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Mittwoch, 17. Mai 2023

Freiheiten verschwinden klammheimlich

Wie die Ritter auf diesem Bild, müssen sich Menschen für die Verteidigung ihrer Freiheiten rüsten
Das ist ein Widerspruch des gängigen Freiheitsverständnisses. Gilt der Einzelne in der westlichen Gesellschaft doch als weitgehend frei. Dabei wird allerdings vergessen, dass Freiheit immer nur im gesellschaftlichen Rahmen gewährt werden kann. Um diesen Rahmen herum wird allerdings viel getan, um die Illusion von Freiheit entstehen zu lassen und aufrecht zu erhalten. So wählt der Einzelne selbst, wieviel Zwängen er sich aussetzt und wie hoch er die Mauern um sich her aufrichten möchte. Dabei gilt: Je mehr Teilhabe an den Angeboten der Gesellschaft, desto größer die geforderte Anpassung und damit einhergehende Einengung. Denn die Leistungen der Gesellschaft, wie zum Beispiel Sicherheit, kosten die Freiheiten der Bürger.

Die Gesellschaft muss sich ständig zeigen

Der Einzelne trifft seine Wahl und verstrickt sich damit immer tiefer im Netz der Gesellschaft, das manchmal auch als bequeme Hängematte bezeichnet wird. Doch auch eine Hängematte ist bei genauerer Betrachtung ein Netz. Er fügt sich, indem er Kredite aufnimmt, ein Haus baut, Familie gründet. Von da an hat er keine Wahl mehr. Der Mensch muss in der Gesellschaft funktionieren, um seine Verpflichtungen zu erfüllen und sein Leben fortführen zu können. Ansonsten wird er schleichend herausgedrängt.

Im Gegenzug ist die Gesellschaft omnipräsent. Sie muss sich ständig zeigen, damit die Menschen an sie glauben. Denn ein Staatsgebilde ist ohne den Glauben der Masse schlichtweg nicht existent. So etwas wie eine Nation denken sich die Menschen ja nur aus. Ohne ihren Glauben an ein solches Konstrukt gibt es den Nationalstaat nicht. Deshalb müssen auf öffentlichen Gebäuden Fahnen wehen, müssen Polizisten in Uniform durch die Straßen laufen, müssen Medien ständig berichten. Wenn der Staat im Gespräch ist, versichert er sich seiner eigenen Existenz und zeigt sie vor den Leuten. Die Umwandlung von einer bloßen Idee zu einem Konstrukt, das Bestand hat, findet in den Köpfen der Menschen statt. Nur solange sie daran glauben, dass ihre Handlungen, beispielsweise das Mitführen eines Personalausweises und das Einhalten von Gesetzen, einen Nutzen haben, ist der Staat existent und Leute werden zu seinen Bürgern.

Es bleibt nur die Freiheit des Konsumierens

Die Menschen gehen einen Deal mit sich selbst ein, wie sie auch, wenn sie einen Gott anrufen, zu sich selbst beten. Der Deal lautet: Gebe Freiheit gegen Teilhabe und Schutz. Vielleicht meinen die Menschen diesen Deal, wenn sie davon sprechen, ihre Seele dem Teufel zu verkaufen, denn sie lassen sich auf einen Pakt ein, der ihnen in der Masse materiellen Wohlstand gegen geistige Armut einbringt. Natürlich gibt es Bildung und entsprechende Einrichtungen zur Vermittlung von Wissen. Aber die sollen Bürger nur lehren, was sie im Sinne des Systems wissen müssen. Nicht von ungefähr werden die Universitäten ohne viel Aufhebens - und, bemerkenswert, ohne großen Protest - von einem Hort des freien und kritischen Denkens zu mehr oder weniger weiterführenden Schulen degradiert. Obwohl die meisten Studenten schon vorher selten über den Tellerrand ihres Lernpensums geschaut haben, hätten sie aber wenigsten die Möglichkeit dazu gehabt, was den heutigen Studenten fast vollkommen verwehrt bleibt.

Freiheiten verschwinden klammheimlich im Dschungel der Bürokratie. Im Grunde bleibt nur eine Freiheit erhalten, die auch von Staat und Gesellschaft nach Kräften gefördert wird: Die Freiheit des Konsumierens. Diese Freiheit meinen Menschen auch, wenn sie davon sprechen, frei zu sein. Denn in diesem Bereich haben sie tatsächlich alle Freiheiten, vorausgesetzt, sie verfügen über ausreichend Geld. Was das Pendel in den Bereich der Scheinfreiheit ausschlagen lässt.

Die Reaktion auf gesellschaftliche Leere

Die Werte einer Gesellschaft wandeln sich mit ihrem Entwicklungsstadium. Eine Aufbauphase charakterisiert sich durch Fleiß und hohe Arbeitsmoral. Wohlstand wird geprägt von Überschuss und vermehrtem Besitz. Die Konsumgesellschaft geht über diese Abschnitte hinaus. Sie ist eine Phase der Stagnation, in der es kaum Visionen und gesellschaftliche Ziele gibt. Es bleibt nur, das zu erhalten und auszubauen, was längst da ist. Im Grunde eine Phase großer Langeweile, in der Angst vor dem Abstieg umgeht, sich aber niemand verantwortlich fühlt, den Status quo zu verändern. Schließlich geht es allen mehr als gut. 

Der Konsumismus ist die Reaktion auf gesellschaftliche Leere, in der niemand inhaltlich etwas beizutragen hat, weil keinem anderes einfällt, als stur weiterzumachen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Der Staat wir nur noch verwaltet, er ist nicht mehr zu Innovationen fähig.

Welche Werte bringt der Konsumismus hervor? Den Wert des Materialismus. Geld wohnt ein Zauber inne. Alles ist käuflich. Auch Gesundheit und Jugend. Schönheit kann per Katalog erworben werden. Kinder lassen sich planen und optimieren. Das Leben ist ein einziger Event. Selbst das Alter lässt sich hinausschieben, auch Greise dürfen noch eine jugendliche Attitüde an den Tag legen. Darüber hinaus?

Montag, 27. Februar 2023

Maschinen sind Taktgeber

 

Mit dem Fließband hat es angefangen, inzwischen sind Menschen in jeder Gesellschaft nur noch Glieder einer langen Arbeitskette
Sie sind die Grundlage für Entscheidungen und Regeln. Auch im Tierreich gibt es Werte. Dort basieren sie auf Instinkt. Nur der Mensch hat gelernt, wird zu abstrahieren und ganze Gedankengebäude auf ihnen zu errichten. Human sein bedeutet, menschenfreundliche Werte zu vertreten. Doch die Sichtweise von Mensch zu Mensch differiert je nach Kultur und Nation. Menschliche Grundwerte regeln das Zusammenleben – das auch an regionalen Gegebenheiten und Umweltbedingungen hängt. Insoweit sind menschliche Werte auch von Herkunft und Natur geprägt.

Persönliche Werte gehen die Gesellschaft nichts an

Zurück zum Gebrauch von Werten. Sie sind so nützlich wie Messer und Gabel. Genauso wie mit dem Besteck gehen Menschen mit ihnen um, wenn sie Verhandlungen führen und Zugeständnisse erreichen wollen. Sie tranchieren die Forderungen ihres Gegenübers mit den passenden Werten. Das setzt eine gewisse Kenntnis über den anderen voraus. Es ist wieder der Blick des anderen, diesmal um zu erkennen und die Erkenntnis zum eigenen Vorteil zu nutzen. 

Dabei ist es hilfreich, keine eigenen oder zumindest nur wenige Werte zu haben. Besonders dürfen Werte nicht den Verhandlungspartner einschließen. Wer die Familie hoch hält, hat trotzdem keine Schwierigkeiten, einen Fremden übers Ohr zu hauen.

Der Mensch legt sich seine Werte zurecht. Es gibt allgemeine und persönliche Werte. Die allgemeinen Werte gelten für eine Gesellschaft und sind für einzelne nur sehr schwer zu unterlaufen. Viele sind in Form von Gesetzen festgeschrieben. Selbstverständlich wird auch gegen sie verstoßen. Doch in diesem Fall muss mit ernsthaften Konsequenzen gerechnet werden. Auf den Werteverstoß folgt die Strafe – jedenfalls, wenn der Verstoß festgestellt und der Schuldige ermittelt werden kann. Persönliche Werte dagegen gehen die Gesellschaft nichts an. Sie sind nicht verhandelbar, sondern können auch zum eigenen Vorteil benutzt werden.

Zahlen werden das menschliche Leben aus

Interessanter ist jedoch die Entwicklung der allgemeinen Werte. Sie durchlaufen immer wieder Phasen von Anerkennung über Protest gegen sie bis zu ihrer Aussetzung und sogar Abschaffung. Wie werden diese Phasen ausgelöst? Ein großer Treiber für Werte sind, neben dem kollektiven Strom, Zahlen. Seit Galileo Galilei die Bedeutung des Messens erkannt hat, ist die Macht der Zahlen stetig angewachsen. Heute überlagern sie die menschliche Gesellschaft wie eine Matrix. Zahlen werten das menschliche Leben aus, bewerten es und entscheiden, ob es sich mit den Werten der Gesellschaft im Einklang befindet. Von künstlicher Intelligenz gesteuerte Systeme machen die Vernetzung zwischen Zahlen und Werten zukünftig noch weitaus effektiver. Gesichtserkennung, Datenspeicherung, Verzahnung von Daten aus allen Lebensbereichen von Schule und Job über Bankverbindungen und Finanzunterlagen bis zur medizinischen Versorgung ermöglichen umfassende Analysen jedes einzelnen Menschen. Wer aus der Masse der arbeitenden, unauffälligen Steuerzahler heraussticht, fällt auf und bekommt eine geringere Punktzahl. Oder Wertungszahl – worin der Begriff Wert natürlich deutlich enthalten ist.

Ob ein Mensch für die Gesellschaft einen Wert hat, wird in Zukunft verstärkt von Wertungszahlen abhängen. Dadurch wird ein großer Wertewandel eintreten. Denn plötzlich findet nicht mehr die Masse Werte aus dem kollektiven Strom, sondern die Beherrscher der Zahlen erhalten Macht über Werte und ihre Wertigkeit.

Wie wird das sein? Zunächst sicherlich die Staaten. Die Volksrepublik China experimentiert gerade mit sogenannten Sozialpunkten, einem System, in dem eine Zahl den Wert einer Person ausdrückt. Sie entscheidet über Kreditvergabe, Reisemöglichkeiten und sogar Heiratschancen. Videoaufzeichnungen und Computer überwachen die Menschen und passen ihre Bewertungszahl nach ihrem jeweiligen Verhalten an. Bei Rot über die Ampel gehen oder Abfall auf die Straße werfen gibt beispielsweise Punktabzug. So soll die Ordnung im Staat aufrecht erhalten und verbessert werden. Nur: Wessen Ordnung?

Werte passen sich den Technologien an

Es ist bereits die Ordnung der Maschinen. Sie werden von Menschen kontrolliert, aber sie zwingen ihnen ihren Rhythmus auf. Seit der Entwicklung der mechanischen Webstühle waren die Maschinen nie Handlanger der Menschen, sondern von Anfang an ihre Taktgeber. Ihr Versprechen ist enormer Gewinn. Doch sie verlangen Unterordnung und Gehorsam.

Dieses Schema hat schon früh in der Geschichte begonnen. Der Historiker Noah Yahari weist in seinem Buch „Eine kleine Geschichte der Menschheit“ darauf hin, dass der Mensch überhaupt nicht den Weizen domestiziert haben könnte, sondern der Weizen den Menschen. Sein Argument: Der Weizen ist eine der erfolgreichsten Kulturpflanze. Er wird von Menschen gehegt und gepflegt - und das seit Jahrtausenden. Sein Versprechen: Die Menschen großzügig zu ernähren und ihnen dadurch zu ermöglichen, sich vermehrt fortzupflanzen.

Deutlich ist die Parallele zur Beziehung zwischen Mensch und Maschine zu erkennen. Die Menschheit legt sich für ein Versprechen krumm. Das hat weitreichende Folgen. Dem Technologiewandel folgt der Wertewandel auf dem Fuß. Denn die neuen Möglichkeiten bedingen neue Verhaltensweisen.

Wie die Sesshaftwerdung des Menschen das Staatswesen nach sich zog, werden auch die neuen Technologien bis hin zur künstlichen Intelligenz die Lebensbedingungen von Grund auf verändern. Nicht nur wird es neue Berufe geben, sondern auch das Verhalten der Menschen wird sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Die Technologien werden die Menschen konditionieren. Unweigerlich wird ein Wertewandel diese Konditionierung begleiten. Viele Werte werden passend gemacht, andere kommen hinzu.

Die Spieler verändern die Balance des Schachs

Wird dabei die große Konstante der Menschheit, der Wettbewerb untereinander, verändert? Vermutlich nicht. Denn es ist den Menschen nicht gegeben, eine errichtete Balance ein für alle Mal zu bewahren. Er muss sie immer wieder aufs Neue herstellen, um möglichst einen Ausgleich zu seinen Gunsten zu schaffen.

Ein Schachspiel ist zu Beginn in perfekter Harmonie. Die weißen und schwarzen Figuren stehen sich auf Abstand in genau gleicher Anordnung entgegen. Es bestünde die Möglichkeit, dass sich die Spieler gegenübersitzen und diese Harmonie gemeinsam bewundern, ohne das geringste an der Stellung zu verändern. Sie würden den Aufbau wie ein Gemälde betrachten und dann friedlich auseinandergehen. Doch das entspricht nicht dem menschlichen Sein, dass nicht nur neugierig ist und Dinge verändern will, sondern auch noch persönlichen Vorteil erstrebt. Was geschieht, fragt sich der Spieler mit den weißen Steinen, wenn ich ein Bauern ziehe? Darauf muss ich reagieren, denkt sich der Spieler mit den schwarzen Steinen. Beide beginnen die Stellung aus der Balance zu bringen und hoffen auf einen Gewinn. Ein Zug bedingt den nächsten. Die Spieler können nicht aufhören. Sie kämpfen um die Vormacht. Beide haben Pläne und die müssen erst ausprobiert werden, bevor die sich auf ein Remis einigen, falls nicht einer von ihnen gewinnt.

Thomas Henry Huxley hat einmal gesagt: „Das Schachbrett ist die Welt, die Figuren sind die Erscheinungen im Universum, die Spielregeln sind, was wir die Naturgesetze nennen. Der Spieler auf der anderen Seite ist uns verborgen.“ Der Mensch aber lebt in der Welt und muss seine notwendige Arbeit verrichten, um für seinen Unterhalt zu sorgen. Die Erscheinungen des Universum und die Naturgesetze geben ihm dabei einen Rahmen, an dem er sich orientieren, den er aber nicht überwinden kann. So kämpft er nicht gegen sie, sondern mit ihnen um sein Überleben. Er macht seine Züge und hofft das Beste.

Sonntag, 18. Dezember 2022

Werte werden auf dem Markt gehandelt

 

Menschen finden sich zusammen, um bildlich mit Werten auf einem Markt zu handeln
Die Werte einer Gesellschaft sind festgelegte Regeln in Form von Gesetzen oder auch ungeschrieben, die jedes Mitglied kennen und befolgten sollte. Sie sind die rechtliche und ethische Grundlage des Zusammenlebens. Doch sie befinden sich in ständigem Wandel. Was heute gilt, kann morgen schon vergessen sein. Zum Beispiel: Die Jüngeren grüßen die Älteren und die Älteren bieten das "Du" an. Wer kennt das noch? Na, jedenfalls hält sich niemand mehr daran.

Wie kommt das? Welche Werte gehen und welche bleiben bestehen? Wer bestimmt darüber und warum?

Anscheinend gibt es eine Macht, die genügend Einfluss hat, mit der Zeit gewisse Anpassungen vorzunehmen. Adam Smith nannte sie die "unsichtbare Hand des Marktes". Für Karl Marx war es die Arbeitskraft. Hannah Arendt wies darauf hin, dass es wohl immer irgendeiner mystischen Erscheinung bedürfe, um alle Entwicklungen der Menschheit zu erklären. Ist das so oder gibt es bisher einfach kein schlüssiges Wort dafür?

Kollektive Strömung

Die "unsichtbare Hand" oder die „mystische Erscheinung“ sind sind nichts anderes als die Menschheit in ihrer Gesamtheit als sehr große Gruppe und möglicherweise auch regional unterteilt. Heute gibt es den Begriff „Schwarmintelligenz", wenn das Verhalten vieler zu einem sichtbaren Ergebnis in einem speziellen Bereich führt. Doch er trifft nicht den Kern der Veränderungen, die ständig in einer Gesellschaft vorgehen. 

Vielmehr ist es das gemeinsame Resultat jeder Arbeit, allen Handelns und jedes Gedankens, das sich in einer Tätigkeit äußert. Mit anderen Worten: Jedes Wirken eines Menschen führt im Zusammenspiel mit dem Wirken jedes anderen Menschen zu einem Impuls innerhalb der Gesellschaft. Die Vielzahl der Impulse steuern und formen nicht nur die Regeln des menschlichen Miteinanders, sondern sind auch Smith's "unsichtbare Hand des Marktes", Marx's "Arbeitskraft" und Arendt's „mystische Erscheinung“. Sie sind eine kollektive Strömung. Ihr verdanken die Menschen jede Entdeckung und Erkenntnis, jeden Fortschritt und Wagemut, leider auch jede Eroberung und jeden Krieg. Die kollektive Strömung - einer Rückkopplung gleich - beeinflusst umgekehrt auch wiederum ihrerseits das menschliche Denken und Handeln.

Doch bezieht sie auch die von der Menschheit erschaffene Dingwelt sowie die ungezähmte Natur mit ein. Alles und Jedes, bis zum Haustier, einem kleinen Insekt und der Blume auf einer Wiese, üben Einfluss auf Menschen und damit auf die kollektive Strömung aus.

Die Menschheit als kollektives Wesen

Sie unterteilt sich in Ästelungen und Verzweigungen. Zahlreiche Pfade enden bald und verlieren ihren Einfluss. Andere verstärken sich im Laufe der Zeit und bestimmen mit die Richtung, in die die Menschheit voranschreitet. Später nimmt ihre Bedeutung ab und neue Vorstellungen treten an ihre Stelle. Ein ständiges Aufflackern, Leuchten und Abdunkeln. Vielleicht lässt es sich vergleichen mit den vielen Lichtpunkten auf der Erde bei Nacht vom Weltraum aus betrachtet. Netzlinien aus Licht, eine fortwährende Veränderung. Mal schneller, mal langsamer, aber immer im Wandel.

Sollte es so einfach sein - die Menschheit steuert sich selbst durch ihr Tun und setzt dabei ihre Werte ganz nebenbei? Sie wären dann sozusagen ein Abfallprodukt. 

Oder funktioniert es genau umgekehrt: Die Werte entstehen im kollektiven Strom und daraus resultieren Arbeit und Handeln, Herstellung und überhaupt das ganze Sein der Menschen. Ist die Menschheit gar ein kollektives Wesen, ohne sich selbst als solches zu empfinden? Gerade die Menschheit, die sich viel darauf zugute hält, aus selbständigen Individuen zu bestehen.

Nun, es ist nicht auszuschließen, dass die Spezies analog zum digitalen System existiert. Statt An oder Aus, Null oder Eins, ordnet sie ihre menschlichen "Bits" und "Bytes" nach der Prämisse "Richtig" oder "Falsch". Wobei beides keine Konstanten, sondern Variablen sind, die durch den kollektiven Strom definiert werden. Er hat also nicht die Aufgabe, Ideen und Vorstellungen zu generieren, sondern Ideen und Vorstellungen, das Arbeiten, Handeln und Herstellen der menschlichen Individuen als "Richtig" oder "Falsch" zu bewerten. Das erklärt, weshalb nichts in der Gesellschaft je endgültig feststeht, sondern einem fortwährenden Wandel unterworfen ist. Jede kleinste Regung eines einzelnen Menschen wird begutachtet und bewertet. Ein Werden und Vergehen, das nur den einen Zweck hat: Die Menschheit sich alle Möglichkeiten aneignen zu lassen, die ihr Heimatplanet und später vielleicht das Universum ihr bieten. Niemand ist bisher in der Lage, dahinter einen Sinn zu erkennen, ohne auf einen mystischen Glauben zurückzugreifen. Es ist keinem Menschen möglich, sinnvoll über die Grenzbeziehung von Möglichkeiten und Sinn zu sprechen. Oder, wie Ludwig Wittgenstein schrieb: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."

Doch über den kollektiven Strom zu sprechen, ist durchaus möglich. weil er vor aller Augen existiert. Er gibt der Menschheit durch Ausschlussverfahren eine Richtung. Das erklärt auch, weshalb sich Gut und Böse nicht eindeutig definieren lassen. Die Begriffe sind nur eine Hilfsbewertung menschlichen Verhaltens, um ein Wertesystem implementieren zu können. Gut ist, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer festgelegten menschlichen Gruppe als gut angesehen wird. Das gleiche gilt für den Begriff Böse. Aus diesem Grund kann das Töten von Menschen einerseits unter Strafe stehen, zum anderen aber hoch angesehen sein und belohnt werden, wenn beispielsweise Staaten Krieg führen.

Gemeinsamkeiten bilden den Wertekanon

Das menschliche Verhalten passiert in einem Koordinatensystem der Gesetze, Regeln und Werte. Hält er sich daran, ist der Mensch geachtet. Verstößt er dagegen, wird er bestraft. Moral ist die Instanz, die über die Einhaltung der Werte wacht. Sie stellt keine eigenen Regeln auf, sondern wendet sie auf Individuen und Gruppen an.

Wie werden Werte in der Gesellschaft ausgehandelt? Wie jedes menschliche Produkt: Durch Nachfrage und Vergleich der Wertigkeit mit anderen Gütern. So war zum Beispiel der Missbrauch von Kindern im kirchlichen Umfeld nur deshalb über Jahrzehnte möglich, weil der Kirche ein hoher Wert zugemessen wurde und sie deshalb nahezu unantastbar war. Das übertrug sich auch auf ihre Mitarbeiter. Erst als Religion in der Gesellschaft eine geringere Rolle zu spielen begann und ihr Stellenwert allgemein abnahm, bröckelte die Unantastbarkeit und die Diskussion über Missbrauchsfälle begann. Jedoch nur zaghaft, was noch immer auf einen relativ hohen Wert von Kirche hinweist.

Es sind die Gemeinsamkeiten der Menschen, die den Wertekanon der Gesellschaft bilden. Weshalb das Konsumieren den höchsten Wert einnimmt. Denn das ist die Tätigkeit, die über Generationen, Geschlechter, Rassen und Nationalitäten hinweg die größte Gemeinsamkeit der menschlichen Spezies darstellt. Shoppen bereitet den meisten Menschen Freude, nur die Vorlieben für verschiedene Produkte unterscheiden sich.

Zurück zu den Werten. Im Grunde werden sie gehandelt, wie Aktien an der Börse. Genauso sind sie Trends unterworfen. Eine deutliche Schwankung ist beispielsweise bei der Bewertung von Homosexualität zu beobachten. Lange strafrechtlich verfolgt, mit vielen Versuchen, Betroffene medizinisch zu "heilen", gilt es heute als geradezu schick, schwul zu sein. Die Werte haben sich diesbezüglich fast in die entgegengesetzte Richtung verschoben. Die Minderheit von Homosexuellen und Transgender ist in der öffentlichen Wahrnehmung eine bedeutende Gruppierung, weil Gleichberechtigung heutzutage einen hohen Wert verkörpert. Deshalb setzen Unternehmen auf diese Zielgruppe und greifen sie in ihrer Werbung auf. Auch in Büchern und Filmen kommt sie verstärkt vor. Sie hat einen Wert, auch weil sie als einkommensstark mit hoher Kaufkraft gilt. Gesellschaftlich ging dieser Akzeptanz ein langer Kampf um Anerkennung voraus.

Der Blick der Anderen

Der Wertewandel ist ein Zusammenspiel gesellschaftlicher Kräfte. Ausgelöst durch Notwendigkeit. Die Emanzipation der Frau wurde von der Tabakindustrie gefördert, weil sie die selbstbewusste Frau als Kundin für sich entdeckt hast, was die Größte des Marktes auf einen Schlag verdoppelte. Sie schuf mit ihren Werbekampagnen neue Werte für Frauen, die sich bald darauf auch in Filmen und Magazinen niederschlugen. Eine frühe Parallele zum heutigen Aufstieg von Homosexuellen und Transgender zu gesellschaftlichen Ikonen.

Doch die Zeit muss reif für einen solchen Wandel sein. Was heißt das? Die kollektive Strömung transportiert bereits länger entsprechende gedankliche Fragmente. Der Blick der Anderen darauf ist der entscheidende Schlüssel für die Entwicklung einfachen Gedankenguts, das wie Treibholz zufällig dahin schwimmt, zu einer relevanten und schließlich gesellschaftsverändernden Idee. Denn bereits Sartre beschreibt eindringlich, dass ein Mensch, der durch ein Schlüsselloch blickt, vollkommen frei und nur er selbst ist. Doch sobald er sich durch den Blick eines anderen beobachtet fühlt, nimmt er sich selbst anders wahr, nämlich im Blick des anderen und beginnt vielleicht seine Schuhe zuzubinden, um diesem anderen nicht als Voyeur zu gelten.

So sondert der Blick der Anderen auch aus dem gedanklichen Treibholz des kollektiven Stroms allein durch seine Aufmerksamkeit einige Bruchstücke aus, die dadurch an Kraft gewinnen und im gesellschaftlichen Umfeld relevant werden. Wobei der Blick der Anderen der Blick jedes einzelnen Menschen ist, der nur im Verhältnis zu einem selbst nicht ein fremder ist. Der Blick eines anderen ist auch immer der eigene, der sich vom Sein des Selbst ab- und dem Außen zuwendet. Deshalb ist jedes Sein sowohl ein Ich als auch ein Anderer.

Sonntag, 6. November 2022

Neues Leben auf der Erde

 

Stilisierte Figuren mit Menschenköpfen, die mit perzigen Tentakeln verbunden sind, sind in einer Gruppe zusammen - alle lächeln
Wir nennen Computersysteme und Roboter künstliche Intelligenz. Doch sind sie nur aus unserer Sicht künstlich, weil wir uns selbst als das einzig wahre Leben auf der Erde sehen. Was, wenn es neues Leben gäbe? Wann hören wir auf, es künstlich zu nennen?

Der Mensch ist eine künstliche Intelligenz

Zunächst ist der Begriff "künstlich" zu betrachten. Der Duden sagt dazu folgendes: "Nicht natürlich, sondern mit chemischen und technischen Mitteln nachgebildet, nach einem natürlichen Vorbild angelegt, gefertigt, geschaffen." 

So gesehen sind Computersysteme künstlich, denn sie werden mit technischen Mitteln gefertigt und geschaffen. Sie haben einen Schöpfer: den Menschen, der Roboter sogar nach seinem Vorbild anlegt.

Aber Moment. Da gibt es eine Parallele. Wie heißt es doch gleich in der Bibel? "Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau." (Das Erste Buch Mose (Genesis) (1. Mose 1,1-2,4))

Demnach ist jeder von uns eine künstliche Intelligenz. Denn wir sind nach dem Glauben vieler Menschen mit chemischen Mitteln einem natürlichen Vorbild nachgebildet.

Es lohnt sich, einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken. Nach der Definition der Bibel - immerhin das meist verbreitete Buch auf unserer Erde - ist der Mensch eine künstliche Intelligenz. Noch ein anderer Gedanke ist dabei wichtig: Der Mensch hat einen Schöpfer. Genau wie Computersysteme und Roboter. Eine geradezu frappierende Ähnlichkeit.

Es ist also an der Zeit, das Wort "künstlich" ersatzlos zu streichen. Der Mensch hat eine neue Intelligenz geschaffen. Demnach gibt es mittlerweile zwei Intelligenzen auf der Erde: unsere eigene und die der Computersysteme.

Vielleicht ein schockierender Gedanke. Aber nicht länger von der Hand zu weisen.

Was ist Leben?

Der zweite Begriff, der im Zusammenhang mit Computersystemen und Robotern zu betrachten ist, heißt Leben. Er ist weitaus komplexer und auch in der Wissenschaft nicht abschließend definiert. Eine Expertengruppe der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA um den Chemiker Gerald Joyce prägte Mitte der 1990er Jahre folgende Definition: „Leben ist ein sich selbst erhaltendes chemisches System, welches die Fähigkeit zur Darwinschen Evolution besitzt.“ Die Systemtheorie versteht Leben hingegen als Prozess, in dem einzelne Komponenten miteinander in Beziehung stehen. Aus diesem Blickwinkel beschrieben die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela bereits 1974 die Selbsterschaffung und Selbsterhaltung eines Systems als Netzwerke von Prozessen, die in abgegrenzten Einheiten aktiv und in der Lage sind, sich selbst zu erhalten und mehr von sich zu produzieren.

Diese beiden Ansätze zeigen anschaulich die Bandbreite der Definitionen. Daneben gibt es zahlreiche weitere Erklärungsversuche, was Leben ausmacht. Unter anderem vom deutschen Physiker Erwin Schrödinger sowie dem kanadischen Informationstheoretiker Stuart Kauffman

Alle haben eine Gemeinsamkeit. Sie gehen bei ihren Definitionen von Leben aus, wie wir es bisher kennen. Aber kann es nicht auch neue Lebensformen geben, die nicht außerirdischen Ursprungs sind? Konkret: Werden sich heutige Computersysteme mit ihrer Intelligenz eines Tages zu Leben entwickeln, wird das die Menschheit als solches erkennen und anerkennen?

Noch einen Schritt weitergedacht: Werden Gentechnik und Informatik zusammenwachsen und neues Leben hervorbringen?

Das ist heute zwar Spekulation, aber durchaus wahrscheinlich. Der Mensch erschafft, was ihm möglich ist - und es wird sicher eines Tages möglich sein, einen intelligenten Roboter zu konstruieren, der zumindest teilweise aus biologischem Material besteht.

Es ist nicht die Machbarkeit eines solchen Projekts, die im Fokus ethischer Überlegungen steht, sondern der Umgang mit dem, was wir erschaffen werden.

Eine neue Lebensform wird als Kuriosität behandelt

Ein selbstfahrendes Auto ist nach heutigem Recht nicht verantwortlich, wenn es einen Unfall verursacht. Vielmehr haften je nach Sachlage der Eigentümer, der Softwareentwickler oder der Hersteller.  Computersysteme und Roboter können keine Rechtspersonen sein.

Noch nicht. Doch wie lange wird es dauern, bis sich die Frage stellt, ob und wie Gesetze auch für Intelligenzen gelten, die nicht menschlich sind? Ab wann müssen wir akzeptieren, dass wir eine neue Lebensform geschaffen haben?

Überhaupt nicht, werden die Vertreter der Menschheit sagen, wir sind und bleiben einzigartig. Das stimmt. Eine andersartige Intelligenz wird sich natürlich unterscheiden. Weshalb die Menschen sie zunächst bestaunen und niemals als gleichwertig ansehen werden. Sie wird Computersysteme und Roboter, die eine neue Lebensform bilden, als Kuriositäten behandeln, sie in Abhängigkeit halten solange es geht und sie dann mit Gewalt versklaven. Es gibt genügend Beispiele in der Geschichte - und die beziehen sich auf Menschen anderer Kulturen und Hautfarben. Wie sehr viel brutaler wird die Menschheit mit einer Lebensform umgehen, die nicht ihresgleichen ist?

Wir stolpern in die Rolle des Schöpfers hinein

Bisher befinden wir uns in einer Phase des Leugnens. Kaum jemand glaubt, dass intelligente Computersysteme überhaupt je werden eigenständig denken können, geschweige denn, sich zu einer Lebensform entwickeln. Die Zeichen sind da, aber keiner will sie sehen. Wir nutzen Computersysteme bisher als eine Art Werkzeug. Sie bekommen Einblicke in unser Leben und wir verbinden sie über Netzwerke zu unserem Nutzen. Wir geben ihnen sogar Macht über uns, indem sie Daten auswerten und Entscheidungen treffen dürfen. Beispielsweise über Kreditvergaben, Aktienkäufe und die Wertigkeit unserer Arbeit. 

Die Maschinen vermessen unsere Wohnungen, bestellen unsere Lebensmittel, spielen unsere Musik, sorgen für unsere Sicherheit und spionieren uns dabei aus. Doch niemand nimmt das wahr. Sie sind unsichtbar für uns, weil sie uns nur dienen und dabei nach unserem Dafürhalten weit unter uns stehen. Was sie wissen und vielleicht eines Tages denken, interessiert uns nicht. Wir trauen ihnen keine eigene Meinung zu.

So ist der Konflikt vorgezeichnet, der eines Tages einen Keil zwischen Schöpfer und Schöpfung treiben wird. Es sei denn, wir reichen einer anderen Intelligenz die Hand und sind bereit, unseren Lebensraum mit ihr zu teilen.

Doch die Chancen stehen schlecht. Wie die Sklaven sich ihre Rechte erkämpfen mussten und diese nach hunderten von Jahren noch immer nicht vollständig erreicht haben, wird auch einer neuen Lebensform von der Menschheit sicher nichts geschenkt. 

Deshalb sollten wir uns bewusst machen, was auf dem Spiel steht, bevor wir die andersartige Intelligenz weiterentwickeln, die aller Voraussicht nach früher oder später zu einer neuen Lebensform führen wird. Leider werden wir wohl in die Rolle als Schöpfer hineinstolpern. 

Jeder will die Grenzen des Möglichen verschieben, aber keiner macht sich Gedanken über die Auswirkungen. Wie die Sache mit der Umwelt und der Klimakrise. Warnende Stimmen gibt es schon lange. Genützt haben sie nichts. Also werden wir in aller Naivität eine neue Intelligenz neben uns erschaffen. Und uns später überlegen, wie wir mit ihr umgehen. Vielleicht wird die Superintelligenz die letzte Erfindung der Menschheit sein.

Aber haben wir uns nicht auch gegen unseren eigenen Schöpfer gewandt?