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Samstag, 22. Oktober 2022

Auf der Suche nach Wahrheit

Ein Gebäude, das an den Berliner Reichstag erinnert, davor rundliche Bänke wie aus Plastik geformt und eine fiktive Stadt mit Fachwerkhäusern
Wer nimmt nicht alles für sich in Anspruch, die Wahrheit zu kennen. Aber keiner sagt, welche Wahrheit gemeint ist. Denn niemand weiß, was Wahrheit überhaupt ist.

"Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar", schreibt die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. Doch auch hier: Welche Wahrheit, bitte?

Beispiel amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Dort lautet der erste Satz: "Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit." Nun ja, eine politische Aussage. Allerdings sind nicht alle Menschen gleich erschaffen. Und was hat es mit diesem Schöpfer auf sich, an den zwar viele Menschen glauben, den wir aber nicht fragen können, ob er seine Beteiligung an unserer Begabung auch für wahr hält?

Die andere Seite der Medaille

Für die absolute Wahrheit werden gerne höhere Mächte bemüht. Das macht Eindruck und sie widersprechen nicht. Entweder, weil es sie nicht gibt oder weil unsere Angelegenheiten zu unbedeutend sind, um sich von "oben" einzumischen. Doch weshalb werden diese Mächte überhaupt zitiert? Weil die Wahrheit nicht von selbst wahr ist, sondern von irgendeiner Instanz als wahr abgesegnet werden muss.

Das betont auch der Philosoph Friedrich Schlegel, wenn er schreibt: "Es gibt keine wahre Aussage, denn die Position des Menschen ist die Unsicherheit des Schwebens. Wahrheit wird nicht gefunden, sondern produziert. Sie ist relativ."

Mit anderen Worten: Wir alle erzählen uns Geschichten, deren Wahrheitsgehalt wir einfordern. Andere sollen unseren Worten Glauben schenken und sie als wahr erachten.

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari stellt die Frage, ob der Menschen den Weizen domestiziert hat oder der Weizen den Menschen? 

Es lässt sich eben auch alles von einer anderen Seite betrachten - und plötzlich entsteht eine neue Wahrheit vor unseren Augen.

Wer entscheidet, was Wahrheit ist?

Jeder. Denn jeder von uns hat sein eigenes Wertesystem. Deshalb werden wir auch niemals irgendeine Wahrheit kennen, wie Karl Popper herausgestellt hat.

Ist es also an der Zeit, sich von dem Wahrheitsbegriff zu verabschieden? Ja, denn selbst die einfache Forderung: "Sag jetzt endlich die Wahrheit!" funktioniert nicht. Besser sollte es heißen: "Schildere mir deine Sicht der Dinge!"

Im täglichen Leben ordnen wir schon lange Wahrheit einer praktikablen Verbindlichkeit unter. So trägt beispielsweise bei einem Unfall der Auffahrende definitionsgemäß die Schuld. Gleichgültig, wie die Situation tatsächlich ist. 

Anstelle irgendeiner Wahrheit zu glauben, sollten wir uns lieber trauen, zu denken. Denn hinter sogenannten Wahrheiten verbergen sich allzuoft Ideologien, die als Wahrheit ausgeben, was ihren Zielen nutzt. 

Charles Darwin bringt das auf den Punkt: "Die Wahrheit ist etwas, das jeder seinen eigenen Ideen zuschreibt."

Geben wir die Suche nach Wahrheiten also auf und konzentrieren uns darauf, was wir wirklich gut können: Uns gegenseitig Geschichten erzählen.

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