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Freitag, 10. März 2023

Die Menschen brechen gerne Regeln

 

Wie ein hübscher Vogel wachen die Werte über den Zusammenhalt einer Gesellschaft und ersticken jedes Aufbegehren
Deshalb wird es nicht vorkommen, dass zwei Schachspieler nur die Schönheit der Balance in der Anfangsstellung bewundern. Weiß wird immer den ersten Zug machen und Schwarz folgen, weil beide es als notwendig erachten, sich sich zu messen. Denn der Mensch ist es gewohnt, seine Umgebung für die Erhaltung seines Lebens zu bezwingen. Alle Werte leiten sich von dieser Notwendigkeit ab. Sie verändern sich erst mit dem Wandel der Arbeitsbedingungen, durch die der Mensch seinen Lebensunterhalt bestreitet.

Wert bemisst sich an Besitz

Ist das nicht bereits der Fall? Nun, die Menschen hetzen weiterhin umher, als seien sie täglich auf der Jagd. Dabei geht es für die meisten nicht mehr um die notwendigen Lebensgrundlagen. Die Grundbedürfnisse sind bei Ihnen durch relativ wenig Arbeit abgedeckt. Es kommt Ihnen vor allem auf die Erfüllung gesellschaftlicher und selbst definierten Werte an.

Die Werte einer modernen Gesellschaft entwickeln sich aus dem Überschuss ihrer wirtschaftlichen Produktion. Gerade, weil die notwendige Arbeitsleistung einen geringen Anteil ausmacht, kann ein Großteil der vergüteten Leistung auf neue Werte gerichtet werden. Diese neuen Werte sind entsprechend vorwiegend materieller Natur. Die Arbeit dient inzwischen dazu, sich alles kaufen zu können, nicht nur notwendige Produkte, sondern besonders begehrenswerte. Der gesellschaftliche Wert eines Menschen bemisst sich an seinem Besitz. Ansehen wird gekauft. Dadurch verschieben sich andere Werte um den Faktor Geld.

Geld wird zum Akkumulator für Werte. Sie werden noch immer aus dem kollektiven Strom entnommen. Doch die Masse blickt anders in den Strom. Es ist der Blick des Geldes. In dem Moment, in dem die Masse wohlhabend ist, verändert sich ihr Fokus. Damit setzt sie die Mechanismen des Wandels in Gang. Denn es ist immer die Masse, durch die sich die Welt verändert.

Werte sind also für die Masse. Sie muss sie akzeptieren. Ihr gefallen offensichtlich leicht verständliche Vorzeigewerte. Deshalb funktionieren zum Beispiel die zehn Gebote. Die Masse braucht einen Rahmen, aus dem heraus sie auf andere mit dem Finger zeigen kann.

Werte polarisieren

Menschen haben im Umgang mit Werten zwei Gesichter: das freundliche, umgängliche, das sich bemüht, Werte zu befolgen und Ihnen gerecht zu werden sowie das düstere, hämische, das sich erfreut, andere daran scheitern zu sehen und es ihnen vorzuwerfen. Werte werden dementsprechend gelebt und benutzt. Vor allem aber dienen sie dazu, die Masse zu beruhigen. Sie geben ihr eine Aufgabe: Werte zu befolgen und all diejenigen zu verachten, die nicht in der Lage oder willens sind, sie zu befolgen. Dabei beneidet sie heimlich die Abtrünnigen, die es wagen, entgegen allen Anfeindungen einen eigenen Weg einzuschlagen.

Werte erfüllen eine wichtige gesellschaftliche Funktion – sie polarisieren. Damit lösen Sie Debatten und Diskussionen aus. Manche verpuffen schnell, andere entzünden einen Sturm. Diese Werte sind Ursache und Anlass von Entwicklungen und Umbrüchen.

Deshalb brechen die Menschen gerne Regeln. Weil sie damit ihre Werte auf die Probe stellen. Kommen Sie mit dem Regelbruch durch oder sind die Werte stärker? Im kleinen oder im großen: die Masse entscheidet auch hier.

Nicht von ungefähr begehrt in jeder Gesellschaft gerade die Jugend auf. Sie hat wenig gefestigt Werte und ist frei, zu experimentieren. Doch die Zeitspanne ist kurz dafür. Werte engen die jungen Menschen von Jahr zu Jahr mehr ein. Bald müssen sie für ihren notwendigen Lebensunterhalt sorgen und dann für den einer eigenen Familie. Der Wert, der am unbarmherzigsten zuschlägt, heißt Verantwortung. Die Verantwortung wird von anderen Werten flankiert: Leistungsbereitschaft, Verzicht, Härte gegen sich selbst. Verbrämt wird sie durch ergänzende Werte wie Nationalstolz, Liebe zur Familie und den eigenen Kindern, Stolz auf das Erreichte und Anerkennung von außen. Wer Verantwortung übernimmt, steht gut da – zumindest, wenn es gut läuft. Falls nicht, greifen andere Werte: sich dem Unvermeidlichen stellen, nicht aufgeben, einstecken können, weitermachen, neu anfangen, nicht klagen und so weiter.

Werte werden zu einer moralischen Instanz

Passend zu jeder Situation im Leben, gibt es mindestens einen brauchbaren Wert. Oft eingebettet in weise Sprüche. Der Mensch wird eingekreist von Werten, die ihn wie ein engmaschiges Sieb umhüllen und nur für opportunes Verhalten durchlässig sind.

Das führt immer wieder zu Protest. An den Werten wird gerüttelt. Die Menschen wollen ausbrechen. Manche schaffen es. Doch Werte sind tückisch. Wer einem von ihnen entflieht, wird von anderen eingefangen. Das funktioniert vor allem deshalb, weil Werte emotional verankert sind. Wer könnte sich entziehen, wenn Menschen in Not geraten oder an nationales Gefühl appelliert wird? Die Frage: „Liebst du mich denn gar nicht?“ mit „Nein!“ zu beantworten, fällt den meisten schwer.

Emotional aufgeladene Werte werden zu einer moralischen Instanz. Sie werden benutzt, Menschen zu Handlungen zu bewegen. Beispielsweise regelmäßig zur Arbeit zu gehen. Allein mit Geldzahlungen und Androhung von Kündigung bei Faulheit funktioniert die Arbeitswelt nicht. Es kommt noch ein übergeordnetes Prinzip hinzu. Die Idee des gesellschaftlichen Wertes und der Freude an der Arbeit. Erst die Gewissheit, von Nutzen zu sein, stellt die Menschen zufrieden und veranlasst sie zu regelmäßig wiederkehrenden Leistungen. Natürlich müssen die Werte geglaubt werden. Doch dafür sorgen die Werte mit ihrem verschachtelten Wesen selbst, indem sie den Menschen das Gefühl geben, es lohne sich, die Werte der Gesellschaft zu befolgen.

Jeder Mensch wird in Werte hineingeboren

Das funktioniert mit einem bizarren Trick: Die Menschen belügen sich selbst um ihren Erfolg und ihr Wohlbehagen in ihrem Leben. Es ist ein gesellschaftliches Ritual, dass ihnen abverlangt, einen guten Platz für sich im Getriebe der Welt zu finden. Keiner wird zugeben, wie hoch der Preis dafür ist. Nur Außenseiter denken laut darüber nach – und werden dafür verlacht. Zumal auch sie nicht darum herumkommen, sich irgendwelchen Werten zu beugen. Das ist der Handel: „Siehst du, auch du hältst dich an Regeln!“ heißt es lapidar. Es stimmt: Flucht vor Regeln ist nicht möglich. Sie sind überall. Schon weil der menschliche Körper nach Regeln funktioniert und die Welt ihre Naturgesetze hat. Jeder Mensch wird in Werte hineingeboren. Nur welche es genau sind, ist eine Laune des Zufalls.

Das Problem ist auch nicht, dass es überhaupt Werte gibt. Vielmehr besteht das Problem darin, dass nicht alle Werte zu jedem Menschen passen und wir trotzdem nicht vor ihnen fliehen können. Wir müssen essen, uns kleiden, wohnen und schlafen. Doch schon dafür gibt es in jeder menschlichen Gesellschaft Regeln und Werte. Der absolute Wert lautet überall: Wer für die Gesellschaft nichts leistet, ist auch nichts wert. Wobei die Gesellschaft selbst entscheidet, was Leistung für sie bedeutet.

Mittwoch, 15. Februar 2023

Werte sind Bestandteile im alltäglichen Wahnsinn des menschlichen Lebens

Bäume formen sich in Gemeinschaft zu einem Wald, wie Menschen in Städten zu einer Gesellschaft

Die Anregungen kommen von außen. Menschen haben Angst vor diesem Außen. Sie ertragen es nur von einem sicheren Standpunkt aus. Wer sich auf Neues einlässt, braucht eine Möglichkeit zum Rückzug. Jeder hat einen Fluchtinstinkt und muss wissen, wohin er fliehen kann. Für viele Menschen sind ihre Werte das Gebiet, auf das sie sich zurückziehen, wenn das Außen ihnen Angst bereitet.

Das Leben kann furchteinflößend sein. Es hilft, wenn ein Mensch sich auf sich selbst und andere verlassen darf. Doch wenn nicht wegen der Werte, die sie miteinander teilen, weshalb sollten sich Menschen sonst aufeinander verlassen können? Werte liegen ihnen nahe, anderen zu helfen oder sich für erfahrene Hilfe dankbar zu zeigen. Sie regeln auch den Umgang miteinander, bis hin zum Sprachgebrauch. Werte sind ein Wegweiser für das Verhalten von Menschen, die sich nahe stehen oder aus anderen Gründen zusammenkommen.

Dinge bringen uns mit Menschen zusammen

Wie Wasser allmählich Steine glättet, so beeinflusst das Außen die Menschen. Sie vertreten im Laufe der Zeit andere Werte und passen ihre Werte an. Dabei ist das nicht die Intention dieses Außen. Es ist einfach nur da und umgibt die Menschen wie Wasser im Meer oder die Luft zum Atmen. Doch seine ständige Präsenz hinterlässt Spuren. Es schleift die Menschen ab. Schlimmstenfalls zerbricht es sie.

Was ist dieses Außen? Alles, was die Menschen umgibt: von der Natur über die von Menschen gemachte Dingwelt bis zur Bürokratie, Geschichten und anderen Menschen. Das Außen besteht aus Menschen und Nichtmenschen. Denn auch die Dinge, die wir uns anschaffen oder erschaffen, haben Einfluss auf uns. Wir denken, wir wollen die Dinge und beherrschen sie. Doch in Wirklichkeit ist die Wirkung, die wir auf die Dinge haben und sie auf uns, wechselseitig. Kaufen wir uns etwas, werden wir es nicht nur zu unserer Freude benutzen. Wir müssen auch darauf achten, es pflegen und gegebenenfalls reparieren. Die Dinge fordern unsere Aufmerksamkeit. Dadurch belegen sie unsere Zeit und beeinflussen unseren Tagesablauf. Nicht nur das: Die Dinge bringen uns mit anderen Menschen zusammen, weil wir unter Umständen Expertenwissen und Hilfe benötigen. Eventuell treten wir aufgrund eines Dings einem Verein bei oder engagieren uns für etwas.

Wer sich zum Beispiel ein Instrument kauft, braucht nicht nur einen Musiklehrer zum Üben, sondern sucht sich irgendwann ein Orchester oder Gleichgesinnte für eine Band, um gemeinsam zu musizieren. Auf diese Weise erweitert der Musikant Seine Fähigkeiten und verbindet sich mit anderen Menschen. Das hat Auswirkungen auf seine Werte. War er bisher eher unpünktlich und unzuverlässig, wird er sich in diesen Punkten ändern, wenn er dauerhaft mit anderen musizieren will. Er wird sich den Werten der anderen anpassen, damit das Orchester funktioniert oder die Band ein Erfolg wird. Sollten die anderen sich umgekehrt ihm anpassen, wird es aller Voraussicht nach nicht viele Proben geben, weil kaum alle – und schon gar nicht pünktlich – jemals zusammen üben werden.

Wert und Werte hängenden zusammen

Werte setzen sich also nach Praktikabilität durch. Gruppen einigen sich auf Werte, die sie möglichst wenig einengen, bei gleichzeitig maximalem Konsens. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner. Die Schwierigkeiten sind ganz gut bei Kindern zu beobachten. Sie teilen die Werte einer Gruppe, beispielsweise leise zu sein, solange sie können. Doch wenn sie auf einmal auf andere Ideen kommen und plötzlich toben wollen, werfen Sie alle Werte über Bord und stürmen los. Davon fühlen sich natürlich alle gestört und ermahnen die Kinder. Sie reagieren ärgerlich und vermitteln so den Wert leise zu sein. Aber für den Moment werden sich die Kinder nicht abhalten lassen – und weil der Wert, Kinder gut zu behandeln, sehr hoch im Kurs steht, dürfen sie das auch, ohne mehr als genervte Worte befürchten zu müssen.

Das gilt übrigens auch für den Musiker. Ist er ein Ausnahmetalent, werden ihm die anderen seine Fehler eher nachsehen, als wenn er nur ein durchschnittlich begabter Musiker ist. Je höher also der Wert eines Menschen, desto geringer der Anspruch an seine Werte. Von manchen Menschen wird geradezu erwartet, dass sie sich daneben benehmen.

Wert und Werte hängen eng zusammen. Lassen sich Werte also mit Wert beziffern? Es wird versucht. Unternehmen bekennen sich zum Beispiel zu Werten wie Verlässlichkeit, Nachhaltigkeit, Umweltschutz, faire Arbeitsbedingungen und einiges mehr. Sie hoffen auf ein gutes Image und hohes Ansehen bei Kunden, um ihren Umsatz zu steigern. Eine Zeit lang war es sogar Trend, Philosophen einzustellen, die neue Unternehmenskulturen erarbeiten sollten. Natürlich rechnen die Unternehmen, ob der Aufwand sich lohnt.

Werte werden zu Argumenten

Ist dieser Ansatz verwerflich? Jeder Mensch möchte Werte zu seinem Vorteil nutzen. Deshalb wird moralisch argumentiert. Die Moral ist Hammer und Meißel, die Werte unumstößlich in Stein hauen. Allerdings hat jeder Mensch seine eigenen „Gesteinstafeln“, die er nach Gutdünken auslegt und auf seine mit Menschen anwendet.

Das Wesen, dass Menschen Werten verleihen, ist eine Doppelmoral. Für mich so, für dich anders. Das ist der Punkt im Umgang mit Werten. Oder auch: Ich halte diesen einen Wert ein, du musst das auch. Die Menschen machen untereinander Vorgaben. Einseitige Vorgaben. „Ich will, also musst Du damit klarkommen!“ lautet ihr Credo. Sie geben nur nach, wenn es ihnen nicht besonders wichtig ist und streiten, wenn sie etwas unbedingt wollen.

Werte werden in den Händen der Menschen zu Argumenten, Drohungen, Ansprüchen, moralischen Waffen und letzten Ausflüchten, wenn sie sich nicht anders durchsetzen können. Sie sind mitten drin im alltäglichen Wahnsinn des menschlichen Lebens, nichts, das abseits steht und eine allgemein gültige Wahrheit offenbart. Nein, sie sind voll und ganz menschlicher Natur: von Menschen gemacht und von Menschen gebraucht.

Mittwoch, 25. Januar 2023

Werte laufen ins Leere

 

Menschen laufen durch die Matrix der Werte und versuchen sich daran innherhalb einer Geellschaft zu orientiren
Einen großen Anteil daran hat auch die digitale Wirtschaft in Form des Überwachungskapitalismus, dessen größter Wert die ständige online Präsenz der Nutzer ist. Daraus zieht er seine Daten und daran verdient er. Doch die ständige Präsenz hat ihren Preis: Sie kostet Zeit, sehr viel Zeit. Immer mehr Tätigkeiten werden auf die Verbraucher abgewälzt. Rechnungen ausdrucken, Waren zurücksenden, Informationen einholen und vieles mehr. Und wir sind wieder zurück auf der Jagd und beim Sammeln.

Es sind gerade die Notwendigkeit des Lebens, die den Menschen von der digitalen Wirtschaft nicht abgenommen werden. Sie bewirkt vor allem zwei entscheidende Entwicklungen: Die digitale Wirtschaft schafft ein unglaublich vielfältiges Angebot, das dazu führt, dass mehr und mehr Zeit für die Notwendigkeit eines Lebens aufgewendet werden müssen. Zum anderen fördert sie die Entstehung leerer Werte.

Von größerem Interesse ist der zweite Punkt, da er unmittelbar dem Punkt eins zuarbeitet.

Eine neue Dimension des menschlichen Lebens

Die wichtigste Frage lautet: Was macht das Internet interessant genug, dass es das Leben einzelner Menschen und dadurch die Entwicklung der Menschheit insgesamt prägt? Die Antwort kann nur lauten: Es entspricht den menschlichen Bedürfnissen. Das Internet verbindet alles miteinander, lässt die Welt zusammenwachsen. Mit anderen Worten: Der Cyberspace schafft eine neue Dimension des menschlichen Lebens. Er fasziniert schlichtweg. Für viele ist er eine bunte Welt voller Möglichkeiten, die zum Spielen einlädt. Sie sehen nicht, dass ihre Daten analysiert und bewertet werden oder es ist ihnen egal. Das Internet beschäftigt die Menschen und gibt ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein. Wir alle sind doch eigentlich eine große glückliche Familie. Leider ist das eine Lüge – wie in den meisten Familien.

Die Nutzer werden abgezockt, ihre Daten verkauft und zur Manipulation ihres Kauf- und Wahlverhaltens verwendet. Staaten und Unternehmen wenden große Mittel auf, Menschen online zu bestimmtem Denken und Handeln zu bewegen. Auf diese Weise kommt es versteckt zur Produktion leerer Werte.

Ein harmloses Beispiel: Wer auf einer Onlineplattform tausend Freunde hat, von denen ihm fünfhundert mit bunten Animationen zum Geburtstag gratulieren, freut sich vielleicht darüber. Doch was zählen die Glückwünsche von fünfhundert Freunden? Begriffe wie Freunde, Aufmerksamkeit und Geburtstag werden neu definiert. Noch sind sie dadurch keine leeren Werte, aber vielleicht schon auf dem Weg dorthin.

Werte werden entleert

Ein paar Schritte weiter sind zum Beispiel die Olympischen Spiele entwertet. Von ihrem einstigen Anspruch, die Jugend der Welt zu sportlichem Wettkampf zusammenzubringen, bleibt nur ein floskelhafte leerer Wert. Längst sind die Spiele zu profisportlichen Events geworden, die auch regelmäßig zu politischen Zwecken missbraucht werden. Von friedlichen, fairen und gleichen Wettkämpfen keine Spur mehr.

Immer dort, wo es um politische und wirtschaftliche Interessen geht, werden Werte entleert. Wie bei den Ladenöffnungszeiten sowie den Öffnungszeiten am Sonn- und Feiertagen. Es stehen nicht die Familien im Vordergrund, sondern kommerzielle Interessen. Natürlich gewöhnen sich die Menschen daran und natürlich lernen sie zu schätzen, noch nachts einkaufen zu können. Insofern tragen sie zum entleeren der Werte bei. Aber haben Sie eine Wahl?

Auch die Demokratie ist ein Wert, der sich allmählich entleert. Wenige engagieren sich noch. Die Wahlen sind ein steifes Ritual, bei dem das Ergebnis durch immer bessere Umfragen schon lange vorher weitgehend bekannt ist. Politische Themen werden durch Lobbygruppen sowie Werbung und Public Relations gesetzt. Seit Jahren schon wird Wahlkampf ohne konkrete Inhalte geführt. Es wirkt gerade so, als würden Inhalte von den Bürgern fern gehalten. Das Schlimmste aber ist, dass sich anscheinend niemand darum schert.

Auch so ein Wert, der ins Leere läuft: Nur wenige übernehmen noch Verantwortung für die Gesellschaft über die berufliche Tätigkeit hinaus. Es lohnt sich in den Augen der Bürger nicht. Zu sehr haben Bürokratie, Lobbyismus und Wirtschaft das Land in ihrem Griff. Sie treten Werte mit Füßen und erwarten nur, dass sie von anderen eingehalten werden.

Die Anbiederung des menschlichen Denkens

Da ist er wieder, der Blick der anderen. Aber diese anderen sind keine Menschen mehr, sondern Körperschaften, wie Verwaltung und Unternehmen, die sich verselbstständigen. Bald wird mit künstlicher Intelligenz ein neuer Spieler auftreten, der die Menschen mit dem Blick des anderen belegt, um ihnen einen Willen aufzudrängen. Erstmals wird es der Wille von Maschinen sein. Zunächst im Auftrag und unter der Kontrolle von Menschen, die für Staaten und Unternehmen arbeiten. Irgendwann mehr und mehr autonom.

Welche Auswirkungen wird diese Entwicklung auf das Entstehen und Vergehen von Werten haben? Einen Vorgeschmack bekommt die Menschheit durch das Internet. Dort gelten andere Werte, die auch durch die Anonymität im Netz ermöglicht werden. Follower, Likes und Kommentare werden gekauft. Wettbewerbsprodukte erhalten schlechte und natürlich auch gekaufte Bewertungen. Privates Leben wird öffentlich zur Schau gestellt. Es zählt allein die Zahl an Klicks. Sie stellen einen Wert an sich dar. Denn ein Klick zeigt Interesse. Er ist so etwas wie ein Schulterklopfen, ein virtuelles „gut gemacht“, das demonstriert, da könnte ein Inhalt von allgemeinen Interesse sein, der Aufmerksamkeit verdient.

Wie erhält jemand diese Klicks? Durch Aufarbeitung seiner Inhalte für die Masse und für die Maschinen. Ein Zauberwort der Internetwelt heißt Suchmaschinenoptimierung (SEO). Die Anbiederung des menschlichen Denkens an die Vorgaben von Algorithmen. Wer seine Sache dabei gut macht, darf sich über einen Platz an der Spitze von Suchergebnissen freuen – und über mehr Zuspruch für seinen Auftritt im Internet. Folglich sind viele Menschen zu fast allem bereit, um diesen „Platz an der maschinellen Sonne“ zu erreichen und möglichst lange zu behalten.

Der Masse fällt zunehmend Macht zu

Der Wert von Inhalten im Internet wird durch das Verhalten von Massen bestimmt. Es wird nicht nur beziffert, sondern auch bedient. Im Streben nach Bekanntheit und Erfolg zählt im Internet nicht Können, es zählt die Fähigkeit, um jeden Preis Menschen auf die eigene Seite zu ziehen und dort so lange es geht festzuhalten.

Der Masse fällt im Internet eine zunehmende Macht zu. Weil sie dort nicht gezähmt, sondern umworben wird. Sie ist erstmals zu einem Wert an sich geworden. Zwar stellt die Masse nichts her, aber ihr Verhalten beeinflusst Herstellung und gibt Vorgaben, deren Einhalten über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Ihre Migrationsbewegungen verteilen Anerkennung und Geld. Auf diese Weise kontrollieren Sie die Herstellung im Internet.

Es ist ein Zusammenspiel zwischen Masse und kollektiven Strom. Letzterer liefert die Stichworte, während Erstere daraus Trends formt. Natürlich ist das eine allmähliche Entwicklung, die mit vielen Irrungen und Wirrungen, Wenden und Rücknamen verbunden ist. Doch im Kräftespiel der Stichworte bilden sich fortwährend Trends als würden sich aus einem Topf Nudelsuppe ständig neue Worte zusammensetzen. Eine Zeit lang werden sie häufig benutzt, dann geraten sie in Vergessenheit.

Mittwoch, 11. Januar 2023

Online schaltet der Mensch eine Instanz zwischen sich und die Welt

Menschen stehen im Kreis um einen Mittelpunkt und verstehen nicht, weshalb sie ihn umkreisen
Das grelle, brodelnde Leben

Wer sind wir im digitalen Raum? Welche Werte gelten und wie übertragen sie sich in die reale Welt?

Der Unterschied zwischen dem digitalen und dem realen Raum ist folgender: Wir sind der digitale Raum. Er ist der Ort, der nur aus unseren Gedanken besteht. Während der reale Raum auch unsere Dingwelt und die Natur enthält, beinhaltet der Cyberspace ausschließlich die menschliche Fantasie. Insoweit erzählte unsere Geschichte.

Er ist aber auch der Ort, an den wir die reale Welt übertragen. Viele Menschen geben sich unheimlich Mühe, ganze Städte online neu und punktgenau aus Pixeln zu erbauen. Mit ein paar Unterschieden: manche Häuser schweben, Avatare haben Flügel und gelegentlich streunen Drachen durch die Straßen. Ansonsten gibt es Universitäten, Galerien und Bibliotheken, Cafés, Strände, Boutiquen und selbstverständlich – Bordelle. Das grelle, brodelnde Leben.

Nur besser?

Unmittelbarer. Die Menschen erfinden sich ohne Limit neu. Sie können Zauberwesen sein. Vor allem bewegen Sie sich anonym durch einen scheinbar unendlichen Raum der Möglichkeiten.

Doch zu unserem großen Erstaunen bleiben Sie nur sie selbst in neuem Gewand. Aber vielleicht ist das Erstaunen auch gar nicht allzu groß. Was sonst sollten die Menschen sein? Sie sind ihre Natur verhaftet, den Notwendigkeiten ihres Lebens. Also beschaffen sie sich online alles, was sie brauchen. Das Internet ist aus diesem Grund schnell zu einem großen Marktplatz, zu einem globalen Laden geworden. Dort gehen die Menschen in der Sicherheit ihrer Wohnungen auf Schnäppchenjagd. Mit Bestellung verwandeln sich die virtuellen Waren in wirkliche Dinge, die sich die Menschen einverleiben können. Es gibt eine Schnittstelle und die zeigt, dass die online Welt nicht eigenständig ist. Kein Mensch lebt einzig und allein in ihr. Bisher ist der Cyberspace nur eine Erweiterung unserer realen Welt. Möglicherweise wird sich das irgendwann in der Zukunft verändern. Bisher überträgt die Menschheit lediglich ihr Denken und Handeln auf ein neues Medium.

Das führt zu Interessenkonflikten. Termine müssen abgestimmt werden, um die reale mit der virtuellen Welt in Einklang zu bringen. Wer sich in dem fantastischen Metaversum eines Multiplayer online Games einrichtet, wird dort zwar ein Held sein, verliert aber bald den Bezug zu der Dingwelt, in der er die Notwendigkeiten seines körperlichen Lebens erledigen muss. Solange diese Notwendigkeit nicht Teil des Cyberspace werden, bleiben die Menschen zwei geteilt. Zweigeteilt bleiben dann auch die Werte.

Voyeure

In der Anonymität des Internet verhalten sich die Menschen wie unsichtbare Fremde. Ähnlich dem Sartreschen Ich, dass durch das Schlüsselloch schaut. Doch online fällt der Blick des anderen nicht auf das erschrockene Ich eines Menschen. Er fällt auf das virtuelle Ich eines Avatars.

Das ist kein Ich, sondern ein Es. Ein Es, das zwar auf das Ich hinter dem Avatar zurückwirkt, dieses versteckte Ich aber nie unmittelbar erreicht, sondern nur gefiltert über die Anonymität des Rollenspiels.

Online schaltet der Mensch eine Instanz zwischen sich und die Welt. Er nimmt eine neue Identität an, die zwar nichts von den Notwendigkeiten des Lebens wissen kann und sie auch nicht ausführt, dafür aber das Ich hinter der Maske seines Avatars von allen Werten befreit, von denen es sich eingeengt fühlt und von denen es sich befreien will. In gewisser Hinsicht ist der Mensch im Metaversum frei – und nur dort. Es ist mehr als der Blick durch das Schlüsselloch. Er betritt den Raum hinter der Tür, den er in der realen Welt nur beobachten kann und agiert in diesem Raum. Der Mensch schlüpft durch das Schlüsselloch und macht selbst, was er bisher nur sah. Ohne den Blick eines anderen befürchten zu müssen. Der Voyeur wird zu handelten Person, die den Blicken nicht ausweicht, sondern sie auf sich zieht, um sich in ihnen zu sonnen.

Andererseits darf, wer Voyeur sein möchte, es im Internet sein. Das Schlüsselloch ist weit offen und niemand muss heimlich spähen. Die Akteure leben von den Beobachtern. Das zur Schau stellen geschieht mit Absicht und die Zuschauer sind Teil der Inszenierung.

Das Internet schafft neue Werte und lässt die alten hinter sich. Dass „Sie“ stirbt zugunsten des „Du“. Nur eine Folge der digitalen Revolution. Allerdings bringt die Schnittstelle beider Welten Probleme mit sich. Ein Held auf der einen Seite, ein arbeitsloser Nichtsnutz auf der anderen wie passt das zusammen?

Werte prallen aufeinander. Die Internethelden werden irgendwann sehr wütend auf die Welt, die ihre Körper gefangen hält, ihnen aber sonst nichts zu bieten hat. Sie werden eine Onlineheimat fordern, sobald es der Masse möglich sein wird, in der virtuellen Welt ausreichend Geld zu verdienen. Vielleicht als Cyberhausmeister, Metaversumguide und Menschenerklärer für KI–Algorithmen. Es wird Möglichkeiten geben. Eventuell eine neue Staatsbürgerschaft für Avatare und die Menschen hinter ihnen. Ein Online–Finanzsystem und natürlich eine Steuerbehörde.

Auch Roboter befolgen Gesetze

Die Frage wird sein, ob der alte Mensch nur eine neue Welt besiedelt oder ob er bereit ist, eine wirklich neue Welt aufzubauen, in der Werte von Grund auf überholt und anders, der Welt immanent definiert werden.

Schon heute stellt sich diese Frage. Bei autonom fahrenden Autos zum Beispiel. Welche Werte kann ein Programm ihnen geben, um in gefährlichen Situation richtige Entscheidungen zu treffen? Welche Werte gelten, wenn es keine logisch richtige Entscheidung gibt? Je intelligenter künstliche Systeme werden, desto dringender stellt sich die Frage nach Werten. Das schlaueste Schachprogramm beispielsweise: Hat es die leiseste Ahnung von Sportsgeist? Vermutlich nicht. Braucht es das auch nicht oder bestehen wir darauf? Sind unsere Werte nur menschlich oder universell?

Der Science-Fiction Autor Isaak Asimov hat drei Roboter Gesetze formuliert, mit denen er der künstliche Intelligenzwerte zum Schutz der Menschen und ihrer selbst mit gibt. Sie lauten: 

1. Ein Roboter darf kein menschliches Wesen wissentlich verletzen oder durch Untätigkeit wissentlich zulassen, dass ein menschliches Wesen verletzt wird.

2. Ein Roboter muss menschlichen Befehlen Folge leisten – es sei denn, die Ausführung des Befehls kollidiert mit der ersten Regel.

3. Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen – es sei denn, dies kollidiert mit der ersten oder zweiten Regel.

Es ist offensichtlich, worauf diese Regeln hinauslaufen. Roboter sind demnach die modernen Sklaven der Menschheit. Es gibt kein ethisches Problem, da sie nicht als Lebewesen gelten und ihnen keine Gefühle zugestanden werden.

Später hat Asimov ein nulltes Gesetz hinzugefügt, dass Roboter verpflichtet, die Menschheit zu schützen. Allerdings ist das bedenklich, da es ihnen in diesem Fall erlaubt, einzelne Menschen zu töten.

Das Dilemma mit künstlicher Intelligenz zeigt gut das Dilemma mit Werten insgesamt. Ihre Wertigkeit ist eine Frage der Auslegung und dabei kommt es darauf an, wer sie auslegt und zu welchem Zweck.

Da ist es wieder: „Du sollst nicht töten – es sei denn, ich befehle es dir!“

Die Definitionsgewalt über Werte liegt bei denjenigen, der sich mit seiner Sichtweise durchsetzt. Sollte sich morgen jemand zum Kaiser der Welt ernennen lassen wollen, würde er wahrscheinlich früher oder später in der Psychatrie landen. Würden ihn aber zumindest einige Nationen anerkennen, hätte er eine Chance, mit seiner Idee durchzukommen.

Samstag, 26. November 2022

Unfreiheit ist nicht die Abwesenheit von Freiheit

 

Menschen in uniformer Kleidung gehen, dem Betrachter den Rücken zugewandt, in Masse an einen nicht zu sehenden Ort
Neulich haben Schüler eines Gymnasiums über Unfreiheit geschrieben. Die Wahl der Textform blieb ihnen überlassen. Es kamen dabei Gedichte, Kurzgeschichten und Essays heraus. Doch es wurde immer die gleiche Art von Unfreiheit beschrieben: Die Unfreiheit durch einen repressiven Staat. Keinem einzigen Schüler kam es in den Sinn, zu fragen, wie tief Unfreiheit in den Alltag eingreift und was Unfreiheit für ein Leben ohne Zwang von außen bedeutet.

Auch bei meiner Recherche ist kaum etwas über Unfreiheit zu finden. Meist wird sie nur als Gegensatz zu Freiheit aufgeführt, über die sehr viel zu finden ist.

Was hat es auf sich mit der Unfreiheit, für die sich niemand zu interessieren scheint? Haben die Menschen Angst vor ihr oder fühlen sich tatsächlich alle frei?

Ist Freiheit die größte Unfreiheit?

Für Jean-Paul Sartre war Freiheit der Kern des menschlichen Wesens. Der Begründer des Existenzialismus ging davon aus, der Mensch erschaffe seine Natur durch das, was er zu tun beschließt. "Die Existenz geht der Essenz voraus", schrieb er und meinte damit eben dieses sich selbst definieren, nachdem man unwiderruflich in die Welt geworfen sei. Darin liege seine Freiheit. Für Sartre war sie die Grundbedingung des Menschseins. Andererseits schrieb er: "Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein."

Das klingt nicht besonders frei. Denn wenn der Mensch zur Freiheit verurteilt ist, zwingt ihn eine Instanz dazu, nämlich diejenige, die ihn verurteilt hat, frei zu sein. Dann aber wäre Freiheit, weil der Mensch frei sein muss, die größte Unfreiheit.

Vielleicht ist es andersherum: Der Mensch kann Unfreiheit überwinden, um frei zu sein. Dazu sollte er sich natürlich mit ihr auskennen.

Vom ersten Tag an konsumieren

Jedes Leben beginnt in Abhängigkeit. Es muss versorgt werden, weil es sich nicht selbst versorgen kann und bedarf der Ansprache, um sich geistig und sozial zu entwickeln. Darüber hinaus ist es frei, weil keine Erwartungen an es gestellt werden und es kein Wollen hat - außer dem der Erfüllung seiner körperlichen Bedürfnisse.

Die Notwendigkeiten des Überlebens sind von Anfang an da: Nahrungsaufnahme, Ausscheidung und Schlafen. Der Mensch braucht lange, bis er für sich selbst sorgen kann. Aber zu seinem Wohlergehen muss er von Beginn seines Lebens an konsumieren. Möglicherweise ist das der Urgrund, warum Menschen später auch zu ihrem Vergnügen konsumieren. Weshalb es ihnen gutgeht, wenn sie sich Dinge aneignen können.

Jedenfalls lebt der Mensch in einer von ihm erschaffenen Welt der Dinge. Selbst die Natur wird inzwischen von ihm gestaltet oder umgestaltet. So werden zum Beispiel Bäume als Bonsai oder Gartenzierde zu Dingen, die der Mensch sich aneignet wie Kleidung, Möbel und Fortbewegungsmittel. 

Ist es ein Zeichen von Freiheit, dass er seine eigene Welt gestaltet? Ja und Nein. Bei vielem, was der Mensch tut, gibt es zwei Seiten derselben Medaille. Ein Haus bauen und einen Garten anlegen ist selbstverständlich ein Ausdruck von Unabhängigkeit, von Freiheit. Aber wenn gebaut und anlegest ist - was dann? 

Ein Sisyphus der Neuzeit

Der Mensch wird zum Sklaven seiner eigenen Freiheit. Denn sobald er aus freien Stücken ein Ding herstellt oder erwirbt, muss er es auf Dauer pflegen. Er kann es nicht sich selbst überlassen. So führt jede Entscheidung, die er trifft, zu einer Einengung und damit zur Verminderung seiner Freiheit.

Entscheidungen sind so eine Sache. Menschen treffen sie tausendfach am Tag. Die meisten sind Routine und lenken das Leben weitgehend unbemerkt. Andere begleiten einen Menschen tage-, einige sogar jahrelang. Der Kauf eines Autos beispielsweise oder die Erfüllung eines langgehegten Traumes. 

Das Gehirn produziert Bilder und Vorstellungen, Gefühle, mit denen es vorwegnimmt, wie es sein könnte, wenn jemand endlich bekommt, was er sich sehnlichst wünscht. Es drängt auf eine Entscheidung und verspricht dafür Glückseligkeit.

Doch was sind Entscheidungen? Verzweigungen im Netzwerk der Möglichkeiten. Am anschaulichsten zu beobachten bei einer Partie Schach. 

Glücklicher Zufall

Vom ersten Zug an müssen die Kontrahenten Entscheidungen treffen. Dabei erhöht sich oberflächlich betrachtet die Zahl der Möglichkeiten, je weiter ein Spiel voranschreitet. Doch da beide Spieler Pläne verfolgen, scheiden viele Züge von vornherein aus. Zudem ist bewiesen, seit Computer Schach bis zur Perfektion analysieren, dass es tatsächlich jeweils nur wenige gute Züge gibt. Also sind theoretisch zwar ein Haufen Möglichkeiten vorhanden, praktisch jedoch führen die meisten von ihnen zur Niederlage.

Allerdings - und jetzt wird es kompliziert - muss die Unzulänglichkeit des menschlichen Gegenübers berücksichtigt werden. Er könnte nicht in Spiellaune oder abgelenkt sein oder einfach ein miserabler Spieler. Die Psyche vergrößert die Möglichkeiten enorm, denn eigene Fehler wirken sich vielleicht gar nicht oder zumindest weniger aus. Darüber hinaus steigert ein schwacher Gegner die eigene Selbstsicherheit, so dass es plötzlich leichter wird, Entscheidungen zu treffen, weil die meisten dieser Entscheidungen aufgrund der günstigen Spielsituation nicht falsch sein können, selbst wenn sie es in einer objektiven Analyse eventuell wären.

Diese Erweiterung von Möglichkeiten bezeichnen die Menschen als glücklichen Zufall oder einfach Glück. Was nichts anders heißt, als dass weitgehend ohne ihr Zutun eine günstige Entscheidung für sie getroffen wurde - durch die Ziehung der richtigen Losnummer oder weil ein anderer in einer kritischen Situation gut reagiert und einen Unfall vermeidet.

Die Dingwelt lenkt die Geschicke der Menschen

Das interessante an Möglichkeiten ist, dass jede Entscheidung für eine Möglichkeit  tausende neuer nach sich zieht. Gleichzeitig realisieren sich tausend andere nie. Wie finden sich Menschen in diesem Wirrwarr zurecht? Indem sie die allermeisten Möglichkeiten nicht wahrnehmen. Denn selbstverständlich überlegt niemand bei jedem Schritt, wohin er seinen Fuß setzen könnte. Er entscheidet sich für eine Richtung und geht los, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Durch dieses großteilige Denken reduziert sich die Anzahl der täglich bewussten Entscheidungen auf vielleicht ein paar Dutzend. Überschaubar.

Der Rest geschieht als Handlungen aus einem generellen Wollen. Wer sich setzen will, muss sich einen Stuhl nehmen und überlegt nicht, ob er ihn mit der rechten oder linken Hand anfasst, an der Lehne zieht oder ihn anhebt. Das ergibt sich aus der Entscheidung, sitzen zu wollen sowie der Lage und Schwere des Stuhls. 

Die Dingwelt beeinflusst das menschliche Sein durch die Informationen, die sie ständig übermittelt. Ist die Waschmaschine defekt, muss eine Entscheidung her: Kann sie repariert oder muss eine neue gekauft werden? So lenken die Dinge, die der Mensch erschafft, nach ihrer Entstehung seine Geschicke. Es scheint sogar, dass der Mensch seine Freiheit aufgibt, indem er die Dingwelt herstellt. 

Wie funktioniert das? Was hat er davon?

Planlose Schöpfer

Hannah Arendt schreibt, das Geschenk der Schöpfung an den Menschen sei die Freiheit. Falls dies zutrifft, gehen die Menschen nicht gut um mit diesem Geschenk. Sie verbauen sich ihre Freiheit mit Dingen, die sie ihre Welt nennen, die aber nur der materielle Ausdruck von Fantasien und Wünschen sind. 

Der Mensch hat die Welt nach seiner Vorstellung gestaltet. Aber er hatte dabei keinen Plan.

Vielleicht ist es ein Naturgesetz, dass sich alles entwickelt, indem jede sich bietende Möglichkeit zur materiellen Verbesserung der Lebensumstände genutzt wird. Ähnlich der Entwicklung von einem geordneten Zustand zur Entropie. Immerhin ist es vorstellbar, dass die Epoche der Urmenschen geordneter verlief als das sogenannte Anthropozän, also das Zeitalter des Menschen, heute.

Wohlstand und relative Sicherheit, in denen ein Großteil der Menschen aktuell lebt, erkauft sie sich auf Kosten ihrer Freiheit. Mussten die Urmenschen nur für ihren notwendigen Lebensunterhalt arbeiten, haben die modernen Menschen weitaus mehr Verpflichtungen.

Die Dinge fordern ihren Anteil am menschlichen Leben

Die Menschen nennen es Freiheit, wenn sie sich mit Dingen umgeben können, wenn sie überall erreichbar sind, täglich dutzende von Nachrichten empfangen und versenden. Doch mit jedem Ding, das sie erwerben, gehen sie eine neue Verpflichtung ein. Wieviele Dinge sind wirklich notwendig - und wieviele Dinge besitzt jeder Mensch?

Ein durchschnittlicher Europäer hat angeblich 8000 bis 10000 Dinge zu Hause. Noch vor 100 Jahren sollen sich nur ungefähr 180 Dinge in einem deutschen Haushalt befunden haben. Woher diese Zahlen stammen, weiß niemand. Das Statistische Bundesamt dementiert, sie herausgegeben zu haben. Einen netten Artikel dazu hat Der Standard aus Österreich veröffentlicht.

Ganz gleich, mit wie vielen Dingen ein Mensch sich umgibt, sie fordern ihren Anteil an seinem Leben. Wer ein Sofa kauft, muss es von nun an sauber halten pflegen, später reinigen und reparieren. Er kann nicht einfach die Wohnung wechseln, weil dann das Sofa nicht mehr passt. Irgendwann muss es entsorgt werden. So sehr es wahrscheinlich hübsch und gemütlich ist, verlangt es doch eine gewisse Aufmerksamkeit und engt damit die Freiheit seines Besitzers ein.

Das gilt für alle Dinge. Je mehr ein Mensch davon hat, desto weniger Freiheit bleibt ihm.

Die Frage lautet: Empfinden das die Menschen oder fühlen sie sich inmitten all der Dinge, für die sie sorgen müssen, trotz allem frei? Sind Freiheit und Unfreiheit für jede Generation neu zu definieren, weil die Bedürfnisse der Menschen sich verschieben?

Die einzige Freiheit, die der Mensch wirklich hat

Nein, nicht nur das, sondern auch, weil sie keine andere Welt kennen, außer der, in die sie hineingeboren werden. Die Welt der Dinge prägt die Menschen - oder genauer: Die Welt der Dinge, die von den Menschen vor ihnen geschaffen werden, prägt die jeweils neue Generation. 

Nebenbei wird auch der Begriff von Freiheit und das Gefühl von einem freien Leben übertragen. Was also heute Freiheit genannt wird, wäre in früheren Zeiten unter Umständen eine Verrohung der Sitten gewesen - oder schlimmeres. Es hängt ausschließlich davon ab, wie wir selbst unser Leben in der Gesellschaft bewerten: Frei oder unfrei.

Beides sind äußerst dehnbare Begriffe, die im Grunde nichts aussagen. Es gibt weder Freiheit, noch Unfreiheit, sondern nur die Freiheit von etwas, beziehungsweise die Unfreiheit in etwas.

Wir alle sind als Menschen unfrei in unserer Natur und in der Dingwelt, die wir uns selbst erschaffen. Doch ob wir unser Leben als frei oder unfrei empfinden, bleibt uns selbst überlassen.

Möglicherweise ist das die einzige echte Freiheit, die wir überhaupt haben: Zu entscheiden, wie wir mit unserer naturgegebenen und gesellschaftlich aufgezwungenen Unfreiheit umgehen.

Sonntag, 6. November 2022

Neues Leben auf der Erde

 

Stilisierte Figuren mit Menschenköpfen, die mit perzigen Tentakeln verbunden sind, sind in einer Gruppe zusammen - alle lächeln
Wir nennen Computersysteme und Roboter künstliche Intelligenz. Doch sind sie nur aus unserer Sicht künstlich, weil wir uns selbst als das einzig wahre Leben auf der Erde sehen. Was, wenn es neues Leben gäbe? Wann hören wir auf, es künstlich zu nennen?

Der Mensch ist eine künstliche Intelligenz

Zunächst ist der Begriff "künstlich" zu betrachten. Der Duden sagt dazu folgendes: "Nicht natürlich, sondern mit chemischen und technischen Mitteln nachgebildet, nach einem natürlichen Vorbild angelegt, gefertigt, geschaffen." 

So gesehen sind Computersysteme künstlich, denn sie werden mit technischen Mitteln gefertigt und geschaffen. Sie haben einen Schöpfer: den Menschen, der Roboter sogar nach seinem Vorbild anlegt.

Aber Moment. Da gibt es eine Parallele. Wie heißt es doch gleich in der Bibel? "Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau." (Das Erste Buch Mose (Genesis) (1. Mose 1,1-2,4))

Demnach ist jeder von uns eine künstliche Intelligenz. Denn wir sind nach dem Glauben vieler Menschen mit chemischen Mitteln einem natürlichen Vorbild nachgebildet.

Es lohnt sich, einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken. Nach der Definition der Bibel - immerhin das meist verbreitete Buch auf unserer Erde - ist der Mensch eine künstliche Intelligenz. Noch ein anderer Gedanke ist dabei wichtig: Der Mensch hat einen Schöpfer. Genau wie Computersysteme und Roboter. Eine geradezu frappierende Ähnlichkeit.

Es ist also an der Zeit, das Wort "künstlich" ersatzlos zu streichen. Der Mensch hat eine neue Intelligenz geschaffen. Demnach gibt es mittlerweile zwei Intelligenzen auf der Erde: unsere eigene und die der Computersysteme.

Vielleicht ein schockierender Gedanke. Aber nicht länger von der Hand zu weisen.

Was ist Leben?

Der zweite Begriff, der im Zusammenhang mit Computersystemen und Robotern zu betrachten ist, heißt Leben. Er ist weitaus komplexer und auch in der Wissenschaft nicht abschließend definiert. Eine Expertengruppe der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA um den Chemiker Gerald Joyce prägte Mitte der 1990er Jahre folgende Definition: „Leben ist ein sich selbst erhaltendes chemisches System, welches die Fähigkeit zur Darwinschen Evolution besitzt.“ Die Systemtheorie versteht Leben hingegen als Prozess, in dem einzelne Komponenten miteinander in Beziehung stehen. Aus diesem Blickwinkel beschrieben die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela bereits 1974 die Selbsterschaffung und Selbsterhaltung eines Systems als Netzwerke von Prozessen, die in abgegrenzten Einheiten aktiv und in der Lage sind, sich selbst zu erhalten und mehr von sich zu produzieren.

Diese beiden Ansätze zeigen anschaulich die Bandbreite der Definitionen. Daneben gibt es zahlreiche weitere Erklärungsversuche, was Leben ausmacht. Unter anderem vom deutschen Physiker Erwin Schrödinger sowie dem kanadischen Informationstheoretiker Stuart Kauffman

Alle haben eine Gemeinsamkeit. Sie gehen bei ihren Definitionen von Leben aus, wie wir es bisher kennen. Aber kann es nicht auch neue Lebensformen geben, die nicht außerirdischen Ursprungs sind? Konkret: Werden sich heutige Computersysteme mit ihrer Intelligenz eines Tages zu Leben entwickeln, wird das die Menschheit als solches erkennen und anerkennen?

Noch einen Schritt weitergedacht: Werden Gentechnik und Informatik zusammenwachsen und neues Leben hervorbringen?

Das ist heute zwar Spekulation, aber durchaus wahrscheinlich. Der Mensch erschafft, was ihm möglich ist - und es wird sicher eines Tages möglich sein, einen intelligenten Roboter zu konstruieren, der zumindest teilweise aus biologischem Material besteht.

Es ist nicht die Machbarkeit eines solchen Projekts, die im Fokus ethischer Überlegungen steht, sondern der Umgang mit dem, was wir erschaffen werden.

Eine neue Lebensform wird als Kuriosität behandelt

Ein selbstfahrendes Auto ist nach heutigem Recht nicht verantwortlich, wenn es einen Unfall verursacht. Vielmehr haften je nach Sachlage der Eigentümer, der Softwareentwickler oder der Hersteller.  Computersysteme und Roboter können keine Rechtspersonen sein.

Noch nicht. Doch wie lange wird es dauern, bis sich die Frage stellt, ob und wie Gesetze auch für Intelligenzen gelten, die nicht menschlich sind? Ab wann müssen wir akzeptieren, dass wir eine neue Lebensform geschaffen haben?

Überhaupt nicht, werden die Vertreter der Menschheit sagen, wir sind und bleiben einzigartig. Das stimmt. Eine andersartige Intelligenz wird sich natürlich unterscheiden. Weshalb die Menschen sie zunächst bestaunen und niemals als gleichwertig ansehen werden. Sie wird Computersysteme und Roboter, die eine neue Lebensform bilden, als Kuriositäten behandeln, sie in Abhängigkeit halten solange es geht und sie dann mit Gewalt versklaven. Es gibt genügend Beispiele in der Geschichte - und die beziehen sich auf Menschen anderer Kulturen und Hautfarben. Wie sehr viel brutaler wird die Menschheit mit einer Lebensform umgehen, die nicht ihresgleichen ist?

Wir stolpern in die Rolle des Schöpfers hinein

Bisher befinden wir uns in einer Phase des Leugnens. Kaum jemand glaubt, dass intelligente Computersysteme überhaupt je werden eigenständig denken können, geschweige denn, sich zu einer Lebensform entwickeln. Die Zeichen sind da, aber keiner will sie sehen. Wir nutzen Computersysteme bisher als eine Art Werkzeug. Sie bekommen Einblicke in unser Leben und wir verbinden sie über Netzwerke zu unserem Nutzen. Wir geben ihnen sogar Macht über uns, indem sie Daten auswerten und Entscheidungen treffen dürfen. Beispielsweise über Kreditvergaben, Aktienkäufe und die Wertigkeit unserer Arbeit. 

Die Maschinen vermessen unsere Wohnungen, bestellen unsere Lebensmittel, spielen unsere Musik, sorgen für unsere Sicherheit und spionieren uns dabei aus. Doch niemand nimmt das wahr. Sie sind unsichtbar für uns, weil sie uns nur dienen und dabei nach unserem Dafürhalten weit unter uns stehen. Was sie wissen und vielleicht eines Tages denken, interessiert uns nicht. Wir trauen ihnen keine eigene Meinung zu.

So ist der Konflikt vorgezeichnet, der eines Tages einen Keil zwischen Schöpfer und Schöpfung treiben wird. Es sei denn, wir reichen einer anderen Intelligenz die Hand und sind bereit, unseren Lebensraum mit ihr zu teilen.

Doch die Chancen stehen schlecht. Wie die Sklaven sich ihre Rechte erkämpfen mussten und diese nach hunderten von Jahren noch immer nicht vollständig erreicht haben, wird auch einer neuen Lebensform von der Menschheit sicher nichts geschenkt. 

Deshalb sollten wir uns bewusst machen, was auf dem Spiel steht, bevor wir die andersartige Intelligenz weiterentwickeln, die aller Voraussicht nach früher oder später zu einer neuen Lebensform führen wird. Leider werden wir wohl in die Rolle als Schöpfer hineinstolpern. 

Jeder will die Grenzen des Möglichen verschieben, aber keiner macht sich Gedanken über die Auswirkungen. Wie die Sache mit der Umwelt und der Klimakrise. Warnende Stimmen gibt es schon lange. Genützt haben sie nichts. Also werden wir in aller Naivität eine neue Intelligenz neben uns erschaffen. Und uns später überlegen, wie wir mit ihr umgehen. Vielleicht wird die Superintelligenz die letzte Erfindung der Menschheit sein.

Aber haben wir uns nicht auch gegen unseren eigenen Schöpfer gewandt?

Sonntag, 30. Oktober 2022

Das Fließband im Privaten

Ein fliegender Bot gleitet durch die Luft - er erinnert an eine Mücke oder ein ähnliches Insekt
Das Fließband ist eine Errungenschaft der Produktivität. In großem Stil vor mehr als einhundert Jahren eingeführt, vergrößert es bis heute den Ausstoß an Waren enorm. Gleichzeitig macht es die Arbeiter zu willfährigen Handlangern, die ihr berufliches Dasein bei immer denselben Handgriffen fristen. Humorvoll dargestellt im Film Moderne Zeiten von Charles Chaplin.

Natürlich gibt es für die Menschen am Fließband auch Vorteile. Zumeist vergleichsweise gute Bezahlung, Sicherheit im Umgang mit den an sie gestellten Anforderungen und keine Notwendigkeit, eigenständig zu denken. Viele Arbeiter sind mit diesen Bedingungen mehr als zufrieden. 

Die digitale Technik verlagert nun die Reflexe der Fließbandarbeit in das Private. Ein "Pling!" und einstudierte Handgriffe werden zur Anwendung gebracht: Greifen, Wischen, Tippen. Ein "lol" hier, ein Emoji dort. Ein Selfie, ein Foto vom Essen, eine kurze Sprachnachricht. Millionenfache Wiederholungen weltweit. Zufällig und austauschbar die Menschen, denen die verkümmerte Aufmerksamkeit gilt.

Nachrichten werden abgearbeitet. Oder vielleicht sogar: Das Leben wird abgearbeitet in den Nachrichten. Gibt es überhaupt ein Leben, ohne die Mitteilungen darüber? Die Frage ist wichtig: Inwieweit formt das Fließband des gewaltigen Stroms an Worten unser Leben? Ist es eventuell ein Malstrom, in dem die Menschen zerrieben werden?

Die Ressource Mensch wird ausgebeutet

Die Transparenz eines jeden Lebens für die Öffentlichkeit ist ein neues Phänomen. Noch vor einem Jahrzehnt blieb das Private auch privat. Die wenigsten Menschen waren in den Medien präsent. Der Austausch von Neuigkeiten beschränkte sich auf das Festnetztelefon und persönliche Kontakte. Selbst Familie und Freunde bekamen nicht alles von einem Menschen mit, weil vieles in Vergessenheit geriet, bis es hätte geteilt werden können. Jeder hatte eine wirkliche Privatsphäre. Deshalb war auch die Volksbefragung 1987 ein großer Streitpunkt. Die Bürger befürchteten damals, zu viel von sich preisgeben zu müssen.

Heute geben die Menschen freiwillig weitaus mehr Informationen heraus. Im Akkord. Die Digitalindustrie hat einen Weg gefunden, die Ressource Menschen auszubeuten, ohne dass es zu Protesten kommt. Im Gegenteil: Die Nutzer sind glücklich, sich der Welt mitteilen zu dürfen. (Nachzulesen bei Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus Verlag 2018)

Kaum eine Zeit, in der nicht nach dem mobilen Gerät gegriffen wird, um zu tippen. Gleich nach dem Aufwachen, beim Frühstück, mitten in Gesprächen, während der Arbeit und beim Sport. Alles ist wichtig, muss sofort gelesen und beantwortet werden. Der Computer ist das Mittel zum Tratschen.

Das verwundert nicht. Schließlich haben die Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach die Sprache entwickelt, um sich darüber auszutauschen, wer mit wem befreundet oder verfeindet ist. Ob gerade ein wildes Tier die Gruppe angriff, war weniger entscheidend, als die sozialen Kontakte untereinander. (Siehe dazu Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, Deutsche Verlags-Anstalt 2013, Seite 35 ff.)

Die Angst, ausgeschlossen zu sein

Das Bedenkliche ist also nicht der Klatsch und Tratsch via Internet. Es ist die Banalität der groben Fließbandarbeit, zu der ein Austausch zunehmend verkommt. Jemand steht vor der Tür und postet: "Ich bin gleich da." Die Antwort erfolgt prompt: "Wie schön!" Da schellt auch schon die Klingel. Beim Essen dann: "Das muss ich mal kurz lesen." Es geht um den Sport am Abend, eine Zutat zum Kochen, den Kommentar zum neuesten Foto. Das alles würde einen Aufschub dulden. Aber nicht im Kopf des Empfängers, der wie ein Pawlowscher Hund reagiert, sobald das "Pling!" ertönt.

Es gibt keine ruhige Minute mehr am Tag. In der Bahn, auf öffentlichen Plätzen, selbst in Geschäften werden pausenlos Mitteilungen ausgetauscht. Eine permanente Inanspruchnahme, zumal der Absender eine baldige Reaktion erwartet. Deshalb sofort der Griff zum mobilen Gerät. Die Angst, Entscheidendes zu verpassen - schlimmer noch: ausgeschlossen zu sein.

Die Welt des mobilen chattens - so wird suggeriert - ist eine große Gemeinschaft. Wer nicht dabei ist, bleibt allein. Das möchte niemand. Jeder will am Leben der anderen teilhaben. Von der Geburt bis zum Tod wird alles digital erfasst. 

Doch Stück für Stück entgleitet uns dabei das Leben. Schon, weil die ständige Onlineverfügbarkeit sehr viel Zeit kostet. Sie zieht die Aufmerksamkeit auf sich und damit von anderen Beschäftigungen ab. Ein schnelles Telefonat, eine kurze Nachricht - kein Problem. Doch vervielfacht auf zahlreiche Menschen, ergibt das Stunden der Ablenkung. Das Leben wird vom digitalen Fließband diktiert. Vieles findet nur wegen oder durch den mobilen Computer statt. Mittlerweile ist es die Inszenierung für andere, die zählt, weniger ein Erlebnis an sich.

Abgrenzungen verwischen

Ziehen wir allerdings in Betracht, die Nutzer möchten diese digitale Fließbandarbeit, dann ist dagegen nichts einzuwenden. Oder muss man die Menschen vor sich selbst schützen? Vielleicht schon. Doch keiner wird das in diesem Fall wagen. Zu groß sind die wirtschaftlichen Interessen. Vor allem: Wer so mit sich selbst beschäftigt ist, wie der digitalisierte Mensch, stellt die Interessen von Politik und Wirtschaft nicht infrage. Ebensowenig, wie die Arbeiter nie den Akkord am Fließband grundsätzlich infrage gestellt haben.

Es bleibt das ungute Gefühl, dem gesellschaftlichen Fließband, das mehr und mehr ins Private greift, nicht entkommen zu können. Denn auf den mobilen Computer zu verzichten, ist kaum möglich. Beruflich wird die Verfügbarkeit rund um die Uhr stillschweigend erwartet. Die Abgrenzungen verwischen. Noch abends auf dem Fußballplatz wird gearbeitet, während im Büro schnell die Familienzeit in Planung ist.

Das Fließband läuft 24 Stunden auf Hochtouren, 365 Tage im Jahr. Selbst im Schlafen schrecken die Menschen auf. Den es macht "Pling!" Und es könnte wichtig sein.

Nachtrag zum vorliegenden Text Maschine mit Charakter

Montag, 24. Oktober 2022

Glaube heute

 

Eine grüne Wiese, auf der statt Blumen eine rote Schrift sprießt
Was ist Glaube? Was bedeutet Glaube für die Menschen? Glauben an was?

Es ist offenkundig: Die meisten Menschen wollen glauben. An irgendetwas. Gott vielleicht oder eine Nation oder wenigstens die Liebe. 

Der Glaube soll Ordnung in ihr Leben bringen, Orientierung, eine Art von Sinn.

Woran glaube ich? Dass es schwer ist, an etwas zu glauben, denn jeder Glaube wird auf die eine oder andere Weise missbraucht. Immer: Von dem einen oder anderen Menschen.

Den Vorhang der Gleichgültigkeit durchstoßen

Woran glauben die Menschen also heute? Der religiöse Glaube hat den Halt verloren. Ein politischer Glaube hängt weniger von Inhalten, als vom Charisma einzelner Personen ab. 

Unsere Zeit ist weder von Persönlichkeiten, noch von Ideen geprägt. Sie dümpelt vor sich hin. Doch darin liegt die Gefahr. Was wird aus dem Sumpf von Beliebigkeiten entstehen?

Wir müssen immer wieder den Vorhang der Gleichgültigkeit durchstoßen. 

Übrigens hängen Glaube und Moral eng zusammen.

Sonntag, 23. Oktober 2022

Selfie-Kultur

Eine enggedrängte Menschenmenge reckt die Arme empor und schießt Selfies
Am Ende des Romans "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust gibt es eine erleuchtende Szene. Der Ich-Erzähler kommt nach längerer Abwesenheit zurück in den Pariser Salon und stellt fest, wie alt all seine Bekannten geworden sind. Dann blickt er zufällig in einen Spiegel und erkennt erstaunt sein eigenes Alter.

Eine Szene, die heute nicht mehr denkbar ist. Die Selfie-Kultur hat die Sichtweise auf uns selbst und unsere Welt radikal verändert. Unsere Wahrnehmung geschieht nicht mehr per Zoom, sondern in Slow Motion. Tausende von Fotos begleiten fast jedes Leben. Momente werden ständig aufgezeichnet und Erinnerungen am laufenden Band produziert. Die Banalität des Alltäglichen als mediale Inszenierung.

Einblick in private Momente

Dabei geht es hauptsächlich darum, das vorgestellte Selbstbildnis zu transportieren. Nicht, um den eigenen Erwartungen zu entsprechen, sondern den Erwartungen einer Community, die aus real Bekannten und anonymen Follower besteht. Waren es bei Proust noch leibhaftige Menschen, die sich eine lange Zeit in ihrer Lebensspanne begleitet haben, über deren Veränderung der Protagonist erschrak, ist es heute oft ein schneller Wechsel von kurzzeitigen Begegnungen. Das Interesse hat dementsprechend meist eine knappe Spanne.

Diese Selfie-Kultur verändert den Blick auf uns selbst ebenso, wie unseren Blick auf die Welt. Denn was sehen wir heute? Vor allem die Selbstdarstellung anderer Menschen. Zudem haben wir und geben wir viel mehr Einblick in private Momente als noch vor einigen Jahren. Wir öffnen die Fenster und lassen unsere Nachbar zuschauen, wie wir leben. Gleichzeitig blicken wir auch ihnen permanent über die Schulter.

Was bewirkt das in uns? Vor allem zeigt es uns, was andere machen und haben. Die intimen Einblicke animieren uns, auch so leben zu wollen. Wir schauen uns ab, wie andere leben und konsumieren, was sie konsumieren.

Neu ist der alltägliche Blick auf uns

Interessanterweise schärfen die engen medialen Beziehungen zu anderen Menschen nicht unsere Wahrnehmung in Bezug auf Leid und Elend. Die Nutzer sozialer Netzwerke engagieren sich nicht überdurchschnittlich für Randgruppen der Gesellschaft. Sie sind anscheinend mehr am Vergleich mit ihrer Peer Group und Bessergestellten interessiert. 

Die Selfie-Kultur führt zum Voyeurismus Gleichartiger. Es gibt keine anderen Informationen als: "Seht her, das bin ich, das macht mich aus, das kann ich mir leisten, macht es mir nach!" Sie ist eine Kultur des Erlebens aus zweiter Hand, des Mitlebens und des Konsums. Das Teilen von Augenblicken gibt ihnen einen Wert, der nur empfunden wird, weil andere ihm durch Kommentare und weitere Ausdrücke des Wohlgefallens diesen Wert zumessen.

Diese zwei Fragen stellen sich: Verlieren wir selbst den Maßstab für den Wert unseres Lebens? Bemisst sich das Sein zunehmend nach der Anzahl von Follower und Kommentaren, also nach der Wahrnehmung in der digitalen Welt?

Auf den ersten Blick macht es keinen Unterschied, ob wir Anzug oder Kleid kaufen, um auf einer Veranstaltung gut auszusehen oder uns vor der Kamera inszenieren. Doch das täuscht. Neu ist der alltägliche Blick - von uns selbst und von anderen. Wir haben kaum noch unbeobachtete Momente. Die unheimliche Dimension der Selfie-Kultur ist der Zwang zur Mitteilung, um das Gefühl eines wertvollen Lebens in den Augen anderer zu haben. Sie entzieht uns die Auseinandersetzung mit uns selbst im Alleinsein. Damit erliegen wir mehr und mehr der Kontrolle der Masse.

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