Das grelle, brodelnde Leben
Wer sind wir im digitalen Raum? Welche Werte gelten und wie übertragen sie sich in die reale Welt?
Der Unterschied zwischen dem digitalen und dem realen Raum ist folgender: Wir sind der digitale Raum. Er ist der Ort, der nur aus unseren Gedanken besteht. Während der reale Raum auch unsere Dingwelt und die Natur enthält, beinhaltet der Cyberspace ausschließlich die menschliche Fantasie. Insoweit erzählte unsere Geschichte.
Er ist aber auch der Ort, an den wir die reale Welt übertragen. Viele Menschen geben sich unheimlich Mühe, ganze Städte online neu und punktgenau aus Pixeln zu erbauen. Mit ein paar Unterschieden: manche Häuser schweben, Avatare haben Flügel und gelegentlich streunen Drachen durch die Straßen. Ansonsten gibt es Universitäten, Galerien und Bibliotheken, Cafés, Strände, Boutiquen und selbstverständlich – Bordelle. Das grelle, brodelnde Leben.
Nur besser?
Unmittelbarer. Die Menschen erfinden sich ohne Limit neu. Sie können Zauberwesen sein. Vor allem bewegen Sie sich anonym durch einen scheinbar unendlichen Raum der Möglichkeiten.
Doch zu unserem großen Erstaunen bleiben Sie nur sie selbst in neuem Gewand. Aber vielleicht ist das Erstaunen auch gar nicht allzu groß. Was sonst sollten die Menschen sein? Sie sind ihre Natur verhaftet, den Notwendigkeiten ihres Lebens. Also beschaffen sie sich online alles, was sie brauchen. Das Internet ist aus diesem Grund schnell zu einem großen Marktplatz, zu einem globalen Laden geworden. Dort gehen die Menschen in der Sicherheit ihrer Wohnungen auf Schnäppchenjagd. Mit Bestellung verwandeln sich die virtuellen Waren in wirkliche Dinge, die sich die Menschen einverleiben können. Es gibt eine Schnittstelle und die zeigt, dass die online Welt nicht eigenständig ist. Kein Mensch lebt einzig und allein in ihr. Bisher ist der Cyberspace nur eine Erweiterung unserer realen Welt. Möglicherweise wird sich das irgendwann in der Zukunft verändern. Bisher überträgt die Menschheit lediglich ihr Denken und Handeln auf ein neues Medium.
Das führt zu Interessenkonflikten. Termine müssen abgestimmt werden, um die reale mit der virtuellen Welt in Einklang zu bringen. Wer sich in dem fantastischen Metaversum eines Multiplayer online Games einrichtet, wird dort zwar ein Held sein, verliert aber bald den Bezug zu der Dingwelt, in der er die Notwendigkeiten seines körperlichen Lebens erledigen muss. Solange diese Notwendigkeit nicht Teil des Cyberspace werden, bleiben die Menschen zwei geteilt. Zweigeteilt bleiben dann auch die Werte.
Voyeure
In der Anonymität des Internet verhalten sich die Menschen wie unsichtbare Fremde. Ähnlich dem Sartreschen Ich, dass durch das Schlüsselloch schaut. Doch online fällt der Blick des anderen nicht auf das erschrockene Ich eines Menschen. Er fällt auf das virtuelle Ich eines Avatars.
Das ist kein Ich, sondern ein Es. Ein Es, das zwar auf das Ich hinter dem Avatar zurückwirkt, dieses versteckte Ich aber nie unmittelbar erreicht, sondern nur gefiltert über die Anonymität des Rollenspiels.
Online schaltet der Mensch eine Instanz zwischen sich und die Welt. Er nimmt eine neue Identität an, die zwar nichts von den Notwendigkeiten des Lebens wissen kann und sie auch nicht ausführt, dafür aber das Ich hinter der Maske seines Avatars von allen Werten befreit, von denen es sich eingeengt fühlt und von denen es sich befreien will. In gewisser Hinsicht ist der Mensch im Metaversum frei – und nur dort. Es ist mehr als der Blick durch das Schlüsselloch. Er betritt den Raum hinter der Tür, den er in der realen Welt nur beobachten kann und agiert in diesem Raum. Der Mensch schlüpft durch das Schlüsselloch und macht selbst, was er bisher nur sah. Ohne den Blick eines anderen befürchten zu müssen. Der Voyeur wird zu handelten Person, die den Blicken nicht ausweicht, sondern sie auf sich zieht, um sich in ihnen zu sonnen.
Andererseits darf, wer Voyeur sein möchte, es im Internet sein. Das Schlüsselloch ist weit offen und niemand muss heimlich spähen. Die Akteure leben von den Beobachtern. Das zur Schau stellen geschieht mit Absicht und die Zuschauer sind Teil der Inszenierung.
Das Internet schafft neue Werte und lässt die alten hinter sich. Dass „Sie“ stirbt zugunsten des „Du“. Nur eine Folge der digitalen Revolution. Allerdings bringt die Schnittstelle beider Welten Probleme mit sich. Ein Held auf der einen Seite, ein arbeitsloser Nichtsnutz auf der anderen wie passt das zusammen?
Werte prallen aufeinander. Die Internethelden werden irgendwann sehr wütend auf die Welt, die ihre Körper gefangen hält, ihnen aber sonst nichts zu bieten hat. Sie werden eine Onlineheimat fordern, sobald es der Masse möglich sein wird, in der virtuellen Welt ausreichend Geld zu verdienen. Vielleicht als Cyberhausmeister, Metaversumguide und Menschenerklärer für KI–Algorithmen. Es wird Möglichkeiten geben. Eventuell eine neue Staatsbürgerschaft für Avatare und die Menschen hinter ihnen. Ein Online–Finanzsystem und natürlich eine Steuerbehörde.
Auch Roboter befolgen Gesetze
Die Frage wird sein, ob der alte Mensch nur eine neue Welt besiedelt oder ob er bereit ist, eine wirklich neue Welt aufzubauen, in der Werte von Grund auf überholt und anders, der Welt immanent definiert werden.
Schon heute stellt sich diese Frage. Bei autonom fahrenden Autos zum Beispiel. Welche Werte kann ein Programm ihnen geben, um in gefährlichen Situation richtige Entscheidungen zu treffen? Welche Werte gelten, wenn es keine logisch richtige Entscheidung gibt? Je intelligenter künstliche Systeme werden, desto dringender stellt sich die Frage nach Werten. Das schlaueste Schachprogramm beispielsweise: Hat es die leiseste Ahnung von Sportsgeist? Vermutlich nicht. Braucht es das auch nicht oder bestehen wir darauf? Sind unsere Werte nur menschlich oder universell?
Der Science-Fiction Autor Isaak Asimov hat drei Roboter Gesetze formuliert, mit denen er der künstliche Intelligenzwerte zum Schutz der Menschen und ihrer selbst mit gibt. Sie lauten:
1. Ein Roboter darf kein menschliches Wesen wissentlich verletzen oder durch Untätigkeit wissentlich zulassen, dass ein menschliches Wesen verletzt wird.
2. Ein Roboter muss menschlichen Befehlen Folge leisten – es sei denn, die Ausführung des Befehls kollidiert mit der ersten Regel.
3. Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen – es sei denn, dies kollidiert mit der ersten oder zweiten Regel.
Es ist offensichtlich, worauf diese Regeln hinauslaufen. Roboter sind demnach die modernen Sklaven der Menschheit. Es gibt kein ethisches Problem, da sie nicht als Lebewesen gelten und ihnen keine Gefühle zugestanden werden.
Später hat Asimov ein nulltes Gesetz hinzugefügt, dass Roboter verpflichtet, die Menschheit zu schützen. Allerdings ist das bedenklich, da es ihnen in diesem Fall erlaubt, einzelne Menschen zu töten.
Das Dilemma mit künstlicher Intelligenz zeigt gut das Dilemma mit Werten insgesamt. Ihre Wertigkeit ist eine Frage der Auslegung und dabei kommt es darauf an, wer sie auslegt und zu welchem Zweck.
Da ist es wieder: „Du sollst nicht töten – es sei denn, ich befehle es dir!“
Die Definitionsgewalt über Werte liegt bei denjenigen, der sich mit seiner Sichtweise durchsetzt. Sollte sich morgen jemand zum Kaiser der Welt ernennen lassen wollen, würde er wahrscheinlich früher oder später in der Psychatrie landen. Würden ihn aber zumindest einige Nationen anerkennen, hätte er eine Chance, mit seiner Idee durchzukommen.
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