Überhaupt die Wiederentdeckung der Handschrift. Ohne Autokorrektur und in einem ganz eigenen Stil.
Welch weiten Weg sind wir seit der Erfindung der Schrift gegangen: Von Ton und Stab über Papyrus und Federkiel, Bleistift und Füllfederhalter bis zum mobilen Computer, der uns die Rechtschreibung vorschreibt und das Denken abnimmt.
Kulturkampf per Fingertip
Viele Schüler sind heute schon nicht mehr daran gewöhnt, ohne Unterstützung zu schreiben. Ihre Texte bestehen oft aus unverständlichen Wortneuschöpfungen, die einen Sinn schwer entzifferbar machen. Dafür beherrschen sie das Tippen mit zwei Daumen in Perfektion und verwenden spielend eine unüberschaubare Zahl von Emojis.
Kulturelle Fertigkeiten verschieben sich. Eltern, die als Kinder Ärger bekamen, weil sie Comics lasen, erleben heute, wie ihre eigenen Kinder und Enkel per Bildchen kommunizieren. Und natürlich per Video. Neulich wurde eine Schule weltweit bekannt, weil ein muslimisches Mädchen von der Toilette aus ohne Kopftuch ein Modevideo gepostet hat. Kulturkampf per Fingertip.
Zurück zur Handschrift. Was geht uns alles verloren, wenn wir nur noch in mobile Geräte tippen? Die Handarbeit. Das sinnliche Erleben des Übergangs von gestaltlosen Gedanken zu einem greifbaren Eintrag auf einem Stück Papier, handgeschöpft vielleicht, das sich glatt, fest und doch zugleich empfindlich anfühlt. Das einen Geruch hat und eine Oberfläche, die den Fluss der Tinte aufnimmt und Gedanken damit ein Aussehen verleiht, eine Erscheinung in Form einer ganz eigenen, einmaligen Handschrift.
Genau genommen ist eine handschriftliche Textseite auch ein Bild. Jede einzelne Seite ist ein Bild. Diese Bilder erzählen Geschichten. Ein Leser muss sich nur die Mühe machen, sie zu - lesen.
Literatur löst kaum noch Debatten aus
Schrift ist beständig. Noch nach fast 5000 Jahren wissen wir von der historisch ersten Autorin, die ihr Werk namentlich gezeichnet hat: En-hedu-ana, Hohepriesterin des Mondgottes Nanna in der südmesopotamischen Stadt Ur. In sehr persönlichen Texten trägt sie mit viel Leidenschaft ihre Gefühle vor, darunter trübe Gedanken über Leiden und Schicksal, über menschliches Tun und göttliche Vergeltung.
Was für ein Unterschied zu den vergänglichen 24 Stunden von Snapchat. Heutige Geschichten sind dagegen bloße Wegwerfprodukte. Sie werden konsumiert, kaum aufgenommen und nicht diskutiert. Literatur löst keine hitzigen Debatten mehr aus.
Nur, weil die Handschrift verlorengeht? Na klar, wir verlieren den direkten Bezug zu unseren festgehaltenen Gedanken. Die Mitteilung ist zur digitalen Massenware geworden. Leser können nicht sicher sein, die originalen Worte eines Mitmenschen zu lesen. Selbst der kleine Eingriff der Autokorrektur verändert alles. Es gibt keine Streichungen mehr, keine Gelegenheit, Veränderungen im Text nachzuvollziehen. Ganz abgesehen von den zum Teil sinnentstellenden Neuworten. Gedanken werden zensiert. Möglicherweise noch nicht mit der Absicht einer Zensur, aber doch ist es ein Eingriff, der verfälscht.
Gedanken in der Hand behalten
Wir leben also in einer Zeit der massenhaften Verfälschung. Der Sinn menschlicher Gedanken wird ständig entstellt - und die Nutzer finden das vollkommen normal. Sie wollen es sogar ausdrücklich. Denn sie ersparen sich die Auseinandersetzung mit ihren eigenen Texten. Damit aber auch mit ihren ureigensten Gedanken. Sie lassen zu, von einem Algorithmus bevormundet zu werden.
Es ist auch nicht nur die Autokorrektur. Längst werden ganze Texte von Computern geschrieben und Videos von künstlicher Intelligenz produziert. Die Menschen lassen sich im wahrsten Sinne des Wortes ihre Gedanken aus der Hand nehmen.
Deshalb ist die Handschrift wichtig. Um die eigenen Gedanken in der Hand zu behalten.
Die unverwechselbare Signatur des Schreibens
Gut, es gab bereits die Entwicklung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Schon dadurch wurde Literatur zur Massenware. Aber sie blieb wenigstens Handarbeit. Selbst die Zensur musste mit eigener Hand eingreifen.
Das Unheimliche heute ist das Heimliche. Ohne Handschrift keine sichtbaren Veränderungen. Ob Mensch oder Computer: Bei einem getippten Text ist die Typografie dieselbe, jede Handschrift dagegen einzigartig. Die unverwechselbare Signatur des Schreibers.
Also kehren wir zurück zum Füllfederhalter, der geschmeidig in unserer Hand liegt und mit dem Fluss seiner Tinte unseren Gedanken schwungvoll Kontur verleiht.
Der Charme der Handschrift ist ihre Unvollkommenheit. Die Streichungen im Geschriebenen, die verschmierte Tinte irgendwo, der Knick im Papier. All das sind wir, das ist authentisch menschlich. Der glatte Text, fehlerfrei durch moderne Technik, korrekturgelesen und hinterfragt von einem Algorithmus, ist es hoffentlich nicht.