Dienstag, 31. Januar 2023

Die Masse kreiert Werte aus dem kollektiven Strom

 

Einer Discokugel nicht unähnlich, fließt der kollektive Strom durch eine Gesellschaft und transportiert seine Werte
Werte bilden das Gerüst eine Gesellschaft. Aber eines, dass oft erweitert und umgebaut wird. Dadurch ist es nur bedingt verlässlich. Deshalb prallen verschiedene Generationen aufeinander. Sie leben nach unterschiedlichen Werten. Sicher gibt es Überschneidungen, aber ebenso gewaltige Unterschiede. Die sind auf die Trends zurückzuführen, kreiert von der Masse aus dem kollektiven Strom.

Die Kulturindustrie ist ein wichtiger Partner bei der Vermittlung von Werten

Auch Massen sind zu differenzieren. Sie setzen sich fortlaufend neu zusammen. Dabei gibt es zwei Hauptgruppe von Massen: welche, die sich bewusst zusammen finden und Massen, die sich zufällig ordnen. Oft erfüllen Massen auch beide Voraussetzungen. So sind die Mitglieder einer Partei eine organische Masse, auch wenn sie sich nicht immer einig sind. Doch sie agieren nach einheitlich Regeln und Werten. Dagegen sind die Besucher eines Konzerts zwar eine Masse, die sich zu einem bestimmten Zweck zusammengefunden hat, aber sie haben außer dem Musik Geschmack nichts gemeint. Nur im Konzert selbst agieren die Besucher als Masse, die schon in der Pause zerfällt.

Das Wesen der Masse ist ihre Unbeständigkeit. Das liegt daran, weil die Masse selbst keine Werte vertritt. Sie ist Empfänger und Übermittler von Werten, die ihren Angehörigen vertraut sind. Zum einen schöpft sie aus dem kollektiven Strom, darüber hinaus nimmt sie Werte einzelner Menschen auf und verbreitet sie innerhalb der Gruppe. Dabei ist wiederum die Kulturindustrie ein wichtiger Partner bei der Vermittlung von Werten. Sie ermöglicht es, dass kleine Gruppen und sogar einzelne Werte setzen können, solange sie sich bei ihr Gehör verschaffen. Doch auch diese Werte fallen natürlich nicht vom Himmel, sondern sind Fundstücke aus dem kollektiven Strom.

Erinnerung ist eine wichtige Eigenschaft des kollektiven Stroms. Er bewahrt, was war, über einen sehr langen Zeitraum. Seine Speicher sind Aufzeichnungen, fossile Ablagerungen, klimatische Rückstände, mündliche und kulturelle Überlieferungen, Bilder, archäologische Funde, Kunst und Experimente. Das Zusammentragen der menschlichen Herkunft schärft den Blick auf Werte und dokumentiert deren Entwicklung. Besonders in der Bestrafung bei Überschreitung von Werten blickt der Mensch auf sich selbst. Denn häufig sind es nicht die Werte, die sich verändern, sondern der Umgang mit Wertverlust. Diebstahl, Raub und Todschlag wurden schon immer bestraft. Doch heute werden Motivation und Verfassung des Täters berücksichtigt. Es gibt Hoffnung für ihn. Auch hier zeigt sich der gesellschaftliche Blick auf Minderheiten, der Gründe für Nachsicht und Förderung sucht. Früher wurden Randgruppen auf die ein oder andere Weise aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Im Moment geht es um Schutz und Integration.

Heute ist Gewaltfreiheit ein hoher Wert

Dieser Wertewandel war ein langer Prozess, der viele Opfer gekostet hat. Auf das Extrem des Völkermords folgt ein Schutzrecht für alle Menschen. Gerade kommen so wenig Menschen die noch nie in der menschlichen Geschichte gewaltsam ums Leben. Bedeutet das, Werte wandeln sich von einem Ansatz, den Menschen zu zähmen und zu züchtigen, ihn regelrecht zu bekämpfen, um seine Seele zu retten, zu einer lebensbejahenden Freiheitlichkeit, die den Menschen per se als wertvolles Wesen betrachtet?

Der Mensch ist Nutznießer einer Entwicklung, die erst fast unmerklich, dann drastisch sein Leben verändert hat und weiter verändert. Das betrifft vor allem die Notwendigkeit des Lebens: die Arbeit für den Lebensunterhalt. Diese Arbeit macht heutzutage bei vielen nur noch einen Bruchteil der tatsächlichen Arbeitszeit aus. Selbst Geringverdiener arbeiten einen beträchtlichen Teil für Güter, die nicht unbedingt notwendig sind. In vielen Teilen der Welt können sich die Menschen über ihren notwendigen Lebensunterhalt hinaus viele Dinge leisten. Der Warenaustausch ist global organisiert, so dass die Verbraucher relativ gleichmäßig davon partizipieren. Damit entfällt ein wichtiger Grund für Gewaltanwendung. Wem genug zum Leben und darüber hinaus zur Verfügung steht, muss sich Dinge nicht gewaltsam beschaffen. Im Gegenteil: Gesellschaften, in denen die meisten Menschen immer weniger für ihren notwendigen Lebensunterhalt arbeiten müssen, erheben Gewaltfreiheit zu einem sehr hohen Wert, weil sie Sicherheit in der Dingwelt bietet, die alle Besitzer schützt.

Wieso kommt es trotzdem zu Gewalt? Abgesehen von grundsätzlich gewaltbereiten Menschen, die es in jeder Gesellschaft gibt, ist für einige Gewalt Teil ihrer für den Lebensunterhalt notwendigen Arbeit. Es lockt Reichtum, zum Beispiel im Drogen – oder Menschenhandel. In diesen Nischen besteht Nachfrage, entsprechend aktiv sind auch Lieferanten.

Werte müssen akzeptiert sein

Darüber hinaus entsteht Gewalt hauptsächlich aus ethnischen, religiösen sowie politischen Gründen. Ebenso zählt das Bestreben von Staaten dazu, Territorien und Einflussbereiche zu erhalten oder zu erweitern. Im weitesten Sinne sind auch dein Verteilungskämpfe, die sicherstellen, dass es innerhalb einer Gesellschaft ausreichend Güter und Arbeit gibt. Dementsprechend ist Gewalt Ausdruck ungleiche Verteilung auf verschiedenen Ebenen. Selbst ethnische und religiöse Konflikte zeigen Ängste innerhalb einer Gesellschaft vor Verlust der lebensnotwendigen Dinge. Gewalt dokumentiert Ungleichheit. Sie stellt einen Verlust von Werten dar, beziehungsweise ihre Anpassung an eine gewaltbereite Umgebung.

Werte erhalten ihre Gültigkeit durch die Akzeptanz der Menschen. So gesehen kann auch Gewalt einen Wert darstellen. Die Masse setzt die Werte durch ihr Verhalten.

Doch obwohl es möglich ist, Werte frei zu wählen, gibt der kollektive Strom nur diejenigen Werte frei, die der Entwicklung einer Gesellschaft nützlich sind. Das ist schwer zu verstehen. Ganz besonders mit Blick auf die beiden Weltkriege. Millionen Menschen starben und es gab unglaubliche Gräueltaten. Wie konnte es zu diesem Wertewandel kommen?

Mittwoch, 25. Januar 2023

Werte laufen ins Leere

 

Menschen laufen durch die Matrix der Werte und versuchen sich daran innherhalb einer Geellschaft zu orientiren
Einen großen Anteil daran hat auch die digitale Wirtschaft in Form des Überwachungskapitalismus, dessen größter Wert die ständige online Präsenz der Nutzer ist. Daraus zieht er seine Daten und daran verdient er. Doch die ständige Präsenz hat ihren Preis: Sie kostet Zeit, sehr viel Zeit. Immer mehr Tätigkeiten werden auf die Verbraucher abgewälzt. Rechnungen ausdrucken, Waren zurücksenden, Informationen einholen und vieles mehr. Und wir sind wieder zurück auf der Jagd und beim Sammeln.

Es sind gerade die Notwendigkeit des Lebens, die den Menschen von der digitalen Wirtschaft nicht abgenommen werden. Sie bewirkt vor allem zwei entscheidende Entwicklungen: Die digitale Wirtschaft schafft ein unglaublich vielfältiges Angebot, das dazu führt, dass mehr und mehr Zeit für die Notwendigkeit eines Lebens aufgewendet werden müssen. Zum anderen fördert sie die Entstehung leerer Werte.

Von größerem Interesse ist der zweite Punkt, da er unmittelbar dem Punkt eins zuarbeitet.

Eine neue Dimension des menschlichen Lebens

Die wichtigste Frage lautet: Was macht das Internet interessant genug, dass es das Leben einzelner Menschen und dadurch die Entwicklung der Menschheit insgesamt prägt? Die Antwort kann nur lauten: Es entspricht den menschlichen Bedürfnissen. Das Internet verbindet alles miteinander, lässt die Welt zusammenwachsen. Mit anderen Worten: Der Cyberspace schafft eine neue Dimension des menschlichen Lebens. Er fasziniert schlichtweg. Für viele ist er eine bunte Welt voller Möglichkeiten, die zum Spielen einlädt. Sie sehen nicht, dass ihre Daten analysiert und bewertet werden oder es ist ihnen egal. Das Internet beschäftigt die Menschen und gibt ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein. Wir alle sind doch eigentlich eine große glückliche Familie. Leider ist das eine Lüge – wie in den meisten Familien.

Die Nutzer werden abgezockt, ihre Daten verkauft und zur Manipulation ihres Kauf- und Wahlverhaltens verwendet. Staaten und Unternehmen wenden große Mittel auf, Menschen online zu bestimmtem Denken und Handeln zu bewegen. Auf diese Weise kommt es versteckt zur Produktion leerer Werte.

Ein harmloses Beispiel: Wer auf einer Onlineplattform tausend Freunde hat, von denen ihm fünfhundert mit bunten Animationen zum Geburtstag gratulieren, freut sich vielleicht darüber. Doch was zählen die Glückwünsche von fünfhundert Freunden? Begriffe wie Freunde, Aufmerksamkeit und Geburtstag werden neu definiert. Noch sind sie dadurch keine leeren Werte, aber vielleicht schon auf dem Weg dorthin.

Werte werden entleert

Ein paar Schritte weiter sind zum Beispiel die Olympischen Spiele entwertet. Von ihrem einstigen Anspruch, die Jugend der Welt zu sportlichem Wettkampf zusammenzubringen, bleibt nur ein floskelhafte leerer Wert. Längst sind die Spiele zu profisportlichen Events geworden, die auch regelmäßig zu politischen Zwecken missbraucht werden. Von friedlichen, fairen und gleichen Wettkämpfen keine Spur mehr.

Immer dort, wo es um politische und wirtschaftliche Interessen geht, werden Werte entleert. Wie bei den Ladenöffnungszeiten sowie den Öffnungszeiten am Sonn- und Feiertagen. Es stehen nicht die Familien im Vordergrund, sondern kommerzielle Interessen. Natürlich gewöhnen sich die Menschen daran und natürlich lernen sie zu schätzen, noch nachts einkaufen zu können. Insofern tragen sie zum entleeren der Werte bei. Aber haben Sie eine Wahl?

Auch die Demokratie ist ein Wert, der sich allmählich entleert. Wenige engagieren sich noch. Die Wahlen sind ein steifes Ritual, bei dem das Ergebnis durch immer bessere Umfragen schon lange vorher weitgehend bekannt ist. Politische Themen werden durch Lobbygruppen sowie Werbung und Public Relations gesetzt. Seit Jahren schon wird Wahlkampf ohne konkrete Inhalte geführt. Es wirkt gerade so, als würden Inhalte von den Bürgern fern gehalten. Das Schlimmste aber ist, dass sich anscheinend niemand darum schert.

Auch so ein Wert, der ins Leere läuft: Nur wenige übernehmen noch Verantwortung für die Gesellschaft über die berufliche Tätigkeit hinaus. Es lohnt sich in den Augen der Bürger nicht. Zu sehr haben Bürokratie, Lobbyismus und Wirtschaft das Land in ihrem Griff. Sie treten Werte mit Füßen und erwarten nur, dass sie von anderen eingehalten werden.

Die Anbiederung des menschlichen Denkens

Da ist er wieder, der Blick der anderen. Aber diese anderen sind keine Menschen mehr, sondern Körperschaften, wie Verwaltung und Unternehmen, die sich verselbstständigen. Bald wird mit künstlicher Intelligenz ein neuer Spieler auftreten, der die Menschen mit dem Blick des anderen belegt, um ihnen einen Willen aufzudrängen. Erstmals wird es der Wille von Maschinen sein. Zunächst im Auftrag und unter der Kontrolle von Menschen, die für Staaten und Unternehmen arbeiten. Irgendwann mehr und mehr autonom.

Welche Auswirkungen wird diese Entwicklung auf das Entstehen und Vergehen von Werten haben? Einen Vorgeschmack bekommt die Menschheit durch das Internet. Dort gelten andere Werte, die auch durch die Anonymität im Netz ermöglicht werden. Follower, Likes und Kommentare werden gekauft. Wettbewerbsprodukte erhalten schlechte und natürlich auch gekaufte Bewertungen. Privates Leben wird öffentlich zur Schau gestellt. Es zählt allein die Zahl an Klicks. Sie stellen einen Wert an sich dar. Denn ein Klick zeigt Interesse. Er ist so etwas wie ein Schulterklopfen, ein virtuelles „gut gemacht“, das demonstriert, da könnte ein Inhalt von allgemeinen Interesse sein, der Aufmerksamkeit verdient.

Wie erhält jemand diese Klicks? Durch Aufarbeitung seiner Inhalte für die Masse und für die Maschinen. Ein Zauberwort der Internetwelt heißt Suchmaschinenoptimierung (SEO). Die Anbiederung des menschlichen Denkens an die Vorgaben von Algorithmen. Wer seine Sache dabei gut macht, darf sich über einen Platz an der Spitze von Suchergebnissen freuen – und über mehr Zuspruch für seinen Auftritt im Internet. Folglich sind viele Menschen zu fast allem bereit, um diesen „Platz an der maschinellen Sonne“ zu erreichen und möglichst lange zu behalten.

Der Masse fällt zunehmend Macht zu

Der Wert von Inhalten im Internet wird durch das Verhalten von Massen bestimmt. Es wird nicht nur beziffert, sondern auch bedient. Im Streben nach Bekanntheit und Erfolg zählt im Internet nicht Können, es zählt die Fähigkeit, um jeden Preis Menschen auf die eigene Seite zu ziehen und dort so lange es geht festzuhalten.

Der Masse fällt im Internet eine zunehmende Macht zu. Weil sie dort nicht gezähmt, sondern umworben wird. Sie ist erstmals zu einem Wert an sich geworden. Zwar stellt die Masse nichts her, aber ihr Verhalten beeinflusst Herstellung und gibt Vorgaben, deren Einhalten über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Ihre Migrationsbewegungen verteilen Anerkennung und Geld. Auf diese Weise kontrollieren Sie die Herstellung im Internet.

Es ist ein Zusammenspiel zwischen Masse und kollektiven Strom. Letzterer liefert die Stichworte, während Erstere daraus Trends formt. Natürlich ist das eine allmähliche Entwicklung, die mit vielen Irrungen und Wirrungen, Wenden und Rücknamen verbunden ist. Doch im Kräftespiel der Stichworte bilden sich fortwährend Trends als würden sich aus einem Topf Nudelsuppe ständig neue Worte zusammensetzen. Eine Zeit lang werden sie häufig benutzt, dann geraten sie in Vergessenheit.

Dienstag, 17. Januar 2023

Kulturindustrie zur Unterhaltung der Masse

 

Alle sitzen vor ihren Bildschirmen und starren auf Inhalte, die sie nicht mehr voneinander unterscheiden können
Werte brauchen Mehrheiten, um gelebt zu werden. Denn wenn nur einer am Freitag im Büro mit Jogginghose herumläuft, ist das lächerlich. Doch sobald mehr mitmachen, wird eine Bewegung daraus, wie der Casual Friday. Ein Demonstrant steht recht verloren auf der Straße. Tausende machen Stimmung und verschaffen ihren Forderungen gehört. So funktionieren Werte: Sie bieten sich der Masse an. Direkt aus dem kollektiven Strom: Dem Durchschnittstypen, der damit das Gesetz in die eigene Hand nehmen kann.

Keine Chance also für Vernunft? Die Masse ist nicht vernünftig. Sie ist laut, vulgär und weitgehend dumm. Doch alle Mächtigen fürchten die Masse, weil sie in letzter Konsequenz von ihrem guten Willen abhängig sind. Es war immer die Masse, die Umstürze und Revolutionen getragen hat. Die Masse entscheidet Wahlen. Sie ist es, um die Politik, Wirtschaft und Religionen buhlen.

Was genau aber ist die Masse?

Zunächst ganz allgemein eine sehr große Zahl von Menschen. Sie wird sichtbar bei Versammlungen, Konzerten, Sportveranstaltungen, Paraden und ähnlichen Ereignissen. Darüber hinaus bleibt sie im Hintergrund. Sie ist der einzelne Mensch vervielfacht. In ihr verwirklichen sich Gedanken in eine Richtung. Als würde tausendfach dasselbe Stück Treibholz aus dem kollektiven Strom gefischt. Der rohe, unreflektierte Wert wird von der Masse angenommen und wiedergegeben. Durch das Denken der einzelnen Menschen.

Der Gedanke, der den Wert trägt, verbreitet sich wie ein geistiges Lebewesen von Wirt zu Wirt. Das dauert seine Zeit, aber er infiziert eine ausreichende Anzahl. Natürlich sind einige Menschen immun und andere werden insofern „geheilt“, dass sie den Gedanken schlichtweg vergessen. Doch wenn ausreichend Menschen angesteckt werden, das heißt beeinflusst, gewinnt der Gedanke, der Wert unmittelbar an Bedeutung.

Um alles ein wenig zu beschleunigen, gibt es die so genannten Multiplikatoren. Stars, Sternchen, Berühmtheiten und selbstverständlich die Medien. Sie alle Bullen ebenso wie Politik, Wirtschaft und Religionen um die Masse. Doch anders als diese wollen Sie die Masse nicht beherrschen. Sie wollen die Kumpel der Masse sein. Gleiche unter Gleichen. Ihr Ziel ist die Verschmelzung mit der Masse, damit die Masse so sein will wie sie. Es geht um Uniformität des die Individualität betonenden Einzelnen als Teil der Masse oder vielleicht besser einer Massenkultur.

Die Kulturindustrie nimmt mehr und mehr Raum ein

Bereits Theodor Adorno sprach in den 1960er Jahren von der Kulturindustrie, deren einzige Aufgabe es sei, die Masse zu unterhalten und damit ruhig zu stellen. Doch auch eine Aufgabe der Propaganda sah er in den Produktionen von Sendeanstalten, Verlagen und Theatern.

Die Idee ist nicht neu. Schon die katholische Kirche vermittelt seit vielen hundert Jahren ihr Glaubens- und Weltbild vor allem durch Kunst, Architektur und Musik. Da die meisten Menschen damals nicht lesen konnten, wurde Ihnen auf diese Weise die Bibel nahe gebracht. Natürlich hatte die Kirche so die Deutungshoheit.

Die Kulturindustrie ist zu allen Seiten nachhaltig. Werke von Bach sind noch immer populär. Bei jedem Vortrag seiner Musik wird die christliche Botschaft verkündet – bis heute. Dasselbe gilt für Gemälde von Michelangelo sowie natürlich die Kirchen und Kathedralen überall in Europa und vielen Teilen der westlichen Welt. Das Medienkonzept der Kirche ist ein ein einzigartiges Propagandainstrument, dass die menschliche Kultur geprägt hat und noch immer prägt. Es übt sogar Einfluss auf Menschen aus, die nicht den christlichen Glauben angehören.

Die geschickte Verknüpfung von religiösen Werten mit medialer Präsenz verleiht der christlichen Kirche große Macht. Deshalb wurde ihr Konzept oft kopiert – von den Monarchien Europas über den Nationalsozialismus und die sozialistischen Diktaturen bis zu der Parteiendemokratie – ohne je erreicht zu werden.

Doch seit geraumer Zeit nimmt die Kulturindustrie mehr und mehr den Raum der Kirche ein. Kirchliche Gebäude dienen ihr sogar inzwischen als Eventlocations. Die Säkularisierung der Gesellschaft ist weit vorangeschritten.

Werte werden zu leeren Worten

Die Werte vieler Religionen werden zu leeren Werten. Das bedeutet, sie sind noch in der Gesellschaft bekannt, doch ihre Beweggründe und Inhalte geraten zunehmend in Vergessenheit. Sie werden zu regelmäßig wiederkehrenden Ereignissen, die wie Weihnachten und Ostern Teil des Brauchtums sind, ohne die Menschen zu bewegen. Im Vordergrund stehen die Feiertage mit Essen, Trinken und ausgelassener Stimmung. Der Wert hat sich von einer religiösen Zeremonie zu einem Volksfest verändert. Leer sind die Werte deshalb, weil ihre Inhalte verloren sind und den typischen Notwendigkeiten des menschlichen Lebens Platz gemacht haben. Der Befriedigung des körperlichen Wohlbefindens.

Je älter eine Gesellschaft ist, desto mehr leere Werte sammeln sich in ihr an. Dabei werden sie oft von einem sinnhaften Tun zu einer sinnfreien Beschäftigung. Das Brauchtum ist ein Beispiel. Trachten und Tänze geben Gesellschaften Identität und Zusammenhalt. Heute sind sie Spektakel für Touristen und ein schwacher Abklatsch der Erinnerung, ein Nachhall früherer Zeiten für die Einheimischen selbst.

Leere Worte sind nichts und bedeuten vielen Menschen doch alles

Die Kulturindustrie fördert diese Entwicklung. So ist das Bild, dass viele Menschen von den Vereinigten Staaten von Amerika haben, grundlegend von der dortigen Filmindustrie geprägt. Sie entwarf die heroische Eroberung des Westens und den so genannten American way of life. Historische Fakten und die tatsächliche Situation des Landes spielten dabei kaum eine Rolle. Dabei wird wird zwar Glaubwürdig verspielt, aber ein Weltbild gewonnen. Die Kulturindustrie hat die Deutungshoheit über die Historie, Gegenwart und Zukunft der Menschheit errungen. Sie füllt leere Werte mit ihren eigenen Inhalten. So konnten auch kirchliche Feiertage zur reinen Konsum festen verkommen.

Die moderne Welt produziert unendlich mehr leere Werte. Vieles ist in Auflösung begriffen. Immer weniger Menschen engagieren sich ehrenamtlich für die Gesellschaft. Kaum jemand setzt sich noch außerhalb der eigenen Belange ein. Der Staat, repräsentiert durch Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Religionen, wird von der überwiegenden Mehrheit als inkompetent angesehen.

Der Schlamassel wird von den leeren Werten verursacht. Sie sind nichts und bedeuten vielen Menschen doch alles. In vorderster Reihe die Ereignisse der Kulturindustrie in Form von Musik, Film, Büchern, Spielen, Theater, Kunst, Events und einigen mehr. Die Menschen lassen sich beschäftigen, aber sie nehmen dadurch nicht aktiv an der Entwicklung ihrer Gesellschaft teil.

Mittwoch, 11. Januar 2023

Online schaltet der Mensch eine Instanz zwischen sich und die Welt

Menschen stehen im Kreis um einen Mittelpunkt und verstehen nicht, weshalb sie ihn umkreisen
Das grelle, brodelnde Leben

Wer sind wir im digitalen Raum? Welche Werte gelten und wie übertragen sie sich in die reale Welt?

Der Unterschied zwischen dem digitalen und dem realen Raum ist folgender: Wir sind der digitale Raum. Er ist der Ort, der nur aus unseren Gedanken besteht. Während der reale Raum auch unsere Dingwelt und die Natur enthält, beinhaltet der Cyberspace ausschließlich die menschliche Fantasie. Insoweit erzählte unsere Geschichte.

Er ist aber auch der Ort, an den wir die reale Welt übertragen. Viele Menschen geben sich unheimlich Mühe, ganze Städte online neu und punktgenau aus Pixeln zu erbauen. Mit ein paar Unterschieden: manche Häuser schweben, Avatare haben Flügel und gelegentlich streunen Drachen durch die Straßen. Ansonsten gibt es Universitäten, Galerien und Bibliotheken, Cafés, Strände, Boutiquen und selbstverständlich – Bordelle. Das grelle, brodelnde Leben.

Nur besser?

Unmittelbarer. Die Menschen erfinden sich ohne Limit neu. Sie können Zauberwesen sein. Vor allem bewegen Sie sich anonym durch einen scheinbar unendlichen Raum der Möglichkeiten.

Doch zu unserem großen Erstaunen bleiben Sie nur sie selbst in neuem Gewand. Aber vielleicht ist das Erstaunen auch gar nicht allzu groß. Was sonst sollten die Menschen sein? Sie sind ihre Natur verhaftet, den Notwendigkeiten ihres Lebens. Also beschaffen sie sich online alles, was sie brauchen. Das Internet ist aus diesem Grund schnell zu einem großen Marktplatz, zu einem globalen Laden geworden. Dort gehen die Menschen in der Sicherheit ihrer Wohnungen auf Schnäppchenjagd. Mit Bestellung verwandeln sich die virtuellen Waren in wirkliche Dinge, die sich die Menschen einverleiben können. Es gibt eine Schnittstelle und die zeigt, dass die online Welt nicht eigenständig ist. Kein Mensch lebt einzig und allein in ihr. Bisher ist der Cyberspace nur eine Erweiterung unserer realen Welt. Möglicherweise wird sich das irgendwann in der Zukunft verändern. Bisher überträgt die Menschheit lediglich ihr Denken und Handeln auf ein neues Medium.

Das führt zu Interessenkonflikten. Termine müssen abgestimmt werden, um die reale mit der virtuellen Welt in Einklang zu bringen. Wer sich in dem fantastischen Metaversum eines Multiplayer online Games einrichtet, wird dort zwar ein Held sein, verliert aber bald den Bezug zu der Dingwelt, in der er die Notwendigkeiten seines körperlichen Lebens erledigen muss. Solange diese Notwendigkeit nicht Teil des Cyberspace werden, bleiben die Menschen zwei geteilt. Zweigeteilt bleiben dann auch die Werte.

Voyeure

In der Anonymität des Internet verhalten sich die Menschen wie unsichtbare Fremde. Ähnlich dem Sartreschen Ich, dass durch das Schlüsselloch schaut. Doch online fällt der Blick des anderen nicht auf das erschrockene Ich eines Menschen. Er fällt auf das virtuelle Ich eines Avatars.

Das ist kein Ich, sondern ein Es. Ein Es, das zwar auf das Ich hinter dem Avatar zurückwirkt, dieses versteckte Ich aber nie unmittelbar erreicht, sondern nur gefiltert über die Anonymität des Rollenspiels.

Online schaltet der Mensch eine Instanz zwischen sich und die Welt. Er nimmt eine neue Identität an, die zwar nichts von den Notwendigkeiten des Lebens wissen kann und sie auch nicht ausführt, dafür aber das Ich hinter der Maske seines Avatars von allen Werten befreit, von denen es sich eingeengt fühlt und von denen es sich befreien will. In gewisser Hinsicht ist der Mensch im Metaversum frei – und nur dort. Es ist mehr als der Blick durch das Schlüsselloch. Er betritt den Raum hinter der Tür, den er in der realen Welt nur beobachten kann und agiert in diesem Raum. Der Mensch schlüpft durch das Schlüsselloch und macht selbst, was er bisher nur sah. Ohne den Blick eines anderen befürchten zu müssen. Der Voyeur wird zu handelten Person, die den Blicken nicht ausweicht, sondern sie auf sich zieht, um sich in ihnen zu sonnen.

Andererseits darf, wer Voyeur sein möchte, es im Internet sein. Das Schlüsselloch ist weit offen und niemand muss heimlich spähen. Die Akteure leben von den Beobachtern. Das zur Schau stellen geschieht mit Absicht und die Zuschauer sind Teil der Inszenierung.

Das Internet schafft neue Werte und lässt die alten hinter sich. Dass „Sie“ stirbt zugunsten des „Du“. Nur eine Folge der digitalen Revolution. Allerdings bringt die Schnittstelle beider Welten Probleme mit sich. Ein Held auf der einen Seite, ein arbeitsloser Nichtsnutz auf der anderen wie passt das zusammen?

Werte prallen aufeinander. Die Internethelden werden irgendwann sehr wütend auf die Welt, die ihre Körper gefangen hält, ihnen aber sonst nichts zu bieten hat. Sie werden eine Onlineheimat fordern, sobald es der Masse möglich sein wird, in der virtuellen Welt ausreichend Geld zu verdienen. Vielleicht als Cyberhausmeister, Metaversumguide und Menschenerklärer für KI–Algorithmen. Es wird Möglichkeiten geben. Eventuell eine neue Staatsbürgerschaft für Avatare und die Menschen hinter ihnen. Ein Online–Finanzsystem und natürlich eine Steuerbehörde.

Auch Roboter befolgen Gesetze

Die Frage wird sein, ob der alte Mensch nur eine neue Welt besiedelt oder ob er bereit ist, eine wirklich neue Welt aufzubauen, in der Werte von Grund auf überholt und anders, der Welt immanent definiert werden.

Schon heute stellt sich diese Frage. Bei autonom fahrenden Autos zum Beispiel. Welche Werte kann ein Programm ihnen geben, um in gefährlichen Situation richtige Entscheidungen zu treffen? Welche Werte gelten, wenn es keine logisch richtige Entscheidung gibt? Je intelligenter künstliche Systeme werden, desto dringender stellt sich die Frage nach Werten. Das schlaueste Schachprogramm beispielsweise: Hat es die leiseste Ahnung von Sportsgeist? Vermutlich nicht. Braucht es das auch nicht oder bestehen wir darauf? Sind unsere Werte nur menschlich oder universell?

Der Science-Fiction Autor Isaak Asimov hat drei Roboter Gesetze formuliert, mit denen er der künstliche Intelligenzwerte zum Schutz der Menschen und ihrer selbst mit gibt. Sie lauten: 

1. Ein Roboter darf kein menschliches Wesen wissentlich verletzen oder durch Untätigkeit wissentlich zulassen, dass ein menschliches Wesen verletzt wird.

2. Ein Roboter muss menschlichen Befehlen Folge leisten – es sei denn, die Ausführung des Befehls kollidiert mit der ersten Regel.

3. Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen – es sei denn, dies kollidiert mit der ersten oder zweiten Regel.

Es ist offensichtlich, worauf diese Regeln hinauslaufen. Roboter sind demnach die modernen Sklaven der Menschheit. Es gibt kein ethisches Problem, da sie nicht als Lebewesen gelten und ihnen keine Gefühle zugestanden werden.

Später hat Asimov ein nulltes Gesetz hinzugefügt, dass Roboter verpflichtet, die Menschheit zu schützen. Allerdings ist das bedenklich, da es ihnen in diesem Fall erlaubt, einzelne Menschen zu töten.

Das Dilemma mit künstlicher Intelligenz zeigt gut das Dilemma mit Werten insgesamt. Ihre Wertigkeit ist eine Frage der Auslegung und dabei kommt es darauf an, wer sie auslegt und zu welchem Zweck.

Da ist es wieder: „Du sollst nicht töten – es sei denn, ich befehle es dir!“

Die Definitionsgewalt über Werte liegt bei denjenigen, der sich mit seiner Sichtweise durchsetzt. Sollte sich morgen jemand zum Kaiser der Welt ernennen lassen wollen, würde er wahrscheinlich früher oder später in der Psychatrie landen. Würden ihn aber zumindest einige Nationen anerkennen, hätte er eine Chance, mit seiner Idee durchzukommen.

Dienstag, 3. Januar 2023

Die modernen Medien verändern den Wertekanon der menschlichen Gesellschaft

 
Ein Fußgänger geht an einem großen Gebäude entlang, aber darf er links oder rechts gehen, welche Werte gelten gerade
Werte werden ständig neu verhandelt

Grundsätzlich sind Werte weder gut noch böse. Sie sind neutral. „Du sollst nicht töten“ ist tatsächlich kein wertvollerer Wert als: „Du sollst jeden Menschen töten, der dir begegnet“. Erst ist die Ausrichtung einer Gruppe oder Gesellschaft lädt Werte mit Wert auf. In vielen Wohlstandsgesellschaften ist beispielsweise der Leistungsgedanke ein hoher Wert. Wer hart und erfolgreich arbeitet, ist meist gut angesehen. Passend dazu stellt auch Geld einen hohen Wert dar, dessen Erwerb alles untergeordnet wird. Oft sogar die eigene Gesundheit. Der von außen sichtbare Wohlstand ist der höchste Wert.

Andererseits werden Werte ständig neu verhandelt. In einer Gesellschaft, in der jeder Mensch über ausreichend Geld verfügt, wird vermutlich der Wert von Freizeit höher gewichtet. Gleiches gilt, wenn es nicht genug Arbeit für alle gibt. Wenn sehr viele Menschen alleine leben, wird der Wert von Familie sinken. Je mehr Menschen ein hohes Alter erreichen, desto wertvoller werden Gesundheits- und Pflegeleistungen. In einer Wissensgesellschaft genießt Bildung einen hohen Wert.

Werte altern und sterben

Andere Werte wie Glaubwürdigkeit und Vertrauen werden ständig untergraben, solange es einer Gesellschaft hauptsächlich um den wirtschaftlichen Aspekt geht. „Krumme Geschäfte“ auf allen Ebenen führen den Menschen tagtäglich die Absurdität eines Staatswesens vor Augen. Schlimmer noch: Es macht sie zu Komplizen, die mehr und mehr auf die ursprünglichen Werte einer Gesellschaft pfeifen. Denn sie werden von Politik und Wirtschaft durch Werbung und Öffentlichkeitsarbeit belogen. So beginnen auch sie zu lügen und zu betrügen, weil sie der Gesellschaft, in der sie leben, keinen großen Wert beimessen.

Es scheint sogar, dass ein Staatswesen mit zunehmendem Alter an Wert verliert, wenn es nicht grundlegend erneuert wird. Seine Strukturen verkrustet, seine Regeln verwirren und es ist nur noch eine leere Hülle, die einer ausufernden Bürokratie als Rechtfertigung ihrer Existenz dient. Mit ihr verblassen seine einst strahlenden und alles verbindenden Werte. Das ist eine überraschende Erkenntnis: Werte altern und sterben. Wieso auch nicht? Sie haben einen Lebenszyklus von ihrem Entstehen bis zum Vergehen. Denn sie sind von Menschen gemacht und unterliegen damit dem menschlichen Werden. Oft über Generationen. Manchmal werden sie sogar neu belebt. Einige sind universell und passen in jedes Zeitalter, auch wenn sie gelegentlich andere Namen bekommen. Gehorsam ist ein solcher Wert. Heute sagt man eher, du musst dich anpassen oder deinen Teil zum Team beitragen. Doch gemeint ist Gehorsam, nur ist das Wort nicht mehr opportun.

Andere Werte werden bei Bedarf hervorgeholt, wie Vaterlandsliebe für das Opfer des eigenen Lebens in Kriegszeiten und das Ehrenwort für die eigene Glaubwürdigkeit, dass aber durch Missbrauch ziemlich in Verruf geraten ist.

Die Macht, Werte zu setzen

Es gibt also Werte für jeden Bedarf. Sie dienen dazu, Menschen zu bestimmten wünschenswerten Verhaltensweisen zu veranlassen. Wer die Macht hat, Werte zu setzen, kann die Menschen in seinem Sinne manipulieren. Doch wer hat die Macht dazu?

Die erste Erfahrung eines jeden Menschen mit dieser Macht geschieht in der Familie. Denn Eltern haben die Macht, ihre Kinder zu einem Benehmen zu erziehen, dass ihnen geboten erscheint oder mit anderen Worten: dass ihre Werte umsetzt. Meistens lauten sie: höflich, strebsam, fleißig, folgsam und ähnliche Adjektive. Doch in der Familie geschieht auch etwas anderes. Die Kinder lernen, wie subjektiv Werte ausgelegt werden, dass es darauf ankommt, wer die Werte einfordert und wer sie leben soll. Eltern sind nicht unbedingt das beste Vorbild. Ehrlichkeit? Wenn da nur die Geschichte mit dem Weihnachtsmann wäre. Doch dass sich alle in der Familie lieb haben, stimmt leider auch nicht. Was sind das für komische Anrufe, die Mama immer erhält und von denen Papa nichts wissen darf? Warum kommt Papa aus der Firma kaputt und verärgert nach Hause, wenn doch Feiß und Strebsamkeit zum Erfolg führen, der angeblich so viel Spaß bringt? Die Ungereimtheiten sähen schon früh Zweifel.

Ein Entkommen gibt es nicht. Kindergarten, Schule: alle Institutionen setzen Werte und wachen über ihre Einhaltung. Sie sind unentrinnbar, weil alle Beschäftigten selbst an diese Werte glauben und nach ihnen leben, auch wenn sie ihnen nicht immer gerecht werden. Sie verinnerlichen sie als Orientierungspunkte und Halt, damit sie wissen, wonach sie streben und wogegen sie verstoßen.

Die Kinder werden hineingeworfen in diese Welt der Werte mit ihrer Strenge, ihren Ausnahmen und all dem schlechten Gewissen, wenn den Werten nicht genügt wird. 

Ausnahmen haben ihren eigenen Wertekanon. Welche Ausnahmen sind wie und weshalb erlaubt? Wer darf sich wann darauf berufen und wer nicht? Es ist alles furchtbar kompliziert. Und warum? Man könnte es als eine Art Eingangstest bezeichnen. Nur wer in einer Gesellschaft zu Hause ist, versteht die Unterscheidungen und Feinheiten. So schaffen Werte ein Gefühl der Zugehörigkeit und geben andererseits unmissverständlich zu verstehen, bis zu welchem Punkt eine Gesellschaft bereit ist, Fremde und Außenseiter zu tolerieren.

Werte erfinden sich neu

Doch die Ausnahmen haben auch eine negative Wirkung, denn wo überhaupt Ausnahmen möglich sind, da wird es Menschen geben, die zu ihrem Nutzen oder dem ihrer Gruppe nach weiteren Ausnahmen suchen – und sie entweder finden oder selbst kreieren. Das setzt eine Spirale in Gang, die zwischen Werten und Ausnahmen einen unbeschreiblichen Wust an Regeln produziert, der in letzter Konsequenz alle Werte ad absurdum führt. Ein Sieg der Bürokratie und ihres obersten Wertes: der Intransparenz, um die Verwaltung dauerhaft wachsen zu lassen.

In diesem Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung werden Werte frenetisch beschworen, an die sich nur noch Bürger halten, denen es ein Anliegen ist, treu dem Staat zu dienen. Alle anderen machen die Ausnahmen von den Werten zur Regel und nutzen die Inkompetenz, die durch die Intransparenz der Bürokratie entsteht, zu ihrem Vorteil.

Dabei zeigt sich eine neue, überraschende Eigenschaft von Werten: Sie passen sich nicht nur den Umständen an, sondern erfinden sich neu.

Wie bereits erwähnt, gibt es keine Person, keine Gruppierung, kein Volk ohne Werte. Deshalb ist es ohne Belang, wie sich eine Gesellschaft entwickelt. Auf jeden Fall wird sie über Werte verfügen. Selbst in den online Welten des Internets wird über Werte im digitalen Zeitalter diskutiert und es gibt an vielen virtuellen Orten so genannte Nettiketten, also Benimmregeln für das Verhalten im Cyberspace. Die Menschen beginnen ganz von selbst, nach Werten zu suchen. Ob sie auch eingehalten werden, steht letztendlich auf einem anderen Blatt.

Die sozialen Medien haben den Wertekanon der menschlichen Gesellschaft sowieso nachhaltig verändert. Telefonate sind beispielsweise nicht länger privat. Sie werden in der Öffentlichkeit geführt. Unter anderem laut und deutlich in der Bahn und alle hören zwangsläufig mit, welche Tabletten die Freundin nimmt. Selbst Wohnungen sind nicht mehr geschützt, weil Gäste Fotos vom Essen machen und posten. Es ist inzwischen wichtiger, Follower zu informieren, als persönlich zusammen zu sein. Hinzu kommen Hasskommentare, Cybermobbing und ähnliche Erscheinungsformen der modernen Kommunikationswelt.