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Montag, 19. Juni 2023

Die Masse applaudiert beifällig der Macht

So wie auf diesem Bild, stellen wir uns Macht vor - doch sie ist viel abstrakter
Ist es also Macht, die mit Hilfe der Masse Werte aus dem kollektiven Strom zieht, um nicht nur die Masse, sondern komplette Gesellschaften zu manipulieren? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst erkundet werden, was Macht ist. Die Definition bei Wikipedia lautet: „Macht bezeichnet die Fähigkeit einer Person oder Gruppe, auf das Denken und Verhalten einzelner Personen, sozialer Gruppen oder Bevölkerungsteile so einzuwirken, dass diese sich ihren Ansichten oder Wünschen unterordnen und entsprechend verhalten.“ 

Dazu bedarf es eines Interesses. Denn wer Macht ausübt, benötigt einen Grund. Macht ist immer zielgerichtet. Dabei gibt es stets eine psychologische Intention und eine materielle Komponente. Auf diesen beiden Ebenen befriedigt die Ausübung von Macht. 

Jeder braucht ein Quäntchen Macht

Zu unterscheiden ist zwischen Menschen, die Macht anstreben und jenen, die sie nur stellvertretend, oft widerstrebend anwenden. Erstere machen sich Macht zu eigen, beispielsweise als Personalleiter eines Unternehmens, um sie für ihre eigenen Ziele einzusetzen, während Angehörige der zweiten Gruppe sogar darunter leiden, wenn sie zum Beispiel Kraft ihrer Befugnisse Mitarbeiter entlassen oder maßregeln. Sie fühlen sich unwohl mit der Macht, die andere genießen.

Das zeigt: Macht ist eine äußerst zwiespältige Angelegenheit. Sie zerstört Menschen. Entweder die Opfer von Machtausübung oder diejenigen, die Macht ausüben. Oft auch beide.

Weshalb streben Menschen dann nach Macht? Um ihre Ideen und Vorstellungen durchzusetzen. Jeder braucht ein Quäntchen Macht für die Bewältigung seines Lebens. Nicht umsonst gibt es die Redewendung: Der Kunde ist König. Darin drückt sich ein klares Machtverhältnis aus. Die Macht, Geld in einem Geschäft auszugeben oder auch nicht. Allein wegen dieser Möglichkeit der Machtausübung wird der Kunde umworben.

Mindestens eine Hand voll Macht

Das kennzeichnet die Machtstruktur in modernen Gesellschaften. Körperliche Gewalt als Machtbasis wurde zugunsten monetärer Gewalt zurückgedrängt. Nicht mehr der Stärkste setzt sich durch, sondern der Wohlhabendste. In einigen Ländern ist das exemplarisch bei Gerichtsverfahren zu beobachten. Wer sich die besten (und damit teuersten) Anwälte leisten kann, hat dort bessere Chancen auf einen für ihn guten Ausgang des Verfahrens. Es ist viel Wahres an dem Spruch: Geld regiert die Welt.

Fast jeder Mensch hat also täglich mindestens eine Hand voll Macht. Wie geht er damit um? Höchst unterschiedlich. Die meisten nutzen sie nicht, sind sich ihrer aber zumindest unbewusst sicher. Denn sobald sie unzufrieden werden, spielen sie ihre Macht aus. Sie betreten das Geschäft nicht mehr, in dem sie zuvor regelmäßig eingekauft haben. Oder verlangen den Abteilungsleiter zu sprechen. Manche versuchen andere Kunden auf ihre Seite zu ziehen und auf diese Weise ihre Macht zu vergrößern. Den gleichen Zweck erfüllen Verbraucherschutzorganisationen, Mietervereine und Gewerkschaften. Jedes Mal geht es um Macht durch Masse.

Dabei verleiht Masse allein keine Macht. Sie ist ein Schauspiel, eine Bühne, eine Umrahmung von Macht und eine eindrucksvolle Pseudolegitimation. Aber kein besonderer Machtfaktor. Erstaunlicherweise. Denn Wahlen werden ausschließlich durch die Masse der Wähler gewonnen, Revolutionen durch die Masse unzufriedener Bürger entschieden. Trotzdem ist Masse weder Auslöser, noch Garant für Macht, weil Macht sich gerade in der Fähigkeit zeigt, Masse zu manipulieren. Das heißt, zuerst ist die Macht, der die Masse sich unterordnet und bereitwillig folgt.

Die Schwäche der Masse ist ihre Zersplitterung

Macht spielt mit Masse. Die Menge Mensch ist Ausdruck für die Kraft einer Idee oder Vorstellung. Sie umkreist Visionen und Möglichkeiten, sammelt sich dort, wohin Macht ihr den Weg weist. Dementsprechend bedeutet Macht die Bewegung, in die eine Masse mittels Ansprache versetzt werden kann. Zumal die Bewegung zu konkreten Handlungen führt, die von der Macht nicht mehr explizit vorgegeben werden müssen. 

Macht weist Masse die Richtung. Danach agieren die Menschen selbständig, indem sie sich in immer kleinere Gruppen unterteilen, die ihre eigene Machtstruktur aufweisen. Die Grundidee eilt von Machtzentrum zu Machtzentrum, wird unterteilt, angepasst, verfeinert und dadurch letztlich umgesetzt. Durch die Aufteilung wird Macht zwar in verschiedenen Segmenten jeweils begrenzt, bezieht sich dafür aber immer direkter auf konkrete Menschen oder Gruppen von Menschen. So bestimmt der Vorstand die Ausrichtung eines Unternehmens, die auf Direktorenebene ausgestaltet, von Abteilungsleitern konkretisiert und schließlich von Teams in Produkte, Dienstleistungen und Kundenservice umgesetzt wird. Dabei hat jede Ebene die Macht, Erweiterungen, Kürzungen, Umstrukturierungen oder andere notwendige Schritte im Rahmen des Gesamtplans vorzunehmen, muss sich allerdings auch der größeren Macht gegenüber verantworten. Die Masse der Aktionäre oder Arbeitnehmer spielt bei all diesen Entscheidungen keine Rolle. Ihre Bedeutung steigt erst bei Konflikten, zum Beispiel Arbeitskämpfen.

Die Schwäche der Masse gegenüber Macht ist ihre Zersplitterung. Sie benötigt eine einende Idee und damit wieder eine Macht. So steht letztlich Macht gegen Macht und die Masse ist lediglich eine Waffe in der Hand dieser Mächte. Wohlgemerkt beider Mächte. Denn zum Beispiel bei einem Streik stehen die Arbeitnehmer zwar auf Seiten der Gewerkschaft, die bewusst Arbeitsniederlegungen als Druckmittel einsetzt. Doch auf der anderen Seite bezahlen Unternehmen ihren streikenden Mitarbeitern keinen Lohn und hungern sie damit irgendwann aus – spätestens, wenn der Gewerkschaft das Geld ausgeht. So wird die Masse gegebenenfalls auch zur Stärke der Arbeitgeber.

Bei einem Machtkampf geht es um Deutungshoheit und die Kraft, sie durchzusetzen. Ähnlich der Auseinandersetzung zweier Alphamännchen in einem Rudel. Der Unterlegene reiht sich ein, der Stärkere gibt seine Gene weiter. Im Falle eines Machtkampfes in einer Partei oder einem Unternehmen geht es natürlich um Ideen und Machtstrukturen, die der Sieger in der Organisation implementiert. Die Masse applaudiert beifällig.

Samstag, 22. Oktober 2022

Auf der Suche nach Wahrheit

Ein Gebäude, das an den Berliner Reichstag erinnert, davor rundliche Bänke wie aus Plastik geformt und eine fiktive Stadt mit Fachwerkhäusern
Wer nimmt nicht alles für sich in Anspruch, die Wahrheit zu kennen. Aber keiner sagt, welche Wahrheit gemeint ist. Denn niemand weiß, was Wahrheit überhaupt ist.

"Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar", schreibt die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. Doch auch hier: Welche Wahrheit, bitte?

Beispiel amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Dort lautet der erste Satz: "Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit." Nun ja, eine politische Aussage. Allerdings sind nicht alle Menschen gleich erschaffen. Und was hat es mit diesem Schöpfer auf sich, an den zwar viele Menschen glauben, den wir aber nicht fragen können, ob er seine Beteiligung an unserer Begabung auch für wahr hält?

Die andere Seite der Medaille

Für die absolute Wahrheit werden gerne höhere Mächte bemüht. Das macht Eindruck und sie widersprechen nicht. Entweder, weil es sie nicht gibt oder weil unsere Angelegenheiten zu unbedeutend sind, um sich von "oben" einzumischen. Doch weshalb werden diese Mächte überhaupt zitiert? Weil die Wahrheit nicht von selbst wahr ist, sondern von irgendeiner Instanz als wahr abgesegnet werden muss.

Das betont auch der Philosoph Friedrich Schlegel, wenn er schreibt: "Es gibt keine wahre Aussage, denn die Position des Menschen ist die Unsicherheit des Schwebens. Wahrheit wird nicht gefunden, sondern produziert. Sie ist relativ."

Mit anderen Worten: Wir alle erzählen uns Geschichten, deren Wahrheitsgehalt wir einfordern. Andere sollen unseren Worten Glauben schenken und sie als wahr erachten.

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari stellt die Frage, ob der Menschen den Weizen domestiziert hat oder der Weizen den Menschen? 

Es lässt sich eben auch alles von einer anderen Seite betrachten - und plötzlich entsteht eine neue Wahrheit vor unseren Augen.

Wer entscheidet, was Wahrheit ist?

Jeder. Denn jeder von uns hat sein eigenes Wertesystem. Deshalb werden wir auch niemals irgendeine Wahrheit kennen, wie Karl Popper herausgestellt hat.

Ist es also an der Zeit, sich von dem Wahrheitsbegriff zu verabschieden? Ja, denn selbst die einfache Forderung: "Sag jetzt endlich die Wahrheit!" funktioniert nicht. Besser sollte es heißen: "Schildere mir deine Sicht der Dinge!"

Im täglichen Leben ordnen wir schon lange Wahrheit einer praktikablen Verbindlichkeit unter. So trägt beispielsweise bei einem Unfall der Auffahrende definitionsgemäß die Schuld. Gleichgültig, wie die Situation tatsächlich ist. 

Anstelle irgendeiner Wahrheit zu glauben, sollten wir uns lieber trauen, zu denken. Denn hinter sogenannten Wahrheiten verbergen sich allzuoft Ideologien, die als Wahrheit ausgeben, was ihren Zielen nutzt. 

Charles Darwin bringt das auf den Punkt: "Die Wahrheit ist etwas, das jeder seinen eigenen Ideen zuschreibt."

Geben wir die Suche nach Wahrheiten also auf und konzentrieren uns darauf, was wir wirklich gut können: Uns gegenseitig Geschichten erzählen.

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