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Montag, 27. Februar 2023

Maschinen sind Taktgeber

 

Mit dem Fließband hat es angefangen, inzwischen sind Menschen in jeder Gesellschaft nur noch Glieder einer langen Arbeitskette
Sie sind die Grundlage für Entscheidungen und Regeln. Auch im Tierreich gibt es Werte. Dort basieren sie auf Instinkt. Nur der Mensch hat gelernt, wird zu abstrahieren und ganze Gedankengebäude auf ihnen zu errichten. Human sein bedeutet, menschenfreundliche Werte zu vertreten. Doch die Sichtweise von Mensch zu Mensch differiert je nach Kultur und Nation. Menschliche Grundwerte regeln das Zusammenleben – das auch an regionalen Gegebenheiten und Umweltbedingungen hängt. Insoweit sind menschliche Werte auch von Herkunft und Natur geprägt.

Persönliche Werte gehen die Gesellschaft nichts an

Zurück zum Gebrauch von Werten. Sie sind so nützlich wie Messer und Gabel. Genauso wie mit dem Besteck gehen Menschen mit ihnen um, wenn sie Verhandlungen führen und Zugeständnisse erreichen wollen. Sie tranchieren die Forderungen ihres Gegenübers mit den passenden Werten. Das setzt eine gewisse Kenntnis über den anderen voraus. Es ist wieder der Blick des anderen, diesmal um zu erkennen und die Erkenntnis zum eigenen Vorteil zu nutzen. 

Dabei ist es hilfreich, keine eigenen oder zumindest nur wenige Werte zu haben. Besonders dürfen Werte nicht den Verhandlungspartner einschließen. Wer die Familie hoch hält, hat trotzdem keine Schwierigkeiten, einen Fremden übers Ohr zu hauen.

Der Mensch legt sich seine Werte zurecht. Es gibt allgemeine und persönliche Werte. Die allgemeinen Werte gelten für eine Gesellschaft und sind für einzelne nur sehr schwer zu unterlaufen. Viele sind in Form von Gesetzen festgeschrieben. Selbstverständlich wird auch gegen sie verstoßen. Doch in diesem Fall muss mit ernsthaften Konsequenzen gerechnet werden. Auf den Werteverstoß folgt die Strafe – jedenfalls, wenn der Verstoß festgestellt und der Schuldige ermittelt werden kann. Persönliche Werte dagegen gehen die Gesellschaft nichts an. Sie sind nicht verhandelbar, sondern können auch zum eigenen Vorteil benutzt werden.

Zahlen werden das menschliche Leben aus

Interessanter ist jedoch die Entwicklung der allgemeinen Werte. Sie durchlaufen immer wieder Phasen von Anerkennung über Protest gegen sie bis zu ihrer Aussetzung und sogar Abschaffung. Wie werden diese Phasen ausgelöst? Ein großer Treiber für Werte sind, neben dem kollektiven Strom, Zahlen. Seit Galileo Galilei die Bedeutung des Messens erkannt hat, ist die Macht der Zahlen stetig angewachsen. Heute überlagern sie die menschliche Gesellschaft wie eine Matrix. Zahlen werten das menschliche Leben aus, bewerten es und entscheiden, ob es sich mit den Werten der Gesellschaft im Einklang befindet. Von künstlicher Intelligenz gesteuerte Systeme machen die Vernetzung zwischen Zahlen und Werten zukünftig noch weitaus effektiver. Gesichtserkennung, Datenspeicherung, Verzahnung von Daten aus allen Lebensbereichen von Schule und Job über Bankverbindungen und Finanzunterlagen bis zur medizinischen Versorgung ermöglichen umfassende Analysen jedes einzelnen Menschen. Wer aus der Masse der arbeitenden, unauffälligen Steuerzahler heraussticht, fällt auf und bekommt eine geringere Punktzahl. Oder Wertungszahl – worin der Begriff Wert natürlich deutlich enthalten ist.

Ob ein Mensch für die Gesellschaft einen Wert hat, wird in Zukunft verstärkt von Wertungszahlen abhängen. Dadurch wird ein großer Wertewandel eintreten. Denn plötzlich findet nicht mehr die Masse Werte aus dem kollektiven Strom, sondern die Beherrscher der Zahlen erhalten Macht über Werte und ihre Wertigkeit.

Wie wird das sein? Zunächst sicherlich die Staaten. Die Volksrepublik China experimentiert gerade mit sogenannten Sozialpunkten, einem System, in dem eine Zahl den Wert einer Person ausdrückt. Sie entscheidet über Kreditvergabe, Reisemöglichkeiten und sogar Heiratschancen. Videoaufzeichnungen und Computer überwachen die Menschen und passen ihre Bewertungszahl nach ihrem jeweiligen Verhalten an. Bei Rot über die Ampel gehen oder Abfall auf die Straße werfen gibt beispielsweise Punktabzug. So soll die Ordnung im Staat aufrecht erhalten und verbessert werden. Nur: Wessen Ordnung?

Werte passen sich den Technologien an

Es ist bereits die Ordnung der Maschinen. Sie werden von Menschen kontrolliert, aber sie zwingen ihnen ihren Rhythmus auf. Seit der Entwicklung der mechanischen Webstühle waren die Maschinen nie Handlanger der Menschen, sondern von Anfang an ihre Taktgeber. Ihr Versprechen ist enormer Gewinn. Doch sie verlangen Unterordnung und Gehorsam.

Dieses Schema hat schon früh in der Geschichte begonnen. Der Historiker Noah Yahari weist in seinem Buch „Eine kleine Geschichte der Menschheit“ darauf hin, dass der Mensch überhaupt nicht den Weizen domestiziert haben könnte, sondern der Weizen den Menschen. Sein Argument: Der Weizen ist eine der erfolgreichsten Kulturpflanze. Er wird von Menschen gehegt und gepflegt - und das seit Jahrtausenden. Sein Versprechen: Die Menschen großzügig zu ernähren und ihnen dadurch zu ermöglichen, sich vermehrt fortzupflanzen.

Deutlich ist die Parallele zur Beziehung zwischen Mensch und Maschine zu erkennen. Die Menschheit legt sich für ein Versprechen krumm. Das hat weitreichende Folgen. Dem Technologiewandel folgt der Wertewandel auf dem Fuß. Denn die neuen Möglichkeiten bedingen neue Verhaltensweisen.

Wie die Sesshaftwerdung des Menschen das Staatswesen nach sich zog, werden auch die neuen Technologien bis hin zur künstlichen Intelligenz die Lebensbedingungen von Grund auf verändern. Nicht nur wird es neue Berufe geben, sondern auch das Verhalten der Menschen wird sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Die Technologien werden die Menschen konditionieren. Unweigerlich wird ein Wertewandel diese Konditionierung begleiten. Viele Werte werden passend gemacht, andere kommen hinzu.

Die Spieler verändern die Balance des Schachs

Wird dabei die große Konstante der Menschheit, der Wettbewerb untereinander, verändert? Vermutlich nicht. Denn es ist den Menschen nicht gegeben, eine errichtete Balance ein für alle Mal zu bewahren. Er muss sie immer wieder aufs Neue herstellen, um möglichst einen Ausgleich zu seinen Gunsten zu schaffen.

Ein Schachspiel ist zu Beginn in perfekter Harmonie. Die weißen und schwarzen Figuren stehen sich auf Abstand in genau gleicher Anordnung entgegen. Es bestünde die Möglichkeit, dass sich die Spieler gegenübersitzen und diese Harmonie gemeinsam bewundern, ohne das geringste an der Stellung zu verändern. Sie würden den Aufbau wie ein Gemälde betrachten und dann friedlich auseinandergehen. Doch das entspricht nicht dem menschlichen Sein, dass nicht nur neugierig ist und Dinge verändern will, sondern auch noch persönlichen Vorteil erstrebt. Was geschieht, fragt sich der Spieler mit den weißen Steinen, wenn ich ein Bauern ziehe? Darauf muss ich reagieren, denkt sich der Spieler mit den schwarzen Steinen. Beide beginnen die Stellung aus der Balance zu bringen und hoffen auf einen Gewinn. Ein Zug bedingt den nächsten. Die Spieler können nicht aufhören. Sie kämpfen um die Vormacht. Beide haben Pläne und die müssen erst ausprobiert werden, bevor die sich auf ein Remis einigen, falls nicht einer von ihnen gewinnt.

Thomas Henry Huxley hat einmal gesagt: „Das Schachbrett ist die Welt, die Figuren sind die Erscheinungen im Universum, die Spielregeln sind, was wir die Naturgesetze nennen. Der Spieler auf der anderen Seite ist uns verborgen.“ Der Mensch aber lebt in der Welt und muss seine notwendige Arbeit verrichten, um für seinen Unterhalt zu sorgen. Die Erscheinungen des Universum und die Naturgesetze geben ihm dabei einen Rahmen, an dem er sich orientieren, den er aber nicht überwinden kann. So kämpft er nicht gegen sie, sondern mit ihnen um sein Überleben. Er macht seine Züge und hofft das Beste.