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Mittwoch, 15. Februar 2023

Werte sind Bestandteile im alltäglichen Wahnsinn des menschlichen Lebens

Bäume formen sich in Gemeinschaft zu einem Wald, wie Menschen in Städten zu einer Gesellschaft

Die Anregungen kommen von außen. Menschen haben Angst vor diesem Außen. Sie ertragen es nur von einem sicheren Standpunkt aus. Wer sich auf Neues einlässt, braucht eine Möglichkeit zum Rückzug. Jeder hat einen Fluchtinstinkt und muss wissen, wohin er fliehen kann. Für viele Menschen sind ihre Werte das Gebiet, auf das sie sich zurückziehen, wenn das Außen ihnen Angst bereitet.

Das Leben kann furchteinflößend sein. Es hilft, wenn ein Mensch sich auf sich selbst und andere verlassen darf. Doch wenn nicht wegen der Werte, die sie miteinander teilen, weshalb sollten sich Menschen sonst aufeinander verlassen können? Werte liegen ihnen nahe, anderen zu helfen oder sich für erfahrene Hilfe dankbar zu zeigen. Sie regeln auch den Umgang miteinander, bis hin zum Sprachgebrauch. Werte sind ein Wegweiser für das Verhalten von Menschen, die sich nahe stehen oder aus anderen Gründen zusammenkommen.

Dinge bringen uns mit Menschen zusammen

Wie Wasser allmählich Steine glättet, so beeinflusst das Außen die Menschen. Sie vertreten im Laufe der Zeit andere Werte und passen ihre Werte an. Dabei ist das nicht die Intention dieses Außen. Es ist einfach nur da und umgibt die Menschen wie Wasser im Meer oder die Luft zum Atmen. Doch seine ständige Präsenz hinterlässt Spuren. Es schleift die Menschen ab. Schlimmstenfalls zerbricht es sie.

Was ist dieses Außen? Alles, was die Menschen umgibt: von der Natur über die von Menschen gemachte Dingwelt bis zur Bürokratie, Geschichten und anderen Menschen. Das Außen besteht aus Menschen und Nichtmenschen. Denn auch die Dinge, die wir uns anschaffen oder erschaffen, haben Einfluss auf uns. Wir denken, wir wollen die Dinge und beherrschen sie. Doch in Wirklichkeit ist die Wirkung, die wir auf die Dinge haben und sie auf uns, wechselseitig. Kaufen wir uns etwas, werden wir es nicht nur zu unserer Freude benutzen. Wir müssen auch darauf achten, es pflegen und gegebenenfalls reparieren. Die Dinge fordern unsere Aufmerksamkeit. Dadurch belegen sie unsere Zeit und beeinflussen unseren Tagesablauf. Nicht nur das: Die Dinge bringen uns mit anderen Menschen zusammen, weil wir unter Umständen Expertenwissen und Hilfe benötigen. Eventuell treten wir aufgrund eines Dings einem Verein bei oder engagieren uns für etwas.

Wer sich zum Beispiel ein Instrument kauft, braucht nicht nur einen Musiklehrer zum Üben, sondern sucht sich irgendwann ein Orchester oder Gleichgesinnte für eine Band, um gemeinsam zu musizieren. Auf diese Weise erweitert der Musikant Seine Fähigkeiten und verbindet sich mit anderen Menschen. Das hat Auswirkungen auf seine Werte. War er bisher eher unpünktlich und unzuverlässig, wird er sich in diesen Punkten ändern, wenn er dauerhaft mit anderen musizieren will. Er wird sich den Werten der anderen anpassen, damit das Orchester funktioniert oder die Band ein Erfolg wird. Sollten die anderen sich umgekehrt ihm anpassen, wird es aller Voraussicht nach nicht viele Proben geben, weil kaum alle – und schon gar nicht pünktlich – jemals zusammen üben werden.

Wert und Werte hängenden zusammen

Werte setzen sich also nach Praktikabilität durch. Gruppen einigen sich auf Werte, die sie möglichst wenig einengen, bei gleichzeitig maximalem Konsens. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner. Die Schwierigkeiten sind ganz gut bei Kindern zu beobachten. Sie teilen die Werte einer Gruppe, beispielsweise leise zu sein, solange sie können. Doch wenn sie auf einmal auf andere Ideen kommen und plötzlich toben wollen, werfen Sie alle Werte über Bord und stürmen los. Davon fühlen sich natürlich alle gestört und ermahnen die Kinder. Sie reagieren ärgerlich und vermitteln so den Wert leise zu sein. Aber für den Moment werden sich die Kinder nicht abhalten lassen – und weil der Wert, Kinder gut zu behandeln, sehr hoch im Kurs steht, dürfen sie das auch, ohne mehr als genervte Worte befürchten zu müssen.

Das gilt übrigens auch für den Musiker. Ist er ein Ausnahmetalent, werden ihm die anderen seine Fehler eher nachsehen, als wenn er nur ein durchschnittlich begabter Musiker ist. Je höher also der Wert eines Menschen, desto geringer der Anspruch an seine Werte. Von manchen Menschen wird geradezu erwartet, dass sie sich daneben benehmen.

Wert und Werte hängen eng zusammen. Lassen sich Werte also mit Wert beziffern? Es wird versucht. Unternehmen bekennen sich zum Beispiel zu Werten wie Verlässlichkeit, Nachhaltigkeit, Umweltschutz, faire Arbeitsbedingungen und einiges mehr. Sie hoffen auf ein gutes Image und hohes Ansehen bei Kunden, um ihren Umsatz zu steigern. Eine Zeit lang war es sogar Trend, Philosophen einzustellen, die neue Unternehmenskulturen erarbeiten sollten. Natürlich rechnen die Unternehmen, ob der Aufwand sich lohnt.

Werte werden zu Argumenten

Ist dieser Ansatz verwerflich? Jeder Mensch möchte Werte zu seinem Vorteil nutzen. Deshalb wird moralisch argumentiert. Die Moral ist Hammer und Meißel, die Werte unumstößlich in Stein hauen. Allerdings hat jeder Mensch seine eigenen „Gesteinstafeln“, die er nach Gutdünken auslegt und auf seine mit Menschen anwendet.

Das Wesen, dass Menschen Werten verleihen, ist eine Doppelmoral. Für mich so, für dich anders. Das ist der Punkt im Umgang mit Werten. Oder auch: Ich halte diesen einen Wert ein, du musst das auch. Die Menschen machen untereinander Vorgaben. Einseitige Vorgaben. „Ich will, also musst Du damit klarkommen!“ lautet ihr Credo. Sie geben nur nach, wenn es ihnen nicht besonders wichtig ist und streiten, wenn sie etwas unbedingt wollen.

Werte werden in den Händen der Menschen zu Argumenten, Drohungen, Ansprüchen, moralischen Waffen und letzten Ausflüchten, wenn sie sich nicht anders durchsetzen können. Sie sind mitten drin im alltäglichen Wahnsinn des menschlichen Lebens, nichts, das abseits steht und eine allgemein gültige Wahrheit offenbart. Nein, sie sind voll und ganz menschlicher Natur: von Menschen gemacht und von Menschen gebraucht.

Mittwoch, 2. November 2022

Regeln sind lästig

 
Menschen demonstrieren mit bunten Plakaten dicht an dicht auf einer breiten Straße
Sigmund Freud hat es auf den Punkt gebracht: "Es gibt nur Regeln für Dinge, die wir eigentlich tun möchten", konstatierte der Entdecker der Psychoanalyse. Deshalb dürfen wir uns zwar die Hand verbrennen, aber keine inzestuöse Beziehung führen. Regeln verbieten uns, was nicht gut für das gesellschaftliche Zusammenleben ist.

Da stellt sich natürlich die Frage: Möchten wir in einer Gesellschaft leben, die uns durch ihre Regeln einschränkt? Die Antwortet lautet ganz klar - und vielleicht überraschend - nein.

Weshalb leben wir dann trotzdem in durch Regeln eingeengten Verhältnissen? Weil wir keine Wahl haben. Wir können nicht ausweichen. Es gibt keine Gesellschaft ohne Regeln.

Deshalb lauten die eigentlichen Fragen: Weshalb ist das so und welche Regeln können wir gerade noch akzeptieren?

Die Regeln der Natur

Nehmen wir als Beispiel Robinson Crusoe. Er lebte allein auf seiner Insel und brauchte keine Regeln. Was er nicht tat, wurde nicht getan. Und doch galten auch für ihn Ge- und Verbote. Zum einen ergaben sie sich aus dem Rhythmus der Natur. Robinson musste zu einem bestimmten Zeitpunkt pflanzen und zu einem anderen ernten. Außerdem erlebte er Regenzeiten, zu denen er so gut wie nicht arbeiten konnte. Also verfolgte er Abläufe, die ihm vorgegeben wurden. Verstieß er dagegen, musste er hungern. Hinzu kamen religiöse Regeln. Robinson war ein gläubiger Mann. Er achtete den Sonntag und kirchliche Feiertage.  Außerdem hatte er das Arbeitsethos der Protestanten verinnerlicht. Als er eine Ziegenherde domestiziert hatte, musste er die Tiere regelmäßig füttern und melken. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Aber es dürfte jetzt schon verständlich sein, worauf es hinausläuft: Die äußere Natur und die Natur des Menschen erlegen uns Regeln auf, deren Nichtbefolgung ernste Konsequenzen für uns hat.

So weit, so gut. Das ist nachvollziehbar. Wir müssen essen, wir müssen trinken, wir müssen schlafen. Eine Notwendigkeit zur Erhaltung unseres Lebens. Doch weshalb um alles in der Welt müssen wir auf der rechten Straßenseite fahren und dürfen nicht bei Rot die Fahrbahn überqueren?

Dafür gibt es auf den ersten Blick keinen Grund. Schließlich halten sich die Briten links. Die Franzosen und Italiener fahren sowieso wie es ihnen passt. Jede Gesellschaft hat also ihre eigenen Regeln. Nur: Warum gibt es überhaupt Regeln und wenn schon, weshalb nicht einheitlich?

Wir geben Freiheit im Austausch für Schutz auf

Da kommt wieder Sigmund Freud ins Spiel. Regeln schränken uns genau dort ein, wo wir über die Stränge schlagen und damit das friedliche Zusammenleben stören würden. Nur weil wir ohne Angst unsere Wohnung verlassen können, gehen wir zur Arbeit, kaufen ein und nehmen am sozialen Leben teil. Jeder Ausrutscher wird vom Staat geahndet und nach feststehenden Regeln geklärt. Sei es ein Autounfall oder eine Prügelei.

Wir geben unsere Verantwortung also an eine höhere Instanz ab, die vieles für uns regelt. Das ist bequem und hilft, eine funktionierende Gemeinschaft aufzubauen. Doch der Verzicht auf die eigene Initiative in einigen Bereichen ist auch ein Verzicht auf Freiheit. Wir ordnen uns der Gemeinschaft unter, in der Hoffnung auf ihren Schutz.

Inzwischen sind die meisten Menschen so sehr an dieses Arrangement gewöhnt, dass sie nicht darüber nachdenken. Regeln sind zu alltäglichen Begleitern geworden. Schilder weisen uns immer wieder darauf hin. Im Straßenverkehr, auf Grundstücken, im öffentlichen Raum. Manchmal zeigt der Staat auch den erhobenen Zeigefinger in Form eines seiner Diener. Die Einhaltung der Regeln wird kontrolliert und die meisten Menschen finden das in Ordnung.

Mut zum Regelbrechen

Die Vorteile überwiegen. Allerdings sprießen Regeln vielerorts wie Pilze aus dem Boden. Stichwort Überregulierung. Gemeinschaften neigen dazu, alles regeln zu wollen, um ihre Mitglieder bis ins Kleinste zu kontrollieren. Oder auch schlicht und einfach, weil es Kompetenzgerangel gibt. Dabei bleibt die Freiheit des Einzelnen wahrhaftig auf der Strecke. Er verfängt sich in einem Dschungel an Bestimmungen, der kaum zu durchdringen ist. Ein Ärgernis.

Hannah Arendt führt das Phänomen der Reglementierung auf das Entstehen der Gesellschaft, die das Handeln ausschließt, zurück. "An seine Stelle ist das Sich-Verhalten getreten, das in jeweils verschiedenen Formen die Gesellschaft von allen ihren Gliedern erwartet und für welches sie zahllose Regeln vorschreibt, die alle drauf hinauslaufen, die Einzelnen gesellschaftlich zu normieren, sie gesellschaftsfähig zu machen und spontanes Handeln wie hervorragende Leistungen zu verhindern." ("Vita Aktiva oder Vom tätigen Leben", Piper 2021, Seite 62) Alle Unstimmigkeit wird entsprechend als Abweichung von einer in der Gesellschaft geltenden Norm und daher als asozial oder anormal beurteilt.

Also auf die Barrikaden gehen? Nein, das wäre ein Anrennen gegen Windmühlen. Einfach die eine oder andere Regel brechen. Das erfordert Mut genug. Denn wer aus der Masse ausschert, wird plötzlich gesehen. Ein kleines Experiment: Hinkend über den Markt gehen. Schon gibt es Aufmerksamkeit.

Also, Regelbrechen. Es sollte natürlich sinnvoll sein und etwas bringen. Vielleicht ein Ärgernis beseitigen oder einfach ein Stück Freiheit erkämpfen. 

Auf einmal eine Nuance anders machen. Das verunsichert Menschen und bringt sie manchmal zum Nachdenken. Denn es stellt Gewohnheiten in Frage und nimmt damit ein Stück Sicherheit. Gegenreaktionen bleiben nicht aus. 

Regelbrecher sind nicht unbedingt beliebt, aber auf jeden Fall ein belebender Faktor in einer Gesellschaft. Sie weisen darauf hin, dass manches auch anders geht - und das ist wichtig. Denn Regeln haben nur Macht über uns, solange wir sie akzeptieren. Wenn wir aufbegehren, merken wir oft, dass sie überhaupt nicht notwendig sind. Wir sollten also mehr Mut haben, Regeln auf ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen. Damit wir uns weniger davon abhalten lassen, Dinge auch zu tun, wir wir eigentlich tun möchten und nur aufgrund irgendeiner Regel nicht tun dürfen. Natürlich sollten wir dabei Rücksicht nehmen. Aber dazu bedarf es keiner Regel, denn das versteht sich von selbst.

Noch eine Anmerkung: Regelbrecher müssen die Regel verstehen, die sie brechen wollen. Wer sich also in einer fremden Gemeinschaft falsch verhält, bricht wahrscheinlich nicht bewusst Regeln, sondern benimmt sich schlicht daneben.


Foto: Von SukR - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=47097397