit anderen Gruppen gelten erweiterte Werte, beispielsweise das Gastrecht. Dabei gilt: Je besser es einer Gruppe geht, desto geneigter ist sie, Fremde aufzunehmen und zu bewirten. Werte sind ein Phänomen des Wohlstandes und bröckeln beim kleinsten Verfall. Am ehesten spüren das Menschen außerhalb einer Gruppe. Letztlich geht es alleine um die Verteilung von Ressourcen, die auch durch den Rückgriff auf Werte geregelt wird. Denn entscheidend ist einzig das Überleben des Einzelner, der Gruppe und der genetischen Informationen.

Freitag, 29. Dezember 2023

Tolerenz bekommt Regeln

Toleranz ist zum "Goldenen Kalb" der Gesellschaft geworden, aber nur als vorgegebenes Ritual, was wiederum zur Intoleranz führt.
Werte erfüllen heutzutage auch einen Zweck als Ablenkung. Sie beschäftigen die Menschen, die darüber debattieren und streiten. Aber diese Auseinandersetzungen sind Scheindiskussionen, die den Kern der Gesellschaft kaum berühren. Oft geht es dabei um das Verhalten sogenannter Prominenter, deren öffentliches Leben genau beobachtet und bewertet wird. Sie sind Stellvertreter, Vorbilder, abschreckende Beispiele, Marionetten einer Scheinwelt, die den Menschen tagtäglich eine Seifenoper vorspielt, um sie zu beschäftigen und von den wahren Fragen ihres Lebens abzulenken. Von diesen Figuren, die ihre Rolle spielen, werden Werte vorgelebt, hochgehalten, mit Füßen getreten, ignoriert, in Frage gestellt, neu ausgerichtet und auch vorgegeben. Je mehr sich eine Gesellschaft im Niedergang befindet, je weiter sie sich von den Idealen einer demokratischen Ordnung entfernt, desto prominenter stehen Nebensächlichkeiten wie sogenannte Stars im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Sie erfüllen den Zweck, den die Römer vor mehr als zweitausend Jahren „Brot und Spiele“ nannten und unterhalten die Bevölkerung mit ihren Eskapaden, um sie vom eigentlichen Geschehen fernzuhalten.

Zu Beginn stellte die Genderbewegung die Ordnung der Dinge in Frage

Zugleich werden Werte umgruppiert und ihre Bedeutung verschiebt sich im Spektrum ihrer Auslegungsmöglichkeiten. Die sogenannten Prominenten dienen dabei als Testimonials, um die neue Auslegung von Werte vorzuleben und zu empfehlen. Dabei überschreiten sie regelmäßig Grenzen der Peinlichkeit sowie der gesellschaftlichen Akzeptanz, die dadurch nach und nach ausgeweitet werden. Zum Beispiel Toleranz: Vor noch nicht allzu langer Zeit verstanden die Menschen schlicht darunter, jemanden einfach zu lassen, wie er ist. Heute geht es vielmehr darum, gesellschaftlich anerkannt tolerant zu sein. Die Toleranz hat Regeln bekommen, die vorgeben, wer Toleranz in Anspruch nehmen darf. Entsprechend gibt es unter anderem religiöse, queere, rassische, politische, kulturelle Toleranz. Sie etabliert Rechte von Minderheiten. Fühlt sich beispielsweise ein Mädchen eher als Junge und nutzt beim Sport die Jungenumkleide, sind die Proteste der verunsicherten Jungen vergebens. Es ist den Menschen nicht mehr erlaubt, untereinander tolerant zu sein, sondern es gilt verordnete Toleranz. So verstand die österreichische Philosophin Gudrun Perko den Ausdruck queer noch 2005 als eine politische und gesellschaftliche Bewegung „im Sinne eines offenen Projekts, das die angeblich natürliche Ordnung der Dinge in Frage stellt“. Ausdrücklich sowohl in den Bereichen der Sexualität als auch in Debatten wie Multikulturalismus, Interkulturalität, postkolonialer Kritik, Menschenrechte und Demokratie. Daraus geworden ist die verordnete Toleranz gegenüber sexueller Orientierung. Ein Wert, der derzeit besonders hochgehalten wird. Diese „natürliche Ordnung“ darf in Frage gestellt werden. Darüber hinaus wurde die umfassendere Bedeutung von „queer“ durch die übermäßige Betonung nur einer Auslegung „entschärft“. 

Was wäre, wenn...?

Werte werden gelenkt. So wie in den 1950er Jahren der Hass auf den Kommunismus in den Vereinigten Staaten und die Wut auf die weltweiten Studentenproteste in den 1960er und 1970er Jahren.  Stärkste Triebfeder für Menschen ist dabei ihre Angst vor Veränderung der eigenen Lebenssituation. Was wäre gewesen, wenn der Kommunismus tatsächlich Amerika erobert hätte oder die linksgerichteten Vorstellungen der jungen Generation in Europa Wirklichkeit geworden wären? Vor diesem „Was wäre, wenn…?“ fürchten sich die meisten Menschen grenzenlos.

Samstag, 9. Dezember 2023

Werte werden zur Schikane

Aus dem Mobiltelefon schreibt eine Stimme Befehle in die Welt, die Gleichberechtigung vorgeben und Ungleichberechtigung schaffen.
Verunstaltung von Sprache löst kein einziges Problem

Allerdings verhält es sich mit Werten wie mit der Luft zum Atmen – sie sind ständig um uns und auch notwendig. Dennoch begehren Menschen unaufhörlich gegen sie auf. Vielleicht aber gar nicht gegen die Werte selbst, sondern eher gegen ihre Auslegung und ihren Missbrauch durch andere Menschen. Dazu gehören auch die ständige Etablierung neuer Werte und deren fortwährende Verbreitung über Medien. Gendersprache, Nachhaltigkeit, Gleichberechtigung – Werte werden in der modernen Gesellschaft zur Schikane, weil ihr Gebrauch erzwungen und auch all denen verordnet wird, die sie nicht teilen. Wenn in Rundfunk und Fernsehen von „Forschenden“ die Rede ist und gewollt ein Wort wie „Moderator*Innen“ extra betont ausgesprochen werden muss, geht manch einer angesichts des Missbrauchs der Sprache an die Decke. Zurecht. Denn die Verunstaltung der Sprache löst kein Problem. Im Gegenteil: Werte, die besonders betont werden müssen, kaschieren nur ihre Missachtung unter der Oberfläche einer unsinnigen Auseinandersetzung. Wem nützt es, irgendwo ein großes „I“ einzufügen, wenn sich grundlegendes Denken nicht verändert? Dann ist es im wahrsten Sinne des Wortes nur ein Lippenbekenntnis. Schon die Sperrigkeit der Sprache offenbart die Unsinnigkeit des Konstrukts als Bekenntnis zum Wert der Gleichberechtigung. Gäbe es wahre Gleichberechtigung in der Gesellschaft, wäre sie der Menschheit überhaupt möglich, würde sie sich gerade in einer schönen und harmonischen Sprache ausdrücken. 

Werte werden benutzt und dadurch abgenutzt

Leider zeichnet Gesellschaften über Jahrhunderte hinweg Ungerechtigkeit aus. Spuren davon finden sich in allen Sprachen. Sie enthalten mehr Arten zu fluchen, als Liebe auszudrücken und beschreiben den Krieg genauer als den Frieden. Obgleich es wunderbare Texte über Utopien und Romantik gibt, dominieren umgangssprachlich doch eher derbe Ausdrucksweisen. Was sagt das über uns Menschen? Werte sind, genau wie Sprache, Gebrauchsgegenstände. Sie regeln das tägliche Miteinander wie Verkehrsschilder. Anders als Verkehrsschilder greifen sie allerdings sehr tief in das menschliche Leben ein. Auch Familien verbinden Werte in ihrem Zusammensein. Durch ihre enge Verzahnung mit sozialen Gruppen wandeln sich Werte in gesellschaftlichen Interessenskonflikten zu Argumenten. Sie werden benutzt und dadurch abgenutzt. Manchen wird künstlich durch tausendfache Wiederholungen in Medien, Reden und Bemerkungen eine geradezu mystische Bedeutung gegeben. Andersdenkende werden verbal angegriffen und in gesellschaftliche Ecken gedrängt, um ihr Ansehen zu vermindern. Werte werden als unausweichliche Argumente in Debatten vorgeschoben. Zu manchen Themen herrscht inzwischen ein regelrechtes Denkverbot, wenn diese Werte nicht geteilt werden. 

Verbale Kniefälle vor einer abstrakten Gleichberechtigung

Die Menschen stellen eine Fragen zu wenig: „Warum?“ Wer sie stellt, wir heute oftmals als Verräter oder mit ähnlich abwertenden Worten gebrandmarkt. „Warum“ ist nicht mehr opportun, hinterfragen nicht erwünscht. Gleichförmigkeit ist angesagt. Offenheit wird abgestraft. Wie stimmt das mit dem Wert der Gleichberechtigung überein? Gar nicht. Denn Gleichberechtigung ist kein Freiheitswert mehr, sondern ein missbrauchter Wert, der die Menschen zwingen soll, in eine gewollte Richtung zu denken und diese Richtung nicht in Frage zu stellen. Erwartet werden öffentlich verbale Kniefälle vor der Gleichberechtigung. Das Wort dient einer schönen Verpackung. Mehr nicht. Gleichberechtigung als solche wird nicht angestrebt.

Freitag, 16. Juni 2023

Werte und Macht

Wie diese zwei Fische, schwimmen Masse und Macht nebeneinander her
Das vertrackte an die Freiheit ist das Empfinden der Menschen ihr gegenüber. Wer sich seiner Freiheit beraubt sieht, reagiert meist sehr massiv auf diesen Umstand. So ziehen sich zahllose Sklavenaufstände durch die Geschichte, bei denen Menschen ihr Leben eingesetzt haben, um sich und andere zu befreien. Doch ist die Freiheit errungen, wissen sie oft nichts damit anzufangen. Ihnen genügt der Umstand, dass sie nicht mehr zur Arbeit gezwungen werden, sondern freiwillig arbeiten. Das System, für das sie arbeiten und das aus ihrer gering entlohnten Arbeit noch immer gehörigen Profit schlägt, hinterfragen sie nicht. Es ist das bescheidene Glück von selbstverdienter Wohnung, Kleidung und Nahrung, das Menschen das Gefühl von Freiheit gibt. Die Erfüllung der notwendigen Lebensgrundlagen und ein klein wenig Wohlstand darüber hinaus macht sie zufrieden.

Der menschliche Geist muss Dinge erschaffen

Der Konsumismus nutzt das aus. Er produziert unendliche Warenwelten, die den Menschen vorgaukeln, sich in einem riesigen Kosmos voller Möglichkeiten zu bewegen. Weshalb spricht dieses Konstrukt die Menschen so stark an?

Der menschliche Geist kann sich nur in Taten offenbaren. Er muss, um sein Denken zu zeigen, Dinge erschaffen. In diesen Dingen drückt er sich aus. Umgekehrt offenbaren diese Dinge aber auch das Wesen der Menschen. Existiert der Konsumismus also, weil die Menschen ihn ihrem Sein entsprechend errichten, um all die Dinge zu präsentieren, die ihr Geist ersinnt oder formt er den Geist der Menschen nach seinen Vorgaben? Es gibt eine dritte Vermutung: Der Konsumismus dient dazu, die Freiheit der Menschen zu lenken und zu kontrollieren. Wie eine unsichtbare Mauer umspannt er jede Gesellschaft und bringt die Menschen dazu, nach seinen Regeln zu leben.

Werte werden gemacht

Und Werte? Sie flankieren und rechtfertigen jeden Weg, den Menschen einschlagen. Als Afrikaner millionenfach versklavt wurden, beteiligte sich sogar die katholische Kirche daran. Mit der Begründung, arme sündige Seelen zum Christentum und damit zum ewigen Leben zu bekehren. Aus Sicht der Kirche ein durchaus positiver Wert. An anderer Stelle wurden Rassetheorien ersonnen. Unhaltbare Aussagen über Menschen anderer Kulturen wurden pseudowissenschaftlich untermauert und rechtfertigten die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft sowie ihre Zuschaustellung in sogenannten Menschenzoos zum Vergnügen europäischer Besucher.

Werte werden gemacht. Sie sind die Leitlinien für die Masse der Gesellschaft. Ohne sie würde Zusammenleben nicht funktionieren. Beispielsweise das Verbot von Diebstahl. Könnte sich jeder bedienen, wie er wollte, würde der Handel zusammenbrechen. Deshalb wird ein entsprechendes Gesetz erlassen, seine Einhaltung überwacht und durchgesetzt. Wer dagegen verstößt, ist zu bestrafen. Eltern bringen ihren Kindern bei, nicht zu klauen. Ehrlichkeit gilt als hoher Wert. Viele Menschen gehen in einen Laden zurück, wenn sie aus Versehen ein Produkt nicht bezahlt oder zu viel Geld herausbekommen haben, um die Abrechnung zu korrigieren.

Ehrlichkeit ist ein Wert für den Alltagsgebrauch

Königin Elisabeth I. befahl ihrem Kapitän und Freibeuter Francis Drake dagegen, spanische Schiffe anzugreifen und zu kapern. Mit anderen Worten: Er sollte in ihrem Auftrag rauben und morden. Was er sehr erfolgreich tat und die Schatztruhen seiner Souveränin damit füllte. Als Lohn wurde Drake, der auch selbst ein Vermögen anhäufen konnte, in den Adelsstand erhoben. 

Die Kongokonferenz vom 15. November 1894 bis zum 26. Februar 1885 in Berlin teilte den afrikanischen Kontinent unter den damals führenden europäischen Mächten faktisch auf, indem Handelswege definiert und Kolonialrecht geschaffen wurde. Wohl gemerkt, von Menschen bereits besiedelte Regionen. Was war das anderes als Diebstahl? Diebstahl, der den afrikanischen Kontinent durch die damaligen willkürlichen Grenzziehungen bis heute beeinflusst.

Die amerikanischen Siedler raubten den Ureinwohnern ihr Land. Ölkonzerne übervorteilten Förderländer wie Persien. Die Treuhandgesellschaft organisierte den Ausverkauf der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR). China übernimmt im Zuge seines Projekt „Neue Seidenstraße“ Häfen von Ländern, die ihre immensen Kredite nicht zurückzahlen können. Internetkonzerne speichern massenhaft Daten von Nutzern und treiben damit ihre Wachstum voran.

Macht modifiziert die Masse

Der Wert „Ehrlichkeit“ ist eine Regel für den Alltagsgebrauch. Ohne sie könnte sich kein Handel etablieren. Doch innerhalb und außerhalb eines geordneten Staatswesens mit funktionierender Wirtschaft gibt es durchaus Spielraum für kreative Anwendungen von Werten, die dazu gemacht wurden, die Masse zu kontrollieren.

Ein weiterer Faktor beeinflusst also Werte: Macht. Ist es die Aufgabe der Masse, aus dem kollektiven Strom Werte zu etablieren, kontrolliert die Macht mit ihrer Hilfe die Masse und modifiziert sie entsprechend ihrer Interessen.

Samstag, 10. Juni 2023

Freiheit, nach der Menschen streben

Vielleicht besteht Freiheit in der vollkommenen Anonymität einer Hochhaussiedlung
Was also ist diese Freiheit? Ein Meme im Geist eines jeden Menschen. Sie ist nichts und alles. Ein Gedanke, der sich festsetzt und fortan in das Leben integriert werden will. Er zwingt seinen Wirt, tätig zu werden. Für den einen besteht Freiheit in einer Weltreise, ein anderer möchte einen großen Garten bewirtschaften, der dritte tagelang im Bett liegenbleiben, wieder andere sich irgendwo engagieren oder jedes Wochenende mit Freunden feiern gehen. Die Möglichkeiten, Freiheit zu empfinden, sind nahezu grenzenlos. Sie sind für jeden Menschen verschieden, auch wenn es zahlreiche Schnittmengen gibt. Kennzeichen aller Freiheiten innerhalb einer Gesellschaft ist ihre weitgehende Komptabilität mit den Werten und Regeln dieser Gesellschaft. Freiheiten, die einer Gesellschaft zuwider laufen, können entweder gar nicht oder nur heimlich ausgelebt werden. Eine offene Inanspruchnahme dieser Freiheiten führt zu Konflikten, in denen beide Seiten versuchen, ihre kontroversen Werte durchzusetzen. Meist obsiegt die Gesellschaft, doch manchmal setzt ein Wertewandel ein, der neue Freiheiten gewährt oder stillschweigend geduldete Freiheiten entzieht.

Individuelle Gefühle

Festzuhalten bleibt, dass die meisten Freiheiten individuelle Gefühle sind. Mancher fühlt sich beim Motorradfahren frei, andere beim Rauchen. Und es gibt Menschen, die auf der Suche nach Freiheit um die Welt reisen und sie nie finden.

Deshalb ist die Frage wichtig: Was nimmt den Menschen ihre Freiheit? Alles, was ihre Aufmerksamkeit fordert. Jedes Ding, jedes Lebewesen. Wer einen Schlüssel verlegt, muss ihn früher oder später suchen und dafür Zeit aufbringen, in der er nicht frei ist, anderes zu machen. Entscheidet sich jemand für Kinder, werden sie ihn den Rest seines Lebens beschäftigen. 

Liegt nicht gerade in der Entscheidung für etwas eine große Freiheit? Ja, die Freiheit liegt in der Entscheidung. Doch was daraus folgt, ist Unfreiheit. Jede Entscheidung engt das Leben ein wenig mehr ein. Wer sich zum Beispiel für eine Ausbildung oder ein Studium entscheidet, stellt die Weichen für den weiteren Lebensweg. Auch äußere Umstände wie große Kälte oder Hitze, Hunger oder Durst lassen die persönliche Freiheit gegen Null gehen. Die Arbeit für die notwendigen Lebensgrundlagen überwiegt. 

Freizeit ersetzt Freiheit

Vielleicht ist die einzig verlässlichen Aussage, die sich allgemein über Freiheit treffen lässt: Die potentielle individuelle Freiheit nimmt proportional zur Abnahme der Arbeit für die notwendigen Lebensgrundlagen zu. Potentiell ist die Freiheit, weil sie sich nicht unbedingt in vollem Umfang verwirklicht. Nicht jeder schöpft seine Freiheit vollumfänglich aus und nicht alle empfinden ihre Situation als eine von Freiheit geprägte. Möglicherweise bleibt in einer Gesellschaft nur als Freiheit übrig, was landläufig als Freizeit bezeichnet wird. Zeit, die für die sogenannten angenehmen Seiten des Lebens reserviert ist, dafür aber mit organisierten Vergnügungen, Familienbesuchen, Besorgungen, Ausflügen, Feiern und ähnlichem verplant wird. Wirklich freie Zeit ist selten geworden. Jeder beschäftigt sich mit den Dingen und Menschen, die ihn unmittelbar umgeben.

Enthaltsame Menschen vernichten den Konsumismus

Der größte Freund der Freiheit ist deshalb die Einfachheit. Wer wenig besitzt, muss kaum Lebenszeit darauf verwenden, Dinge zu verwalten und zu pflegen. Er könnte sich frei fühlen. Doch in der Gesellschaft wird er sich eher für gescheitert und ausgeschlossen halten. Woher kommt diese Diskrepanz?

Die Einfachheit ist zugleich der größte Feind des Konsumismus. Wenn die Masse der Menschen enthaltsam leben würde, könnte der Konsumismus nicht überleben. Er verlöre seine Berechtigung. Deshalb bedient er sich eines Tricks: Er hackt sich in die Gedanken der Menschen, sozusagen ihr Betriebssystem und manipuliert das Freiheits-Meme von innen heraus.

Rauchen wurde zum Inbegiff der emanzipierten Frau

Den Menschen wird suggeriert, die größte jemals zu erreichende Freiheit bestehe im Konsumieren. Dazu gibt es ein berühmtes Beispiel: Die Tabakindustrie erkannte in den 1920er Jahren, dass sie ihren Umsatz mit einem Schlag verdoppeln könnte, wenn auch Frauen rauchen würden. Nur galt Rauchen damals als unweiblich und unschicklich für Damen. Deshalb lancierten die Unternehmen eine PR-Kampagne. Die zielte darauf ab, Rauchen als Ausdruck von Emanzipation zu verkaufen. Sie versprach Frauen also Freiheit durch den Konsum von Zigaretten. Sehr erfolgreich, wie rückblickend zu erkennen ist. Aktuell rauchen durchschnittlich mehr Frauen als Männer. 

Die Menschen fallen auf die Versprechungen des Konsumismus herein, weil sie seit Anbeginn ihres Daseins konsumieren müssen. Nur treten heute die notwendigen Lebensgrundlagen zugunsten eines wahren Kaufrausches in den Hintergrund. Die Menschen konsumieren, um die Gefühle von Freiheit und Befriedigung zu erleben, die ihnen versprochen werden. Da diese Gefühle aber nur kurzzeitig wirken, müssen sie ständig erneuert werden. So feiert der Konsumismus seit Jahrzehnten einen globalen Triumphzug, indem er sich als die Freiheit ausgibt, nach der Menschen streben.

Mittwoch, 17. Mai 2023

Freiheiten verschwinden klammheimlich

Wie die Ritter auf diesem Bild, müssen sich Menschen für die Verteidigung ihrer Freiheiten rüsten
Das ist ein Widerspruch des gängigen Freiheitsverständnisses. Gilt der Einzelne in der westlichen Gesellschaft doch als weitgehend frei. Dabei wird allerdings vergessen, dass Freiheit immer nur im gesellschaftlichen Rahmen gewährt werden kann. Um diesen Rahmen herum wird allerdings viel getan, um die Illusion von Freiheit entstehen zu lassen und aufrecht zu erhalten. So wählt der Einzelne selbst, wieviel Zwängen er sich aussetzt und wie hoch er die Mauern um sich her aufrichten möchte. Dabei gilt: Je mehr Teilhabe an den Angeboten der Gesellschaft, desto größer die geforderte Anpassung und damit einhergehende Einengung. Denn die Leistungen der Gesellschaft, wie zum Beispiel Sicherheit, kosten die Freiheiten der Bürger.

Die Gesellschaft muss sich ständig zeigen

Der Einzelne trifft seine Wahl und verstrickt sich damit immer tiefer im Netz der Gesellschaft, das manchmal auch als bequeme Hängematte bezeichnet wird. Doch auch eine Hängematte ist bei genauerer Betrachtung ein Netz. Er fügt sich, indem er Kredite aufnimmt, ein Haus baut, Familie gründet. Von da an hat er keine Wahl mehr. Der Mensch muss in der Gesellschaft funktionieren, um seine Verpflichtungen zu erfüllen und sein Leben fortführen zu können. Ansonsten wird er schleichend herausgedrängt.

Im Gegenzug ist die Gesellschaft omnipräsent. Sie muss sich ständig zeigen, damit die Menschen an sie glauben. Denn ein Staatsgebilde ist ohne den Glauben der Masse schlichtweg nicht existent. So etwas wie eine Nation denken sich die Menschen ja nur aus. Ohne ihren Glauben an ein solches Konstrukt gibt es den Nationalstaat nicht. Deshalb müssen auf öffentlichen Gebäuden Fahnen wehen, müssen Polizisten in Uniform durch die Straßen laufen, müssen Medien ständig berichten. Wenn der Staat im Gespräch ist, versichert er sich seiner eigenen Existenz und zeigt sie vor den Leuten. Die Umwandlung von einer bloßen Idee zu einem Konstrukt, das Bestand hat, findet in den Köpfen der Menschen statt. Nur solange sie daran glauben, dass ihre Handlungen, beispielsweise das Mitführen eines Personalausweises und das Einhalten von Gesetzen, einen Nutzen haben, ist der Staat existent und Leute werden zu seinen Bürgern.

Es bleibt nur die Freiheit des Konsumierens

Die Menschen gehen einen Deal mit sich selbst ein, wie sie auch, wenn sie einen Gott anrufen, zu sich selbst beten. Der Deal lautet: Gebe Freiheit gegen Teilhabe und Schutz. Vielleicht meinen die Menschen diesen Deal, wenn sie davon sprechen, ihre Seele dem Teufel zu verkaufen, denn sie lassen sich auf einen Pakt ein, der ihnen in der Masse materiellen Wohlstand gegen geistige Armut einbringt. Natürlich gibt es Bildung und entsprechende Einrichtungen zur Vermittlung von Wissen. Aber die sollen Bürger nur lehren, was sie im Sinne des Systems wissen müssen. Nicht von ungefähr werden die Universitäten ohne viel Aufhebens - und, bemerkenswert, ohne großen Protest - von einem Hort des freien und kritischen Denkens zu mehr oder weniger weiterführenden Schulen degradiert. Obwohl die meisten Studenten schon vorher selten über den Tellerrand ihres Lernpensums geschaut haben, hätten sie aber wenigsten die Möglichkeit dazu gehabt, was den heutigen Studenten fast vollkommen verwehrt bleibt.

Freiheiten verschwinden klammheimlich im Dschungel der Bürokratie. Im Grunde bleibt nur eine Freiheit erhalten, die auch von Staat und Gesellschaft nach Kräften gefördert wird: Die Freiheit des Konsumierens. Diese Freiheit meinen Menschen auch, wenn sie davon sprechen, frei zu sein. Denn in diesem Bereich haben sie tatsächlich alle Freiheiten, vorausgesetzt, sie verfügen über ausreichend Geld. Was das Pendel in den Bereich der Scheinfreiheit ausschlagen lässt.

Die Reaktion auf gesellschaftliche Leere

Die Werte einer Gesellschaft wandeln sich mit ihrem Entwicklungsstadium. Eine Aufbauphase charakterisiert sich durch Fleiß und hohe Arbeitsmoral. Wohlstand wird geprägt von Überschuss und vermehrtem Besitz. Die Konsumgesellschaft geht über diese Abschnitte hinaus. Sie ist eine Phase der Stagnation, in der es kaum Visionen und gesellschaftliche Ziele gibt. Es bleibt nur, das zu erhalten und auszubauen, was längst da ist. Im Grunde eine Phase großer Langeweile, in der Angst vor dem Abstieg umgeht, sich aber niemand verantwortlich fühlt, den Status quo zu verändern. Schließlich geht es allen mehr als gut. 

Der Konsumismus ist die Reaktion auf gesellschaftliche Leere, in der niemand inhaltlich etwas beizutragen hat, weil keinem anderes einfällt, als stur weiterzumachen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Der Staat wir nur noch verwaltet, er ist nicht mehr zu Innovationen fähig.

Welche Werte bringt der Konsumismus hervor? Den Wert des Materialismus. Geld wohnt ein Zauber inne. Alles ist käuflich. Auch Gesundheit und Jugend. Schönheit kann per Katalog erworben werden. Kinder lassen sich planen und optimieren. Das Leben ist ein einziger Event. Selbst das Alter lässt sich hinausschieben, auch Greise dürfen noch eine jugendliche Attitüde an den Tag legen. Darüber hinaus?

Dienstag, 16. Mai 2023

Der Konsumismus prägt die erste globale Gesellschaftsform

Hinter den Fassaden der schönen Konsumwelt sieht es düster und verkommen aus
Die Ideologien früherer Tage haben den Menschen mehr Werte ideeller Natur beigemessen. Sie brauchten die Masse beispielsweise auch im Kampf. Der Konsumismus braucht sie ausschließlich an der Ladenkasse. Dabei ist es ihm gleichgültig, wie jemand zu Geld kommt, solange er sein Augenmerk hauptsächlich darauf richtet, es auszugeben.

Oberstes Ziel des Kommunismus ist nicht die Gleichheit aller Menschen, sondern ihre unbedingte Marktteilnahme. Jeder, wie es sein Einkommen hergibt.

Den Menschen wird ihre Zeit genommen

Das Prinzip des Konsumismus wirkt sehr demokratisch. Doch in Wirklichkeit zerstört es die Demokratie und mit all ihren Werte, die eine weitgehend friedliche Gesellschaft bisher ausgezeichnet haben. Zum Beispiel ist das ehrenamtliche Engagement stark zurückgegangen. Nur doch ungefähr ein Drittel der Menschen engagieren sich für andere oder die Belange der Gesellschaft insgesamt. 

Im Konsumismus bleibt wenig Zeit neben der Optimierung seiner selbst und den eigenen materiellen Werten. Ziel ist eine 24/7 Bereitschaft zum Konsumieren. Möglich geworden ist das Erreichen dieses Ziels durch die Etablierung des Onlinehandels sowie die drastische Ausweitung der Ladenöffnungszeiten. Der Wert der Ruhezeiten wird dagegen reduziert und Schritt für Schritt abgeschafft. Es gibt kein Durchatmen mehr in der Gesellschaft, keine kollektive Pause. Selbst die Sonntage sind oft genug mit Besichtigungen oder Beratungsterminen verplant.

Das Erfolgsrezept des Konsumismus besteht darin, dass der den Menschen keine Zeit lässt, sich anders zu orientieren. Dadurch ist Zeit auch zu einer der wertvollsten Ressourcen geworden. Der Konsumismus versucht, jede Minute zu belegen. Bei genauer Betrachtung, gelingt ihm das sehr gut. Denn vieles, was Menschen heute machen, ist offener oder zumindest verdeckter Konsumismus. Wer zum Beispiel stundenlang am Computer zockt oder fernsieht, konsumiert in Wahrheit - wenn auch auf eine ganz angenehme Art und Weise.

Werte unterstützen den Konsumismus

Lässt sich also sagen, alle Werte sind abgelöst von dem einen Wert des Konsumieren? Nein, ganz so einfach ist es denn doch nicht. Auch der Konsumismus benötigt übergeordnete Regeln und Werte. Nur, solange die Gesellschaft möglichst reibungslos funktioniert, kann er erfolgreich sein. Aber durch ihn verändern sich die Werte sehr nachhaltig. 

Die Ladenöffnungszeiten wurden bereits erwähnt. Darüber hinaus ist der Wert, keine Schulden zu haben, sehr in den Hintergrund getreten. Inzwischen gilt es als viel angesagter, Konsumentenkredite aufzunehmen. Das ist im Sinne des Konsumismus. Wer verschuldet ist, arbeitet härter, um sich noch mehr leisten zu können, obwohl der Kredit zurückgezahlt werden muss. 

Aber auch althergebrachte Regeln unterstützen den Konsumismus. Verlässlichkeit, zum Beispiel und Ehrlichkeit. Allgemein gesagt: Es gelten die Werte, die dem Konsumismus nützen. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass es fast keine gesellschaftlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen gibt. Jede Form von Unstimmigkeit fordert Zeit zur Klärung und hindert den Konsum der beteiligten Menschen. 

Der Konsumismus prägt die erste globale Gesellschaftsform, der die Menschheit sich freiwillig unterwirft. Sie scheint ihr zu entsprechen. Jagen und Sammeln in moderner Ausprägung.

Notwendigkeit wird zur Nebensächlichkeit

Gleichzeitig entwickeln sich neue Werte in der Onlinewelt. Werte, die darauf abgestimmt sind, dass sich viele Menschen anonym begegnen. Eine sogenannte Netiquette soll ihr Miteinander regeln und verträglich machen. Allerdings überwiegen in einigen Bereichen Mobbing, Hass und virtuelle Gewalt. Ohne große Gefahr der Entdeckung und Bestrafung fallen die meisten Werte aggressivem Treiben zum Opfer. Trotz aller Bemühungen gibt es einzelne Teile der Menschheit, die auf Gewalt setzen. Vielleicht ist es an der Zeit einzugestehen, dass Menschen auch diese düstere Seite haben und in absehbarer Zeit nicht überwinden werden.

Doch was, wenn die Menschen sich auf die notwendigen Lebensgrundlagen beschränken würden? Zunächst ist zu definieren, was zu den notwendigen Lebensgrundlagen zählt. Unbestritten sicherlich Nahrung, Kleidung und Wohnung. Darüber hinaus Kommunikation, Bildung, Mobilität und Kultur. Aber sind drei Autos, fünf Computer und 25 Paar Schuhe notwendig? An welchem Punkt schlägt die Notwendigkeit in bloßen Konsum um?

Abzulesen ist dies ganz gut an der Art und Weise der Nahrungsaufnahme. Die Menschheit leidet unter Übergewicht. Essen ist vielerorts von einer Notwendigkeit zu einer Beschäftigung geworden. Die Märkte sind voller verlockender Angebote - von regional bis exotisch. Die Nahrungsaufnahme wird als Kunstwerk stilisiert. Andererseits gibt es mehr und mehr Fertiggerichte, weil sich viele Menschen nicht mehr die Zeit zum Kochen nehmen und ihr Essen schnell vor dem Fernseher oder Computer herunterschlingen. Das Notwendige wird zur Nebensächlichkeit, die nichtsdestotrotz notwendig ist.

Der Einzelne ist nur als Kunde ein Individuum

Paradox? Vielleicht. Doch das Muster wiederholt sich in der Geschichte. Zum Beispiel beim Rauchen. Vor Jahrhunderten ein zeitintensives Vergnügen. Der Tabak wurde ausschließlich in Pfeifen geraucht, der Genuss aufwendig zelebriert. Die Zigarre wurde zur Zeitersparnis erfunden. Sie ist gebrauchsfertig. Das Stopfen der Pfeife entfällt. Dann kamen die industrielle Revolution und der Erste Weltkrieg. Beides ließ Arbeiter und Soldaten kaum mehr Zeit zur Muße. Deshalb kam die Zigarette in Mode. Sie ersetzte endgültig das genussvolle Ritual des Rauchens durch die hastige Aufnahme von Nikotin. Die reine Sucht setzte sich gegen die gelegentliche Freude am Rauchen durch.

Die Menschen passen sich dem Rhythmus der Gesellschaft an. Die Gesellschaft aber wird bestimmt von der Notwendigkeit des Lebens. Sie organisiert die Infrastruktur, ohne die der Menschen wieder Jagen und Sammeln würde. Dafür benötigt sie die Masse und ignoriert den Einzelnen. 

Der Einzelne ist verloren. Gefangen zwischen Vorschriften, Regeln und Werten, die für die Masse geschaffen wurden, aber von ihm befolgt werden sollen. Er geht in der Masse auf und wird als Individuum ignoriert. Vorgegaukelt wird dem Einzelnen nur eine scheinbare Individualität, in der er als Kunde beachtet wird.

Sonntag, 14. Mai 2023

Eine Extraportion Glück

Jede Arbeit ist eine sich ständig wiederholende Aufgabe, die niemanden wirklich voranbringt
Bemerkenswert ist, dass Werte damit nicht nur ein Gemeinschaftsgefühl darstellen, sondern emotional auch erzeugen können. Unter Umständen verbinden sie Menschen direkt körperlich. Denn es ist bekannt, dass gemeinschaftliche Musikerlebnisse oder intensive Gebete zu übereinstimmenden Herzfrequenzen führen können. Eine Gruppe von Menschen wird zeitweise zu einem Organismus. Das hat weitreichende Konsequenzen.

Die Erwachsenenwelt gilt als spießig

Werte sind ein Bindeglied zwischen Menschen. Ein sehr tiefgreifendes. Sie beeinflussen unseren Alltag ebenso, wie unser Zusammenleben. Werte machen eine Gesellschaft erst möglich. Dennoch - oder gerade deshalb - wird ständig um sie gerungen. Denn das Individuum machte zwar die Vorteile der Gemeinschaft nutzen, gleichzeitig sich aber nicht all ihren Werten unterordnen. Dadurch entstehen Ungleichheiten. Manche können eher nach ihren Vorstellungen leben als andere. Meist ist es eine Frage von Mittel und Einfluss.

Es gibt zahlreiche gesellschaftliche Inseln, auf denen spezifische Werte oder aber Zusatzwerte gelten. Clubs zum Beispiel, natürlich die eigene Wohnung und sicherlich auch Freundeskreise. Doch spielen auch dort die gesellschaftlichen Werte hinein. Jugendliche betrachten die Erwachsenenwelt genau aus diesem Grund gerne als spießig. Sie werfen ihr vor, gerade keine wertfreien Zonen zu haben. Überall gelten einengende Werte.

Dabei lässt sich zu Recht fragen: Was machen Jugendliche denn anderes? Weshalb glauben sie, weniger spießig zu sein? Zum einen, weil sie jung sind und ihr gesamtes Leben noch vor sich haben. Darüber hinaus, weil sie kaum etwas verlieren können. Aus diesen beiden Gründen verfügen sie zum Teil über andere Werte, vor allem aber über ein anderes Wertverständnis. Sie wissen noch nicht, wie Erwachsene in der Gesellschaft funktionieren. Dadurch genießen sie Freiheiten, die sie auf die Spießer herabblicken lassen, die diese Freiheiten nicht mehr haben. In gewisser Weise haben Jugendliche das Gefühl, ewig zu leben. Das gibt ihnen die Kraft, sich Rechte von der Gesellschaft zu nehmen und durchzustarten.

Menschen wollen glauben, ihr Glück selbst in der Hand zu haben

An welchem Punkt geht ihnen dieser Schwung verloren? Schuld ist diesmal nicht der notwendige Lebensunterhalt allein. Er wird begleitet von hormonell körperlichen Veränderungen. Mit anderen Worten: Jugend wird erwachsen und hat andere Bedürfnisse. Die meisten Menschen möchten Familie, Eigentum und Sicherheit. Damit verbinden sie Erfolg und Erfolg wird mit Glück gleichgesetzt. Doch ist das richtig?

Nach den Erkenntnissen von Wissenschaft und Forschung ist auch Glück ein körperlich bedingtes Gefühl. Einige Menschen scheinen ein stärkeres Glücksgen zu haben als andere, sich dadurch entsprechend glücklicher zu fühlen - und zwar in jeder erdenklichen Situation. Wohlstand oder gar Reichtum scheinen dagegen eine eher untergeordnete Rolle bei dem Empfinden von Glück zu spielen. 

Weshalb jagen die Menschen dann ständig nach Glück und sind anfällig für die entsprechenden Versprechen von Unternehmen mit ihrem vielschichtigen Marketing?

Sie wissen es nicht besser und wollen glauben, dass sie ihres eigenen Glückes Schmied sind. Das ist ein zentrales Versprechen der Werte: Wenn ihr uns folgt, verschaffen wir euch eine Extraportion Glück. Ein nicht ganz unsinniges, aber übertriebenes Versprechen, das letztlich aus jugendlichen Rebellen langweilige Spießer macht.

Richtig ist: Ein ethisches Handeln nach den Werten der Gesellschaft kann ein Glücksempfinden auslösen. Jeder kennt vermutlich das tolle Gefühl, das sich nach einer guten Tat einstellt. Auch wenn es schnell wieder abflaut, gibt es den Menschen doch einen positiven Kick und weckt den Wunsch, dieses Gefühl möglichst schnell und möglichst oft zu wiederholen. Eine Falle, in die jeder Mensch bereitwillig tappt. Nicht, dass gute Taten schlecht sind, aber eine interessante und neue Idee, die unter Umständen allen Werten widerspricht und die Gesellschaft in Frage stellt, löst wahrscheinlich ein ähnliches Glücksempfinden aus. Es ist nicht die Orientierung an Werten, die Glück schenkt, sondern das Handeln nach dem eigenen Ich.

Der Kniff der Gesellschaft

Deshalb macht die Gesellschaft viele Menschen krank. Sie laufen der Erfüllung von Werten hinterher, die ihnen nicht entsprechen, aber von ihnen verlangt werden. Zum Beispiel der Rhythmus der Tage: Eine Menge Menschen sind eher Spätaufsteher, müssen aber trotzdem meist früh anfangen. Schon die Schule verlangt einen Beginn pünktlich um acht Uhr morgens. Zu zeitig für einen Großteil der Schüler (und auch viele Lehrer).

Doch statt Rücksicht zu nehmen, gaukelt die Gesellschaft Normalität vor. Umgekehrt: Wer ihre Vorgaben nicht erfüllt, ist nicht normal. Fatal für den Einzelnen, weil Normalität ein hoher Wert zugemessen wird. Noch so ein Mechanismus, der den rebellischen Jugendlichen zum angepassten Erwachsenen erzieht (oder Jugendliche erst gar nicht zu Rebellen werden lässt). Das beginnt bereits in der Schule. Zu diesem Zweck wurde beispielsweise die zuvor unbekannte Krankheit ADS (Aufmerksamkeit Defizit Störung) erfunden. Es bedurfte einer Schublade für auffällige Kinder. Samt zugehöriger Behandlung mit Medikation. Eine wiederkehrende Praxis, mit der die Gesellschaft nicht nur missliebige Mitglieder stigmatisiert, behandelt und in ihrem Sinne „heilt“, sondern zusätzlich daran verdient, indem sie einen Ablauf in Gang setzt, der auffällige Menschen zu einer vorgegebenen Normalität führt. Bekannt ist die Diagnose von tausenden unfügsamer Frauen im 19. Jahrhundert als „hysterisch“ mit anschließenden brachialen Behandlungen bis zu Elektroschocks. Ähnlich erging es homosexuellen Männern noch bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein, die zum Teil im Namen der Normalität chemische Kastrationen über sich ergehen lassen mussten. Denn Homosexualität galt bereits im Deutschen Reich von 1871 als Straftat. Die junge Bundesrepublik hatte die Verschärfung des Gesetzes durch die nationalsozialistische Justiz kritiklos übernommen. Das führte zum Beispiel im Frankfurt der 1950er Jahre zu einer regelrechten Hexenjagd, bei der Betroffene bewusst an ihren Arbeitsplätzen verhaftet wurden, um sie gesellschaftlich zu diskreditieren. Existenzen wurden im Namen des Rechts zerstört. Zahlreiche junge Männer begingen Selbstmord. Bei solchen Aussichten vergeht rebellischen Jugendlichen natürlich schnell die Rebellion. Exemplarisch auf die Spitze getrieben in Stanley Kubricks Drama „Clockwork Orange“ aus dem Jahr 1971. 

Der Kniff der Gesellschaft ist, das Individuum vorgeblich zu seinem Glück zu führen. Nicht ganz zufällig heißt dieses Glück Anpassung. Denn wer die anderen nicht nervt, ist wohlgelitten. Selbstverständlich gibt es einen gewissen Spielraum. Wie schon beschrieben, braucht die Gesellschaft Impulse von Visionären und Querdenkern. Da die meisten Menschen aber nur höchstens eine große Sternstunde in ihrem Leben haben, werden sie danach in die Kolonne der Gesellschaft eingegliedert und die Reihen schließen sich um sie herum.

Dieser Mechanismus ist so alt wie die Gesellschaft selbst. Zumindest seit der Entstehung von Siedlungen und Städten bedurfte es vieler kritikloser Arbeiter und nur weniger Denker. Die Masse musste mit dem zufrieden sein, was ihr zugewiesen wurde und sie sollte sich bedingungslos an die Regeln halten. Anders konnte die neue Form des menschlichen Zusammenlebens nicht funktionieren. Manche murrten, vereinzelt gab es Aufstände, aber größtenteils hielten sich die Menschen an ihre Rolle als Masse. Vor allem, weil sie an die Mythen der Staaten und Religionen glaubten. Damit vertraten sie auch deren Werte. Die Werkzeuge zur Anleitung der Masse gingen Hand in Hand.

Sonntag, 30. April 2023

Der Prozess der Anpassung wird durch die Gesellschaft ermittelt

Heftige Demonstrationen werden durch Veränderungen ausgelöst, die angepassten Menschen Angst bereiten
Jeder einzelne Mensch wird von den Werten einer Gesellschaft eingefangen. Sei er noch so anders in seinem Denken und Handeln. Die Notwendigkeiten des Lebens sind dabei die Nabelschnur, die das Individuum immer und zu jeder Zeit mit der Gesellschaft verbindet. Ganz gleich, wie sehr ein Mensch rebelliert – diese Nabelschnur darf er nicht zerreißen, ohne augenblicklich zu Grunde zu gehen. Selbst Rebellion kann deshalb nur in den Grenzen von Werten ablaufen, die von einer Masse akzeptiert werden und die menschliche Gesellschaft nicht grundsätzlich infrage stellen. Die Menschheit ist nicht zu neuen Formen des Zusammenlebens in der Lage, weil sie in die Notwendigkeit ihres eigenen Lebens verhaftet ist. Jede gesellschaftliche Utopie ist nur eine scheinbar neue Lebensweise.

Menschen synchronisieren Werte

Ein besonderer Wesenszug der Spezies Mensch ist die Anpassung. Vielleicht ist sie sogar ein eigener Wert. Seine Flexibilität, sich allen möglichen Situationen anzupassen, macht den Menschen so erfolgreich. Wir haben nie aufgehört uns anzupassen und werden es wohl auch niemals tun. Aber was genau ist diese Anpassung? Was geschieht, wenn wir unseren stärksten Trumpf ausspielen?

Technisch gesehen synchronisieren wir Werte. Wer sich anpasst, übernimmt Werte. Zugleich gibt er einen Teil seiner eigenen Werte auf. Wird ein Mensch zum Beispiel Soldat oder Polizist, muss er damit einverstanden sein, dass der Wert „Du sollst nicht töten“ nicht mehr uneingeschränkt für ihn gilt. Vielmehr lebt er fort an nach dem Wert: „Du darfst töten, wenn Staat und Gesellschaft es Dir erlauben“. Eine Anpassung an den Beruf und die Möglichkeit, die Werte von Staat und Gesellschaft wenn nötig mit Gewalt durchzusetzen. Wer dazu bereit ist, muss ich sehr mit diesen Werten verbunden fühlen.

Die Anpassung der Menschen ist das Fundament einer Gesellschaft. Es ist eine Symbiose zwischen ihr und den einzelnen Menschen. Für die Unterordnung gibt sie Sicherheit und Möglichkeiten der Entfaltung im Rahmen ihrer Werte. Natürlich nicht darüber hinaus. Wie sollte das auch gehen?

Lohn ist Anerkennung

Interessanterweise funktioniert die Anpassung auch bei den nicht Angepassten. Irgendwann jedenfalls. Sobald sie etwas zu verlieren haben. Wenn sich also ihre nicht Anpassung auszuzahlen beginnt. Dann ist die Anpassung Ein Vorteil für die nicht angepassten. Ein Ausgleich für die Langeweile.

Es sind vorwiegend die nicht Angepassten, die neue Werte aus dem kollektiven Strom picken und der Gesellschaft auf diese Weise eine Chance auf Entwicklung geben. Doch sobald sie ihre Aufgabe in Kunst, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik erledigt haben, werden sie von der Masse geschluckt und gliedern sich in das große Heer der Angepassten ein. Ihr Lohn ist Anerkennung, Geld und ewiger Ruhm. Doch die Gefahr, die von ihnen ausgeht, ist zu groß, als dass sie ein Leben lang Andersdenkende sein dürften. Entweder passen auch sie sich nach einer einiger Zeit an oder werden vernichtet. Die Gesellschaft verteidigt ihre Werte. Nur wenigen ist es erlaubt, sie zeitweise mit Füßen zu treten und so einen Prozess der Erneuerung oder Veränderung auszulösen. Diese wenigen wir sind zumeist keine besonders glücklichen Menschen.

Da die Masse sich anpasst, braucht sie diese unglücklichen Menschen, die für eine Vision oder Utopie kämpfen. Der eine oder andere von ihnen wird die Masse auf seinem Gebiet schließlich überzeugen und mitreißen. Doch selbst Individualisten sind letztlich angepasst im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung. Vielleicht nehmen sie sich ein wenig mehr Freiheit heraus. Die aber auch nur im gesellschaftlichen Umfeld existiert.

Der Staat darf jederzeit in das Betriebssystem eingreifen

Die Frage, ob die Menschen irgendwann in einer Zeit der besonderen gesellschaftlichen Anpassung leben oder sich aus der Notwendigkeit des Lebens überdurchschnittlich anpassen müssen, stellt sich nicht. Denn der Prozess der Anpassung, der Anpassungsgrund sozusagen, wird permanent durch die Gesellschaft ermittelt. Er ergibt sich aus dem Wohlstand einer Gesellschaft, der Bedrohung, die ihm von innen und außen droht und dem daraus abgeleiteten Potenzial an Freiheit, das jedem einzelnen zugestanden werden darf. Die größte Einengung erleben die Menschen im Krieg, denn sie haben rund um die Uhr im Sinne der Masse zu funktionieren. Ihre größte Freiheit genießen sie dagegen in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs und eines weltweiten Bemühens um Verständigung.

Freiheit oder erzwungene Anpassung gehen mit Erfolg und Misserfolg einer Gesellschaft einher. Fliehen Menschen aus einer Gesellschaft, wird sie Mauern errichten. Leisten sie Widerstand, wird sie ihre Bürger überwachen. Die Grenzen der Staatsgewalt verschieben sich je nach politischer und wirtschaftlicher Ausrichtung. Doch Grenzen gibt es in jeder Gesellschaft sowie auch erzwungene Anpassung. Werden Werte, die eine Gesellschaft ausmachen, nicht freiwillig eingehalten, wendet jeder Staat Gewalt an. Dabei greift er zu Mitteln, die seine eigenen Werte widerspiegeln: Einsatz von Provokateuren, Polizeigewalt, Aushebelung von Rechten. All das, um übergeordnete Werte zu schützen, die eine Gesellschaft willkürlich definiert. Manchmal geht es auch einfach nur um das Ansehen des Staates und seiner Repräsentanten auf der Weltbühne.

Damit öffnet sich eine neue Ebene von Werten: Sie sind der Repräsentanz einer Gesellschaft, dem Staat, zugeordnet und überstrahlen alle anderen Werte. Das Individuum muss zurückstehen und sogar die Masse verliert ihre Macht. Der Staat hat sozusagen Administratoren Gewalt und darf jederzeit in das Betriebssystem eingreifen. Das bedeutet, er verändert die Spielregeln.

Freitag, 10. März 2023

Die Menschen brechen gerne Regeln

 

Wie ein hübscher Vogel wachen die Werte über den Zusammenhalt einer Gesellschaft und ersticken jedes Aufbegehren
Deshalb wird es nicht vorkommen, dass zwei Schachspieler nur die Schönheit der Balance in der Anfangsstellung bewundern. Weiß wird immer den ersten Zug machen und Schwarz folgen, weil beide es als notwendig erachten, sich sich zu messen. Denn der Mensch ist es gewohnt, seine Umgebung für die Erhaltung seines Lebens zu bezwingen. Alle Werte leiten sich von dieser Notwendigkeit ab. Sie verändern sich erst mit dem Wandel der Arbeitsbedingungen, durch die der Mensch seinen Lebensunterhalt bestreitet.

Wert bemisst sich an Besitz

Ist das nicht bereits der Fall? Nun, die Menschen hetzen weiterhin umher, als seien sie täglich auf der Jagd. Dabei geht es für die meisten nicht mehr um die notwendigen Lebensgrundlagen. Die Grundbedürfnisse sind bei Ihnen durch relativ wenig Arbeit abgedeckt. Es kommt Ihnen vor allem auf die Erfüllung gesellschaftlicher und selbst definierten Werte an.

Die Werte einer modernen Gesellschaft entwickeln sich aus dem Überschuss ihrer wirtschaftlichen Produktion. Gerade, weil die notwendige Arbeitsleistung einen geringen Anteil ausmacht, kann ein Großteil der vergüteten Leistung auf neue Werte gerichtet werden. Diese neuen Werte sind entsprechend vorwiegend materieller Natur. Die Arbeit dient inzwischen dazu, sich alles kaufen zu können, nicht nur notwendige Produkte, sondern besonders begehrenswerte. Der gesellschaftliche Wert eines Menschen bemisst sich an seinem Besitz. Ansehen wird gekauft. Dadurch verschieben sich andere Werte um den Faktor Geld.

Geld wird zum Akkumulator für Werte. Sie werden noch immer aus dem kollektiven Strom entnommen. Doch die Masse blickt anders in den Strom. Es ist der Blick des Geldes. In dem Moment, in dem die Masse wohlhabend ist, verändert sich ihr Fokus. Damit setzt sie die Mechanismen des Wandels in Gang. Denn es ist immer die Masse, durch die sich die Welt verändert.

Werte sind also für die Masse. Sie muss sie akzeptieren. Ihr gefallen offensichtlich leicht verständliche Vorzeigewerte. Deshalb funktionieren zum Beispiel die zehn Gebote. Die Masse braucht einen Rahmen, aus dem heraus sie auf andere mit dem Finger zeigen kann.

Werte polarisieren

Menschen haben im Umgang mit Werten zwei Gesichter: das freundliche, umgängliche, das sich bemüht, Werte zu befolgen und Ihnen gerecht zu werden sowie das düstere, hämische, das sich erfreut, andere daran scheitern zu sehen und es ihnen vorzuwerfen. Werte werden dementsprechend gelebt und benutzt. Vor allem aber dienen sie dazu, die Masse zu beruhigen. Sie geben ihr eine Aufgabe: Werte zu befolgen und all diejenigen zu verachten, die nicht in der Lage oder willens sind, sie zu befolgen. Dabei beneidet sie heimlich die Abtrünnigen, die es wagen, entgegen allen Anfeindungen einen eigenen Weg einzuschlagen.

Werte erfüllen eine wichtige gesellschaftliche Funktion – sie polarisieren. Damit lösen Sie Debatten und Diskussionen aus. Manche verpuffen schnell, andere entzünden einen Sturm. Diese Werte sind Ursache und Anlass von Entwicklungen und Umbrüchen.

Deshalb brechen die Menschen gerne Regeln. Weil sie damit ihre Werte auf die Probe stellen. Kommen Sie mit dem Regelbruch durch oder sind die Werte stärker? Im kleinen oder im großen: die Masse entscheidet auch hier.

Nicht von ungefähr begehrt in jeder Gesellschaft gerade die Jugend auf. Sie hat wenig gefestigt Werte und ist frei, zu experimentieren. Doch die Zeitspanne ist kurz dafür. Werte engen die jungen Menschen von Jahr zu Jahr mehr ein. Bald müssen sie für ihren notwendigen Lebensunterhalt sorgen und dann für den einer eigenen Familie. Der Wert, der am unbarmherzigsten zuschlägt, heißt Verantwortung. Die Verantwortung wird von anderen Werten flankiert: Leistungsbereitschaft, Verzicht, Härte gegen sich selbst. Verbrämt wird sie durch ergänzende Werte wie Nationalstolz, Liebe zur Familie und den eigenen Kindern, Stolz auf das Erreichte und Anerkennung von außen. Wer Verantwortung übernimmt, steht gut da – zumindest, wenn es gut läuft. Falls nicht, greifen andere Werte: sich dem Unvermeidlichen stellen, nicht aufgeben, einstecken können, weitermachen, neu anfangen, nicht klagen und so weiter.

Werte werden zu einer moralischen Instanz

Passend zu jeder Situation im Leben, gibt es mindestens einen brauchbaren Wert. Oft eingebettet in weise Sprüche. Der Mensch wird eingekreist von Werten, die ihn wie ein engmaschiges Sieb umhüllen und nur für opportunes Verhalten durchlässig sind.

Das führt immer wieder zu Protest. An den Werten wird gerüttelt. Die Menschen wollen ausbrechen. Manche schaffen es. Doch Werte sind tückisch. Wer einem von ihnen entflieht, wird von anderen eingefangen. Das funktioniert vor allem deshalb, weil Werte emotional verankert sind. Wer könnte sich entziehen, wenn Menschen in Not geraten oder an nationales Gefühl appelliert wird? Die Frage: „Liebst du mich denn gar nicht?“ mit „Nein!“ zu beantworten, fällt den meisten schwer.

Emotional aufgeladene Werte werden zu einer moralischen Instanz. Sie werden benutzt, Menschen zu Handlungen zu bewegen. Beispielsweise regelmäßig zur Arbeit zu gehen. Allein mit Geldzahlungen und Androhung von Kündigung bei Faulheit funktioniert die Arbeitswelt nicht. Es kommt noch ein übergeordnetes Prinzip hinzu. Die Idee des gesellschaftlichen Wertes und der Freude an der Arbeit. Erst die Gewissheit, von Nutzen zu sein, stellt die Menschen zufrieden und veranlasst sie zu regelmäßig wiederkehrenden Leistungen. Natürlich müssen die Werte geglaubt werden. Doch dafür sorgen die Werte mit ihrem verschachtelten Wesen selbst, indem sie den Menschen das Gefühl geben, es lohne sich, die Werte der Gesellschaft zu befolgen.

Jeder Mensch wird in Werte hineingeboren

Das funktioniert mit einem bizarren Trick: Die Menschen belügen sich selbst um ihren Erfolg und ihr Wohlbehagen in ihrem Leben. Es ist ein gesellschaftliches Ritual, dass ihnen abverlangt, einen guten Platz für sich im Getriebe der Welt zu finden. Keiner wird zugeben, wie hoch der Preis dafür ist. Nur Außenseiter denken laut darüber nach – und werden dafür verlacht. Zumal auch sie nicht darum herumkommen, sich irgendwelchen Werten zu beugen. Das ist der Handel: „Siehst du, auch du hältst dich an Regeln!“ heißt es lapidar. Es stimmt: Flucht vor Regeln ist nicht möglich. Sie sind überall. Schon weil der menschliche Körper nach Regeln funktioniert und die Welt ihre Naturgesetze hat. Jeder Mensch wird in Werte hineingeboren. Nur welche es genau sind, ist eine Laune des Zufalls.

Das Problem ist auch nicht, dass es überhaupt Werte gibt. Vielmehr besteht das Problem darin, dass nicht alle Werte zu jedem Menschen passen und wir trotzdem nicht vor ihnen fliehen können. Wir müssen essen, uns kleiden, wohnen und schlafen. Doch schon dafür gibt es in jeder menschlichen Gesellschaft Regeln und Werte. Der absolute Wert lautet überall: Wer für die Gesellschaft nichts leistet, ist auch nichts wert. Wobei die Gesellschaft selbst entscheidet, was Leistung für sie bedeutet.

Montag, 27. Februar 2023

Maschinen sind Taktgeber

 

Mit dem Fließband hat es angefangen, inzwischen sind Menschen in jeder Gesellschaft nur noch Glieder einer langen Arbeitskette
Sie sind die Grundlage für Entscheidungen und Regeln. Auch im Tierreich gibt es Werte. Dort basieren sie auf Instinkt. Nur der Mensch hat gelernt, wird zu abstrahieren und ganze Gedankengebäude auf ihnen zu errichten. Human sein bedeutet, menschenfreundliche Werte zu vertreten. Doch die Sichtweise von Mensch zu Mensch differiert je nach Kultur und Nation. Menschliche Grundwerte regeln das Zusammenleben – das auch an regionalen Gegebenheiten und Umweltbedingungen hängt. Insoweit sind menschliche Werte auch von Herkunft und Natur geprägt.

Persönliche Werte gehen die Gesellschaft nichts an

Zurück zum Gebrauch von Werten. Sie sind so nützlich wie Messer und Gabel. Genauso wie mit dem Besteck gehen Menschen mit ihnen um, wenn sie Verhandlungen führen und Zugeständnisse erreichen wollen. Sie tranchieren die Forderungen ihres Gegenübers mit den passenden Werten. Das setzt eine gewisse Kenntnis über den anderen voraus. Es ist wieder der Blick des anderen, diesmal um zu erkennen und die Erkenntnis zum eigenen Vorteil zu nutzen. 

Dabei ist es hilfreich, keine eigenen oder zumindest nur wenige Werte zu haben. Besonders dürfen Werte nicht den Verhandlungspartner einschließen. Wer die Familie hoch hält, hat trotzdem keine Schwierigkeiten, einen Fremden übers Ohr zu hauen.

Der Mensch legt sich seine Werte zurecht. Es gibt allgemeine und persönliche Werte. Die allgemeinen Werte gelten für eine Gesellschaft und sind für einzelne nur sehr schwer zu unterlaufen. Viele sind in Form von Gesetzen festgeschrieben. Selbstverständlich wird auch gegen sie verstoßen. Doch in diesem Fall muss mit ernsthaften Konsequenzen gerechnet werden. Auf den Werteverstoß folgt die Strafe – jedenfalls, wenn der Verstoß festgestellt und der Schuldige ermittelt werden kann. Persönliche Werte dagegen gehen die Gesellschaft nichts an. Sie sind nicht verhandelbar, sondern können auch zum eigenen Vorteil benutzt werden.

Zahlen werden das menschliche Leben aus

Interessanter ist jedoch die Entwicklung der allgemeinen Werte. Sie durchlaufen immer wieder Phasen von Anerkennung über Protest gegen sie bis zu ihrer Aussetzung und sogar Abschaffung. Wie werden diese Phasen ausgelöst? Ein großer Treiber für Werte sind, neben dem kollektiven Strom, Zahlen. Seit Galileo Galilei die Bedeutung des Messens erkannt hat, ist die Macht der Zahlen stetig angewachsen. Heute überlagern sie die menschliche Gesellschaft wie eine Matrix. Zahlen werten das menschliche Leben aus, bewerten es und entscheiden, ob es sich mit den Werten der Gesellschaft im Einklang befindet. Von künstlicher Intelligenz gesteuerte Systeme machen die Vernetzung zwischen Zahlen und Werten zukünftig noch weitaus effektiver. Gesichtserkennung, Datenspeicherung, Verzahnung von Daten aus allen Lebensbereichen von Schule und Job über Bankverbindungen und Finanzunterlagen bis zur medizinischen Versorgung ermöglichen umfassende Analysen jedes einzelnen Menschen. Wer aus der Masse der arbeitenden, unauffälligen Steuerzahler heraussticht, fällt auf und bekommt eine geringere Punktzahl. Oder Wertungszahl – worin der Begriff Wert natürlich deutlich enthalten ist.

Ob ein Mensch für die Gesellschaft einen Wert hat, wird in Zukunft verstärkt von Wertungszahlen abhängen. Dadurch wird ein großer Wertewandel eintreten. Denn plötzlich findet nicht mehr die Masse Werte aus dem kollektiven Strom, sondern die Beherrscher der Zahlen erhalten Macht über Werte und ihre Wertigkeit.

Wie wird das sein? Zunächst sicherlich die Staaten. Die Volksrepublik China experimentiert gerade mit sogenannten Sozialpunkten, einem System, in dem eine Zahl den Wert einer Person ausdrückt. Sie entscheidet über Kreditvergabe, Reisemöglichkeiten und sogar Heiratschancen. Videoaufzeichnungen und Computer überwachen die Menschen und passen ihre Bewertungszahl nach ihrem jeweiligen Verhalten an. Bei Rot über die Ampel gehen oder Abfall auf die Straße werfen gibt beispielsweise Punktabzug. So soll die Ordnung im Staat aufrecht erhalten und verbessert werden. Nur: Wessen Ordnung?

Werte passen sich den Technologien an

Es ist bereits die Ordnung der Maschinen. Sie werden von Menschen kontrolliert, aber sie zwingen ihnen ihren Rhythmus auf. Seit der Entwicklung der mechanischen Webstühle waren die Maschinen nie Handlanger der Menschen, sondern von Anfang an ihre Taktgeber. Ihr Versprechen ist enormer Gewinn. Doch sie verlangen Unterordnung und Gehorsam.

Dieses Schema hat schon früh in der Geschichte begonnen. Der Historiker Noah Yahari weist in seinem Buch „Eine kleine Geschichte der Menschheit“ darauf hin, dass der Mensch überhaupt nicht den Weizen domestiziert haben könnte, sondern der Weizen den Menschen. Sein Argument: Der Weizen ist eine der erfolgreichsten Kulturpflanze. Er wird von Menschen gehegt und gepflegt - und das seit Jahrtausenden. Sein Versprechen: Die Menschen großzügig zu ernähren und ihnen dadurch zu ermöglichen, sich vermehrt fortzupflanzen.

Deutlich ist die Parallele zur Beziehung zwischen Mensch und Maschine zu erkennen. Die Menschheit legt sich für ein Versprechen krumm. Das hat weitreichende Folgen. Dem Technologiewandel folgt der Wertewandel auf dem Fuß. Denn die neuen Möglichkeiten bedingen neue Verhaltensweisen.

Wie die Sesshaftwerdung des Menschen das Staatswesen nach sich zog, werden auch die neuen Technologien bis hin zur künstlichen Intelligenz die Lebensbedingungen von Grund auf verändern. Nicht nur wird es neue Berufe geben, sondern auch das Verhalten der Menschen wird sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Die Technologien werden die Menschen konditionieren. Unweigerlich wird ein Wertewandel diese Konditionierung begleiten. Viele Werte werden passend gemacht, andere kommen hinzu.

Die Spieler verändern die Balance des Schachs

Wird dabei die große Konstante der Menschheit, der Wettbewerb untereinander, verändert? Vermutlich nicht. Denn es ist den Menschen nicht gegeben, eine errichtete Balance ein für alle Mal zu bewahren. Er muss sie immer wieder aufs Neue herstellen, um möglichst einen Ausgleich zu seinen Gunsten zu schaffen.

Ein Schachspiel ist zu Beginn in perfekter Harmonie. Die weißen und schwarzen Figuren stehen sich auf Abstand in genau gleicher Anordnung entgegen. Es bestünde die Möglichkeit, dass sich die Spieler gegenübersitzen und diese Harmonie gemeinsam bewundern, ohne das geringste an der Stellung zu verändern. Sie würden den Aufbau wie ein Gemälde betrachten und dann friedlich auseinandergehen. Doch das entspricht nicht dem menschlichen Sein, dass nicht nur neugierig ist und Dinge verändern will, sondern auch noch persönlichen Vorteil erstrebt. Was geschieht, fragt sich der Spieler mit den weißen Steinen, wenn ich ein Bauern ziehe? Darauf muss ich reagieren, denkt sich der Spieler mit den schwarzen Steinen. Beide beginnen die Stellung aus der Balance zu bringen und hoffen auf einen Gewinn. Ein Zug bedingt den nächsten. Die Spieler können nicht aufhören. Sie kämpfen um die Vormacht. Beide haben Pläne und die müssen erst ausprobiert werden, bevor die sich auf ein Remis einigen, falls nicht einer von ihnen gewinnt.

Thomas Henry Huxley hat einmal gesagt: „Das Schachbrett ist die Welt, die Figuren sind die Erscheinungen im Universum, die Spielregeln sind, was wir die Naturgesetze nennen. Der Spieler auf der anderen Seite ist uns verborgen.“ Der Mensch aber lebt in der Welt und muss seine notwendige Arbeit verrichten, um für seinen Unterhalt zu sorgen. Die Erscheinungen des Universum und die Naturgesetze geben ihm dabei einen Rahmen, an dem er sich orientieren, den er aber nicht überwinden kann. So kämpft er nicht gegen sie, sondern mit ihnen um sein Überleben. Er macht seine Züge und hofft das Beste.

Samstag, 11. Februar 2023

Die verlorenen Seelen

 

Der Ich-Erzähler bei Proust ähnelt in gewisser Weise Don Quichotte, der einer eingebildeten Gesellschaft dient

Leidenschaften und Begierden

Der Mensch ist verzweifelt auf der Suche nach dem Menschen. Wo findet er ihn, wo verliert er ihn wieder? Marcel Proust sucht in der Vergangenheit. Er rekapituliert, was es mit der menschlichen Gesellschaft auf sich hat. Mit dem Blick des kranken, bettlägerigen Autors durchdringt er nach und nach die Oberfläche des Beziehungsgeflechts und stößt in den darunter liegenden Schichten auf den eigentlichen Antrieb des Menschen: seine Leidenschaften und Begierden. Es ist das Unerhörte, in dem der Mensch den Menschen findet und wieder verliert.

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kommt so monumental, so verwirrend wie die Gesellschaft selbst daher. Was sollen die überlangen Sätze und die verschachtelte Struktur? Anfangs bleibt das Werk eher unverständlich. Doch je weiter der Leser sich vorwagt, ohne Geduld und Mut zu verlieren, desto mehr begreift er den Zusammenhang zwischen Sprache und Erzählung, zwischen den Bildern der Handlung und eigenen Gedanken, die er sich über Orte und Figuren macht. Er taucht ein in die Welt, fremd und fern, doch seltsam vertraut. Die Welt der menschlichen Gesellschaft.

Die Vergangenheit beschreibt die Gegenwart

Zwar ist bei Proust die Welt in den französischen Adelskreisen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt. Doch das Buhlen um Anerkennung, Freundschaft und Förderung, die Angst vor Ausgrenzung, Ablehnung und üblem Gerede ist auch heute allgegenwärtig. Selbst wenn sein Roman inzwischen mehr als einhundert Jahre alt ist, beschreibt Proust de facto jede menschliche Gesellschaft. Denn das Spielen von Rollen, die Verleugnung des wirklichen Lebens, das Herumscharwenzeln, um sich gegenseitig doch zu erkennen und das Fallen von Masken in manchen Situationen, sind auch den Menschen im Hier und Jetzt bestens vertraut.

Wenn der Ich-Erzähler sich danach sehnt, in die adlige Gesellschaft seiner Zeit aufgenommen zu werden, wird der Leser gewahr, wie sehr er selbst darum kämpft, dazuzugehören. Es ist fast ein persönlicher Erfolg, als der Autor es endlich schafft, eine Einladung in einen bekannten Salon zu erhalten. Staunend tritt er ein und der Leser staunt mit ihm.

Es eröffnet sich eine geheimnisvolle Welt, die bisher hinter undurchdringlichen Türen fest verschlossen war. Der Erzähler wird in diese Welt eingeführt und verweilt von nun an in ihr. Es ist ihm ein großes Vergnügen und er ist stolz von den Menschen, die er bewundert, anerkannt zu sein. Eine Weile genießt er den Umgang und der Leser mit ihm.

Bald setzt jedoch Ernüchterung ein. Was sind das für Gespräche? Worum geht es eigentlich? Die Herzogin von Guermantes, die der Erzähler angehimmelt hat und deren Erscheinen auf der Straße er lange nicht hatte abwarten können, entpuppt sich als charmante, aber auch ein wenig langweilige Gastgeberin. Die Empfänge in ihrem Salon sind Rituale, die feste und erstarrte Regeln befolgen. Gespräche sind eine Aneinanderreihung leerer Floskeln. Besonders deutlich wird dies später im Roman bei der Diskussion über die Dreifuß-Affäre. Ausgetauscht werden Allgemeinplätze. Jeder vertritt eine Meinung, auf der er beharrt. Es gibt keinen großen Unterschied zu einer Stammtischdiskussion über die Politik der Gegenwart.

Die Leiden der Eifersucht

Proust entwickelt sich immer mehr vom Teilnehmer zum Beobachter der Gesellschaft. Er hat sein Ziel erreicht, bald werden seine Besuche in den Salons zur verpflichtenden Routine. Selbst am Strand in Combray holt ihn die Last seiner Bekanntschaften ein. Wobei er mit Baron de Charlus auf eine interessante Persönlichkeit trifft, die im weiteren Verlauf des Romans eine herausragende Stellung einnehmen wird. Denn dieser Charlus ist nicht das, was er vorgibt zu sein. 

Doch zunächst lernt der Ich-Erzähler die Leiden der Eifersucht kennen. Er versuchte seine Geliebte Albertine einzusperren, damit sie immer bei ihm ist. Geht sie aber aus, ist er unruhig und vergeht vor Phantasien, mit welchen anderen Männern sie sich vergnügt. Sehen sie sich wieder, macht er ihr bittere Vorwürfe. Sie hält es nicht lange mit ihm aus, während für Proust die Eifersucht ein tiefes Gefühl ist.

Wo finden wir einen Menschen, wo verlieren wir ihn wieder? Für Proust sind es die Leidenschaften, die Menschen zusammenbringen oder trennen. Wie bei Swann, der aus Eifersucht unstandesgemäß geheiratet hat und dafür von der Gesellschaft missachtet wird.

Baron de Charlus geht einen anderen Weg. Er spielt die Rolle des männlichsten Mannes. Bis er in einer Schlüsselszene des Romans einer zufälligen Bekanntschaft sein wahres Ich enthüllt. Die beiden schwulen Männer erkennen sich und verschwinden in einer Wohnung im Hinterhof.

Ein langer Weg für Autor und Leser

Es ist der Schein, den Proust nach und nach aufdeckt. Selbst langjährige Freundschaft ist in der Gesellschaft nichts als Schein. Denn als der todkranke Swann einen letzten Besuch bei seiner Freundin, der Herzogin von Guermantes, macht, wird er aus Zeitgründen hinauskomplimentiert. Allerdings hat die Herzogin genug Zeit, um die Schuhe zu wechseln, damit sie zu ihrem Kleid passen. Diese roten Schuhe der Herzogin von Guermantes sind das Symbol schlechthin für die Oberflächlichkeit in den Beziehungen der Menschen. 

Tatsächlich ist es die Zeit, die alternde Gesellschaft, die sich selbst entblößt. Als der Ich-Erzähler nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt zurückkehrt, ist er entsetzt über das greise Aussehen seiner Bekannten. Bis er zufällig in einen Spiegel blickt und sich selbst im Alter erkennt.

Vielleicht lehrt die Zeit den Menschen, dass er nie auf der Suche nach anderen ist, sondern immer nur nach sich. Die Gesellschaft mag zerfallen, wie bei Proust durch den Ersten Weltkrieg. Der Autor hat aus diesem Grund sein Werk um einen weiteren Band fortgeführt. Nur, um die von ihm beschriebene Gesellschaft endgültig zu zertrümmern. Der alternde Baron de Charlus verliert im Sado-Maso Club den letzten Rest seiner Würde. Die Unzulänglichkeiten der Gesellschaft treten in aller Brutalität zu Tage.

Es ist ein langer Weg für Proust und seine Leser vom neugierig tastenden Eintritt in die Gesellschaft über das genaue Kennenlernen und die spürbare Langeweile bis zu ihrem Untergang durch Alter, Krieg und Tod.

Der Mensch jagt auf der Suche nach Menschen an ihm vorbei. Denn es sind nur Vorstellungen, um derentwillen er sein Leben führt. Und diese Vorstellungen erweisen sich allzu oft als Chimären. Während am Wegesrand die eine oder andere Blume erblüht, an der die Menschen meist achtlos vorübergehen.

Erst im Rückblick erkennen sie, was sie hatten und was sie übersehen haben. Es sind die eigenen Unzulänglichkeiten, an denen sie scheitern und die sie in die Gesellschaft tragen, die schließlich nur das Produkt all der Menschen ist, die sie ausmacht. Allein durch die menschlichen Schwächen ist die Suche nach Menschen vergebens. Denn sie suchen nach vollkommenen Menschen und finden doch immer nur Teile, während anderes sie abstößt oder ihnen Schwierigkeiten bereitet.

Der Erste Weltkrieg ist der alles entscheidende Wendepunkt

Exemplarisch macht Proust das in der Person des Baron des Charlus deutlich. Er tritt als arroganter alles beherrschender Mann auf und ist hinter der Maske seiner Rolle doch mehr als unglücklich. Folgerichtig reißt ihm der Erzähler am Ende des Romans die Maske vom Gesicht und es bleibt nur noch ein alter, viel zu dick geschminkter Mann, der sein Leben damit verschwendet hat, sich zu verstecken und aus seinem Versteck heraus nach Menschen zu suchen, denen er sich zu erkennen geben durfte. Der Gesellschaft untergeordnet, die er selbst mitbegründet hat.

Dadurch wird deutlich, dass nicht der Mensch im Mittelpunkt steht sondern die Intuition, die Gesellschaft als solche. Oder mit anderen Worten: die Masse. Der einzelne Mensch genießt nur manchmal ihre Gunst. Für einen kurzen Moment wird er zu ihrer Inkarnation, zu der Gestalt, die von der Masse gewollt ist. Ein wenig später sind die fünf Minuten seines Ruhms auch schon wieder vorbei.

Bei Proust ist der alles entscheidende Wendepunkt der Erste Weltkrieg. Er verändert alles. Die Gesellschaft huldigt neuen Günstlingen. Der Adel geht als führende Schicht unter und verharrt in starren Ritualen und Erinnerungen. So enden nicht nur individuelle Leben. Eine ganze Epoche findet einen jähen Abschluss im Untergang des alten Europa.

Nur eines ändert sich nicht: Der Mensch ist noch immer verzweifelt auf der Suche nach Menschen.

Wo findet er ihn in der heutigen Gesellschaft? Wo verliert er ihn wieder? Die Fragestellungen bleiben dieselbe. Insoweit ist der Roman von Marcel Proust auch in unserer Zeit sehr aktuell. Er löst die Fragen natürlich nicht. Aber er gibt Hinweise. Und das auf eine sehr tiefgründige, lesenswerte Art. Hat der Leser sich erst an Prousts Stil gewöhnt, sind die rund viertausend Seiten „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ein wahrer Genuss und keine – verlorene Zeit.

Dienstag, 31. Januar 2023

Die Masse kreiert Werte aus dem kollektiven Strom

 

Einer Discokugel nicht unähnlich, fließt der kollektive Strom durch eine Gesellschaft und transportiert seine Werte
Werte bilden das Gerüst eine Gesellschaft. Aber eines, dass oft erweitert und umgebaut wird. Dadurch ist es nur bedingt verlässlich. Deshalb prallen verschiedene Generationen aufeinander. Sie leben nach unterschiedlichen Werten. Sicher gibt es Überschneidungen, aber ebenso gewaltige Unterschiede. Die sind auf die Trends zurückzuführen, kreiert von der Masse aus dem kollektiven Strom.

Die Kulturindustrie ist ein wichtiger Partner bei der Vermittlung von Werten

Auch Massen sind zu differenzieren. Sie setzen sich fortlaufend neu zusammen. Dabei gibt es zwei Hauptgruppe von Massen: welche, die sich bewusst zusammen finden und Massen, die sich zufällig ordnen. Oft erfüllen Massen auch beide Voraussetzungen. So sind die Mitglieder einer Partei eine organische Masse, auch wenn sie sich nicht immer einig sind. Doch sie agieren nach einheitlich Regeln und Werten. Dagegen sind die Besucher eines Konzerts zwar eine Masse, die sich zu einem bestimmten Zweck zusammengefunden hat, aber sie haben außer dem Musik Geschmack nichts gemeint. Nur im Konzert selbst agieren die Besucher als Masse, die schon in der Pause zerfällt.

Das Wesen der Masse ist ihre Unbeständigkeit. Das liegt daran, weil die Masse selbst keine Werte vertritt. Sie ist Empfänger und Übermittler von Werten, die ihren Angehörigen vertraut sind. Zum einen schöpft sie aus dem kollektiven Strom, darüber hinaus nimmt sie Werte einzelner Menschen auf und verbreitet sie innerhalb der Gruppe. Dabei ist wiederum die Kulturindustrie ein wichtiger Partner bei der Vermittlung von Werten. Sie ermöglicht es, dass kleine Gruppen und sogar einzelne Werte setzen können, solange sie sich bei ihr Gehör verschaffen. Doch auch diese Werte fallen natürlich nicht vom Himmel, sondern sind Fundstücke aus dem kollektiven Strom.

Erinnerung ist eine wichtige Eigenschaft des kollektiven Stroms. Er bewahrt, was war, über einen sehr langen Zeitraum. Seine Speicher sind Aufzeichnungen, fossile Ablagerungen, klimatische Rückstände, mündliche und kulturelle Überlieferungen, Bilder, archäologische Funde, Kunst und Experimente. Das Zusammentragen der menschlichen Herkunft schärft den Blick auf Werte und dokumentiert deren Entwicklung. Besonders in der Bestrafung bei Überschreitung von Werten blickt der Mensch auf sich selbst. Denn häufig sind es nicht die Werte, die sich verändern, sondern der Umgang mit Wertverlust. Diebstahl, Raub und Todschlag wurden schon immer bestraft. Doch heute werden Motivation und Verfassung des Täters berücksichtigt. Es gibt Hoffnung für ihn. Auch hier zeigt sich der gesellschaftliche Blick auf Minderheiten, der Gründe für Nachsicht und Förderung sucht. Früher wurden Randgruppen auf die ein oder andere Weise aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Im Moment geht es um Schutz und Integration.

Heute ist Gewaltfreiheit ein hoher Wert

Dieser Wertewandel war ein langer Prozess, der viele Opfer gekostet hat. Auf das Extrem des Völkermords folgt ein Schutzrecht für alle Menschen. Gerade kommen so wenig Menschen die noch nie in der menschlichen Geschichte gewaltsam ums Leben. Bedeutet das, Werte wandeln sich von einem Ansatz, den Menschen zu zähmen und zu züchtigen, ihn regelrecht zu bekämpfen, um seine Seele zu retten, zu einer lebensbejahenden Freiheitlichkeit, die den Menschen per se als wertvolles Wesen betrachtet?

Der Mensch ist Nutznießer einer Entwicklung, die erst fast unmerklich, dann drastisch sein Leben verändert hat und weiter verändert. Das betrifft vor allem die Notwendigkeit des Lebens: die Arbeit für den Lebensunterhalt. Diese Arbeit macht heutzutage bei vielen nur noch einen Bruchteil der tatsächlichen Arbeitszeit aus. Selbst Geringverdiener arbeiten einen beträchtlichen Teil für Güter, die nicht unbedingt notwendig sind. In vielen Teilen der Welt können sich die Menschen über ihren notwendigen Lebensunterhalt hinaus viele Dinge leisten. Der Warenaustausch ist global organisiert, so dass die Verbraucher relativ gleichmäßig davon partizipieren. Damit entfällt ein wichtiger Grund für Gewaltanwendung. Wem genug zum Leben und darüber hinaus zur Verfügung steht, muss sich Dinge nicht gewaltsam beschaffen. Im Gegenteil: Gesellschaften, in denen die meisten Menschen immer weniger für ihren notwendigen Lebensunterhalt arbeiten müssen, erheben Gewaltfreiheit zu einem sehr hohen Wert, weil sie Sicherheit in der Dingwelt bietet, die alle Besitzer schützt.

Wieso kommt es trotzdem zu Gewalt? Abgesehen von grundsätzlich gewaltbereiten Menschen, die es in jeder Gesellschaft gibt, ist für einige Gewalt Teil ihrer für den Lebensunterhalt notwendigen Arbeit. Es lockt Reichtum, zum Beispiel im Drogen – oder Menschenhandel. In diesen Nischen besteht Nachfrage, entsprechend aktiv sind auch Lieferanten.

Werte müssen akzeptiert sein

Darüber hinaus entsteht Gewalt hauptsächlich aus ethnischen, religiösen sowie politischen Gründen. Ebenso zählt das Bestreben von Staaten dazu, Territorien und Einflussbereiche zu erhalten oder zu erweitern. Im weitesten Sinne sind auch dein Verteilungskämpfe, die sicherstellen, dass es innerhalb einer Gesellschaft ausreichend Güter und Arbeit gibt. Dementsprechend ist Gewalt Ausdruck ungleiche Verteilung auf verschiedenen Ebenen. Selbst ethnische und religiöse Konflikte zeigen Ängste innerhalb einer Gesellschaft vor Verlust der lebensnotwendigen Dinge. Gewalt dokumentiert Ungleichheit. Sie stellt einen Verlust von Werten dar, beziehungsweise ihre Anpassung an eine gewaltbereite Umgebung.

Werte erhalten ihre Gültigkeit durch die Akzeptanz der Menschen. So gesehen kann auch Gewalt einen Wert darstellen. Die Masse setzt die Werte durch ihr Verhalten.

Doch obwohl es möglich ist, Werte frei zu wählen, gibt der kollektive Strom nur diejenigen Werte frei, die der Entwicklung einer Gesellschaft nützlich sind. Das ist schwer zu verstehen. Ganz besonders mit Blick auf die beiden Weltkriege. Millionen Menschen starben und es gab unglaubliche Gräueltaten. Wie konnte es zu diesem Wertewandel kommen?

Mittwoch, 25. Januar 2023

Werte laufen ins Leere

 

Menschen laufen durch die Matrix der Werte und versuchen sich daran innherhalb einer Geellschaft zu orientiren
Einen großen Anteil daran hat auch die digitale Wirtschaft in Form des Überwachungskapitalismus, dessen größter Wert die ständige online Präsenz der Nutzer ist. Daraus zieht er seine Daten und daran verdient er. Doch die ständige Präsenz hat ihren Preis: Sie kostet Zeit, sehr viel Zeit. Immer mehr Tätigkeiten werden auf die Verbraucher abgewälzt. Rechnungen ausdrucken, Waren zurücksenden, Informationen einholen und vieles mehr. Und wir sind wieder zurück auf der Jagd und beim Sammeln.

Es sind gerade die Notwendigkeit des Lebens, die den Menschen von der digitalen Wirtschaft nicht abgenommen werden. Sie bewirkt vor allem zwei entscheidende Entwicklungen: Die digitale Wirtschaft schafft ein unglaublich vielfältiges Angebot, das dazu führt, dass mehr und mehr Zeit für die Notwendigkeit eines Lebens aufgewendet werden müssen. Zum anderen fördert sie die Entstehung leerer Werte.

Von größerem Interesse ist der zweite Punkt, da er unmittelbar dem Punkt eins zuarbeitet.

Eine neue Dimension des menschlichen Lebens

Die wichtigste Frage lautet: Was macht das Internet interessant genug, dass es das Leben einzelner Menschen und dadurch die Entwicklung der Menschheit insgesamt prägt? Die Antwort kann nur lauten: Es entspricht den menschlichen Bedürfnissen. Das Internet verbindet alles miteinander, lässt die Welt zusammenwachsen. Mit anderen Worten: Der Cyberspace schafft eine neue Dimension des menschlichen Lebens. Er fasziniert schlichtweg. Für viele ist er eine bunte Welt voller Möglichkeiten, die zum Spielen einlädt. Sie sehen nicht, dass ihre Daten analysiert und bewertet werden oder es ist ihnen egal. Das Internet beschäftigt die Menschen und gibt ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein. Wir alle sind doch eigentlich eine große glückliche Familie. Leider ist das eine Lüge – wie in den meisten Familien.

Die Nutzer werden abgezockt, ihre Daten verkauft und zur Manipulation ihres Kauf- und Wahlverhaltens verwendet. Staaten und Unternehmen wenden große Mittel auf, Menschen online zu bestimmtem Denken und Handeln zu bewegen. Auf diese Weise kommt es versteckt zur Produktion leerer Werte.

Ein harmloses Beispiel: Wer auf einer Onlineplattform tausend Freunde hat, von denen ihm fünfhundert mit bunten Animationen zum Geburtstag gratulieren, freut sich vielleicht darüber. Doch was zählen die Glückwünsche von fünfhundert Freunden? Begriffe wie Freunde, Aufmerksamkeit und Geburtstag werden neu definiert. Noch sind sie dadurch keine leeren Werte, aber vielleicht schon auf dem Weg dorthin.

Werte werden entleert

Ein paar Schritte weiter sind zum Beispiel die Olympischen Spiele entwertet. Von ihrem einstigen Anspruch, die Jugend der Welt zu sportlichem Wettkampf zusammenzubringen, bleibt nur ein floskelhafte leerer Wert. Längst sind die Spiele zu profisportlichen Events geworden, die auch regelmäßig zu politischen Zwecken missbraucht werden. Von friedlichen, fairen und gleichen Wettkämpfen keine Spur mehr.

Immer dort, wo es um politische und wirtschaftliche Interessen geht, werden Werte entleert. Wie bei den Ladenöffnungszeiten sowie den Öffnungszeiten am Sonn- und Feiertagen. Es stehen nicht die Familien im Vordergrund, sondern kommerzielle Interessen. Natürlich gewöhnen sich die Menschen daran und natürlich lernen sie zu schätzen, noch nachts einkaufen zu können. Insofern tragen sie zum entleeren der Werte bei. Aber haben Sie eine Wahl?

Auch die Demokratie ist ein Wert, der sich allmählich entleert. Wenige engagieren sich noch. Die Wahlen sind ein steifes Ritual, bei dem das Ergebnis durch immer bessere Umfragen schon lange vorher weitgehend bekannt ist. Politische Themen werden durch Lobbygruppen sowie Werbung und Public Relations gesetzt. Seit Jahren schon wird Wahlkampf ohne konkrete Inhalte geführt. Es wirkt gerade so, als würden Inhalte von den Bürgern fern gehalten. Das Schlimmste aber ist, dass sich anscheinend niemand darum schert.

Auch so ein Wert, der ins Leere läuft: Nur wenige übernehmen noch Verantwortung für die Gesellschaft über die berufliche Tätigkeit hinaus. Es lohnt sich in den Augen der Bürger nicht. Zu sehr haben Bürokratie, Lobbyismus und Wirtschaft das Land in ihrem Griff. Sie treten Werte mit Füßen und erwarten nur, dass sie von anderen eingehalten werden.

Die Anbiederung des menschlichen Denkens

Da ist er wieder, der Blick der anderen. Aber diese anderen sind keine Menschen mehr, sondern Körperschaften, wie Verwaltung und Unternehmen, die sich verselbstständigen. Bald wird mit künstlicher Intelligenz ein neuer Spieler auftreten, der die Menschen mit dem Blick des anderen belegt, um ihnen einen Willen aufzudrängen. Erstmals wird es der Wille von Maschinen sein. Zunächst im Auftrag und unter der Kontrolle von Menschen, die für Staaten und Unternehmen arbeiten. Irgendwann mehr und mehr autonom.

Welche Auswirkungen wird diese Entwicklung auf das Entstehen und Vergehen von Werten haben? Einen Vorgeschmack bekommt die Menschheit durch das Internet. Dort gelten andere Werte, die auch durch die Anonymität im Netz ermöglicht werden. Follower, Likes und Kommentare werden gekauft. Wettbewerbsprodukte erhalten schlechte und natürlich auch gekaufte Bewertungen. Privates Leben wird öffentlich zur Schau gestellt. Es zählt allein die Zahl an Klicks. Sie stellen einen Wert an sich dar. Denn ein Klick zeigt Interesse. Er ist so etwas wie ein Schulterklopfen, ein virtuelles „gut gemacht“, das demonstriert, da könnte ein Inhalt von allgemeinen Interesse sein, der Aufmerksamkeit verdient.

Wie erhält jemand diese Klicks? Durch Aufarbeitung seiner Inhalte für die Masse und für die Maschinen. Ein Zauberwort der Internetwelt heißt Suchmaschinenoptimierung (SEO). Die Anbiederung des menschlichen Denkens an die Vorgaben von Algorithmen. Wer seine Sache dabei gut macht, darf sich über einen Platz an der Spitze von Suchergebnissen freuen – und über mehr Zuspruch für seinen Auftritt im Internet. Folglich sind viele Menschen zu fast allem bereit, um diesen „Platz an der maschinellen Sonne“ zu erreichen und möglichst lange zu behalten.

Der Masse fällt zunehmend Macht zu

Der Wert von Inhalten im Internet wird durch das Verhalten von Massen bestimmt. Es wird nicht nur beziffert, sondern auch bedient. Im Streben nach Bekanntheit und Erfolg zählt im Internet nicht Können, es zählt die Fähigkeit, um jeden Preis Menschen auf die eigene Seite zu ziehen und dort so lange es geht festzuhalten.

Der Masse fällt im Internet eine zunehmende Macht zu. Weil sie dort nicht gezähmt, sondern umworben wird. Sie ist erstmals zu einem Wert an sich geworden. Zwar stellt die Masse nichts her, aber ihr Verhalten beeinflusst Herstellung und gibt Vorgaben, deren Einhalten über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Ihre Migrationsbewegungen verteilen Anerkennung und Geld. Auf diese Weise kontrollieren Sie die Herstellung im Internet.

Es ist ein Zusammenspiel zwischen Masse und kollektiven Strom. Letzterer liefert die Stichworte, während Erstere daraus Trends formt. Natürlich ist das eine allmähliche Entwicklung, die mit vielen Irrungen und Wirrungen, Wenden und Rücknamen verbunden ist. Doch im Kräftespiel der Stichworte bilden sich fortwährend Trends als würden sich aus einem Topf Nudelsuppe ständig neue Worte zusammensetzen. Eine Zeit lang werden sie häufig benutzt, dann geraten sie in Vergessenheit.