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Mittwoch, 14. Februar 2024

Die Krise der westlichen Werte

Chaos in einem fiktiven Plenarsaal, durch den ein Reiter mit einem Pferd jagt und überall Rauch quillt.
Das führt zu den sogenannten westlichen Werten. Im Kalten Krieg schlossen sich Teile Europas mit den Vereinigten Staaten und weiteren Partnern zu einer Allianz zusammen. Im Kern ein militärisches Bündnis, verband die Staaten aber auch der gemeinsame Kapitalismus sowie ein recht konformes politisches und kulturelles Selbstverständnis. Vor allem christliche Werte boten dafür einen Orientierungsrahmen, auf den sich die Staaten weitgehend verständigen konnte. Die Klammer lieferte der Kampf gegen den Kommunismus, der im Wesentlichen jedoch ein Wettlauf um Ressourcen, besonders um Öl war. Werte wurden im großen Stil über die Kultur- insbesondere die Filmindustrie vermittelt. Das Massenmedium Fernsehen trug stark dazu bei, den Menschen ein weitgehend einheitliches Denken nahezubringen. Das geschah nicht durch staatlich gelenkte Propaganda, sondern durch die Macht des Marktes, die ein Gespür dafür entwickelte, Konsumenten auf die richtige Weise anzusprechen, um ihre Massenwaren abzusetzen. 

Das Aufblühen des Westens schuf eine neue Art von Kolonialismus

Weil die westlichen Werte anscheinend funktionierten, zogen die meisten Menschen mit. Sie mussten sich nur verpflichten, fleißig zu arbeiten und die staatliche Autorität nicht in Frage zu stellen. Im Gegenzug erhielten sie einen bisher nicht gekannten Wohlstand. Ein Deal, der einfach und verständlich genug für die Masse war. Doch er beinhaltete einige kleingedruckte Absätze, die zwar kaum jemand zur Kenntnis nahm, die jedoch trotzdem wichtig sind, um das Dilemma der heutigen weitgehend wertefreien Gesellschaft zu verstehen. Das bewusst Kleingedruckte schloss Menschen außerhalb der westlichen Welt von den Werten der kapitalistischen Industrieländer aus und erlaubte ihre Ausbeutung oder verschloss zumindest die Augen davor. Es besiegelte einen Pakt, dass der Wohlstand eines Teils der Menschheit auf Kosten des anderen Teils entstehen darf. Schlimmer noch: Dass alle Kämpfe des Kalten Krieges auf dem Rücken dieser Ausgeschlossenen ausgetragen werden. Das erneute Aufblühen des Westens ermöglichte eine neue Art von Kolonialismus. Nach außen autonome Staaten wurden in einer wirtschaftlichen Abhängigkeit gehalten, die notfalls auch militärisch durchgesetzt werden konnte, während die westliche Bevölkerung an freundschaftliche Beziehungen zu diesen Ländern glaubte. Medien bestärkten diesen Glauben durch ihre recht unkritische Berichterstattung. 

Der Staat konnte nicht mehr unumwunden agieren

Die westlichen Werte galten also nur bis an die Grenzen des Bündnisses. Darüber hinaus herrschte in weiten Teilen der Welt Chaos und Gewalt. Offensichtlich und beispielhaft steht dafür der Krieg in Vietnam. Die Vereinigten Staaten waren sich damals ihrer Stärke auch als führende Kulturnation dermaßen sicher, dass sie eine kritische und weitgehend objektive Berichterstattung über die jahrelange Kämpfe zuließen. Das Ergebnis war ein Aufschrei in der westlichen Welt, der erstmals sehr drastisch vor Augen geführt wurde, mit wieviel Blut ihr Wohlstand tatsächlich erkauft wurde. Die Revolten der sogenannten 1968er brachen los und forderten ein Umdenken. In Deutschland setzte ein langsamer Prozess des Wertewandels ein, auch wenn die Demonstranten zunächst gewaltsam auseinandergetrieben wurden. Der Staat reagierte mit ohnmächtiger Wut auf das Ansinnen, Veränderungen einzuleiten. Teile der Aktivisten wiederum radikalisierten sich daraufhin, um ihre Ideen gegen staatliche Gewalt durchzusetzen. Der kollektive Strom wurde von der Polarisierung der Gesellschaft angetrieben. Einmal aufgebrochen, verlor die staatliche Autorität zunehmend an Einfluss, auch wenn sie sich mit schärferen Gesetzen dagegen zur Wehr setzte. Weitere Kräfte setzten dem angeschlagenen Staat zu: Frauen forderten Gleichberechtigung und ein Recht auf Abtreibungen, Menschen wehrten sich gegen die Speicherung ihrer Daten, Atomkraft und die Stationierung von Atomwaffen und es sprossen sogenannte „Dritte Welt Projekte“ aus dem Boden. Der Staat konnte nicht mehr so unumwunden agieren, Werte verschoben sich, doch war das Engagement der Bevölkerung hauptsächlich auf ihre eigene Situation bezogen. Die westlichen Staaten lebten auch weiterhin auf Kosten anderer Menschen und Nationen. Obwohl das Volk durchaus kritischer dachte. Die Mühlen des kollektiven Stroms malen langsam. Gesellschaftliche Kräfte aus dem gesamten politischen Spektrum brachten sich teils offen, teils verdeckt in Stellung und warteten darauf, dass ihre Zeit anbrach.

Mittwoch, 31. Januar 2024

Politische und gesellschaftliche Konfusion

Die Demokratie ist hell erleuchtet und Menschen ziehen in einen stilisierten Reichstag, doch auf den Rängen davor herrscht Unruhe und es wird von den Außenstehenden debattiert.
Wie sich zeigte, war die Verunsicherung der Bundesrepublik Deutschland so groß, dass sie sich die DDR einverleiben musste und sich einen Zusammenschluss auf Augenhöhe nicht zutraute. Eine große Chance wurde vertan, auch weil eine öffentliche Diskussion über die Art und Weise des Zusammenwachsens kaum stattfand. Die Medien versagten genauso, wie der Staat und die alternativen Kräfte. Alle grölten trunken die Nationalhymne der BRD und feierten einen scheinbaren Sieg, den sie gerade damit in eine Niederlage verwandelten. Doch die Geschichte verfügt über die Eigenheit, große Geduld zu haben. Bis Fehler offensichtlich werden, dauert es. Erst heute ist das ganze Ausmaß der vergangenen Unrichtigkeiten einigermaßen abzusehen. Anstatt Deutschland zu vereinen, wurde es von Anfang an gespalten. Denn der einzige gemeinsame Wert ist bis jetzt der Konsumismus.

Freiheit ohne greifbare Werte

Vor allem kam es zu einer erneuten Unterschlagung der Geschichte. Diesmal nicht der Geschichte des anderen deutschen Staates, denn als Sieger fühlte sich die Bundesrepublik berechtigt, zu urteilen. Es war die Geschichte der sozialistisch geprägten Menschen, die weitgehend unberücksichtigt blieb. Obwohl der Sozialismus in der DDR enttäuschend verlief, verbrachten doch viele Menschen einen bedeutenden Teil ihres Lebens in der von ihm geschaffenen Wirklichkeit. Der Wechsel zum „Klassenfeind“ verlief für viele – obwohl gewollt – weitaus schwieriger als erwartet. Denn sie kamen aus einer Welt mit sozialistischen Werten und traten in eine scheinbare Freiheit ohne greifbare Werte. Plötzlich fehlten die Leitplanken, in denen sich ihr Leben geordnet und sicher bewegte. Sie fanden Arbeit und Wohlstand, verloren aber die Gemeinschaft. Die Bundesrepublik erwartete nur ein reibungsloses Miteinander. Wie ständig abwesende Eltern, gab ihnen das geeinte Deutschland Geld und glaubte damit seinen Aufgaben und Fürsorgepflichten nachgekommen zu sein. Doch wie die Kinder ständig abwesender Eltern, reagierten die neuen Bürger zunehmend mit Ungezogenheiten. Soziale Verwahrlosung eines viertel Volkes. 

Deutschland findet sich in der Welt nicht mehr zurecht

Währenddessen stolperte Deutschland in die nächsten Turbulenzen. Inzwischen vollkommen souverän und nicht mehr vom „Eisernen Vorhang“ des Kalten Krieges geschützt, rang es mit der Globalisierung. Plötzlich stand jedem die Welt offen und ganze Systeme wurden davon erschüttert. Das aufkommende Internet unterstützte diese Entwicklung ab Mitte der 1990er Jahre. Auf beides war Deutschland – wie der Rest der Welt – nicht vorbereitet, doch erwies sich der technologische und kulturelle Strukturwandel gerade für eine Nation ohne Eigenschaffen als außerordentlich fatal. Denn sie hatte den neu entstehenden virtuellen und realen Welten mit ihren andersartigen Umgangsformen nichts entgegenzusetzen. Es setzte ein Prozess der technologischen Stagnation sowie politischer und gesellschaftlicher Konfusion ein, der bis heute anhält. Deutschland lebt von seiner Substanz und findet sich in der Welt nicht mehr zurecht. Während über Gendersprache und Parteiverbote gestritten wird, belegt die beste deutsche Hochschule in einem internationalen Ranking Platz 55. Ein Blick in die Schullandschaft zeigt ein mangelhaftes Bildungssystem, das mehr auf Gleichheit und sozialen Umgang, als auf die Vermittlung von Wissen achtet. In einer zehnten Klasse erhielten Schüler die Aufgabe, das schriftliche Porträt einer beliebigen realen oder fiktiven Person zu erstellen. Darauf fragte einer der 16-jährigen: „Was ist ein Porträt?“ Zudem gelingt die Integration der zahlreichen Migranten nicht, die Deutschland beleben könnten, aber eine Nation vorfinden, die mit sich selbst ringt und kaum Interesse daran zu haben scheint, ihnen eine wirkliche Heimat zu geben. Die Folge sind Unzufriedenheit und Unruhe auf allen Seiten, die sich mit Hass gegen Minderheiten und Krawallen Luft machen. Zunehmend wird auch der Staat selbst zum Ziel von Angriffen.

Fehlende Debatte um die eigene Identität

Wie hängt das alles mit Werten und vor allem ihrer Abwesenheit zusammen? Werte wenden die Blicke der Menschen dem gleichen Verstehen zu. Existieren keine Werte oder werden sie nicht allgemein akzeptiert, gibt es natürlicherweise auch kein Verstehen untereinander. Die Menschen beginnen für sich nach Werten zu suchen und dabei kann es vorkommen, dass sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen verschiedenen Zielen verschreiben. In diesem Fall driftet eine Gesellschaft zunächst unmerklich, doch dann immer rasanter, dramatischer und sichtbarer auseinander. Anstatt gemeinsam in eine Richtung zu gehen, gibt es auf einmal viele Richtungen. Am Staatswesen wird gezogen und gezerrt. 

An diesem Punkt steht Deutschland heute. Durch fehlendes Geschichtsbewusstsein nach dem Untergang des Dritten Reiches sowie mangelndes Gespür bei der deutschen Einheit wurden große Chancen verpasst, dem Staat ein stabiles Wertegerüst zu geben und seinen Bürgern damit einen positiven Nationalstolz zu vermitteln. Jahrzehntelang war Deutschland viel zu sehr damit beschäftigt, sich immer wieder seiner selbst zu vergewissern, nachdem es sich nach dem Krieg vor allem die Kultur der US-Amerikaner angeeignet hatte. Doch eine Debatte um die eigene Identität fand und findet nicht statt. Deshalb verfügt Deutschland bis heute über kein Fundament an Werten, das unumschränkt von den Bürgern anerkannt ist.

Kein Staat kann Werte festlegen

„Was ist mit dem Grundgesetz?“ werden einige fragen. „Darin sind doch die Werte des deutschen Staates verankert.“ So wichtig das Grundgesetz sicherlich für die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland war, ist es doch keine Verfassung, sondern ein Gesetz, mit dem der Staat gegenüber seinen Bürgern gewisse Rechte garantiert. Dazu gehören unter anderem Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit. Rechte, die jeden beliebigen demokratischen Staat auszeichnen. Aber Werte? Das ist ein tragisches Missverständnis der deutschen Geschichte. Das Grundgesetz regelt lediglich das Rechtsverhältnis zwischen Staat und Volk. Seit seiner Ratifizierung wird behauptet, es enthalte die Werte Deutschlands. Das ist nicht der Fall. Lange Zeit bestand lediglich ein Konsens über die Regelungen des Grundgesetzes. Allerdings gab es darüber nie eine Abstimmung und die Erarbeitung einer echten Verfassung wurde, wie bereits ausgeführt, nach der sogenannten Wende versäumt. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass in einer Zeit der Krisen die Regelungen des Grundgesetzes von immer größeren Teilen der Bevölkerung in Frage gestellt werden. Denn sie sind im Grunde nichts anderes als eine einseitige Willenserklärung von Seiten des Staates. Die Bürger wurden nie an ihrer Ausarbeitung beteiligt und fühlen sich entsprechend wenig daran gebunden. Werte können auf Dauer nicht verordnet werden. Gerade, wenn es schlecht läuft, zeigt sich, ob ein Land beständige Werte etabliert oder sich jahrzehntelang diesbezüglich etwas vorgemacht hat. Es ist ein fortwährender Prozess. Der kollektive Strom bringt Werte hervor und bestätigt alte Werte, andere verschwinden. Kein Staat kann Werte einfach festlegen. Er ist höchstens in der Lage, sein Volk positiv zu beeinflussen und damit zur Auswahl von Werten aus dem kollektiven Strom beitragen. Eine bedeutende Aufgabe, die auf die Richtung der zutage geförderten Werte einzahlt.


Mittwoch, 24. Januar 2024

Staat ohne Eigenschaften

Deutschland nach dem Krieg war ein Staat ohne Eigenschaften, der als Unternehmen gegen den Kommunismus diente und entsprechende Werte ausformte.
Sehr interessant ist es jedenfalls, die Funktionsweise des kollektiven Stroms bei der Auswahl von Werten beobachtend mitzuerleben. Ein langsamer Prozess, der mit dem Untergang eines Staates begann. Die Menschen, die ehemals Deutsche waren, lebten einige Jahre in einer Zwischenwelt. Ihr Land hatte aufgehört zu existieren und für sie ging es täglich darum, zu überleben. Recht und Gesetz spielten eine untergeordnete Rolle. Werte galten nur insoweit, wie sie das rudimentäre Zusammenleben regelten. Es war die Stunde der Schattenwirtschaft und der Glückritter, die sich beide nicht sonderlich um Werte scherten. Die Menschen orientierten sich an den Gebräuchen der Besatzer, die irgendwie das Sagen hatten und ihre Werte installierten, weil sie in den ihnen unterstellten Gebieten klar kommen musste. Keiner machte sich Gedanken darum, alle funktionierten nur zu ihrem Vorteil. Deutschland war damals zwar kein rechtsfreier, aber ein weitgehend wertefreier Raum. Abgesehen natürlich von persönlichen Werten der einzelnen Menschen. Doch die Werte des Staates waren mit ihm untergegangen und damit auch deutsche Werte wie Gehorsam, Vaterlandsliebe, Stolz, Treue, Ehre, Loyalität und Nationalgefühl. Ab der sogenannten „Stunde Null“ waren die Deutschen frei von Werten. 

Gründungsmythos

Das wurde mit der Staatsgründung 1949 zum Problem. Was war der neue deutsche Staat? Ein Nachfolger des Dritten Reiches? Das wollte niemand. Ein vollkommen neues Gebilde? Viele hätten sich das bestimmt gewünscht, aber die Siegermächte ließen solch ein Konstrukt nicht zu. Jemand musste die Verantwortung für die Schweinerei, die das alte Deutschland angerichtet hatte, übernehmen. Also wurde eine Bundesrepublik gegründet, die nicht frei war, aber als Unternehmen gegen den Kommunismus diente, die nicht ganz anerkannt wurde, aber sich als verlässlicher, friedliebender Partner im westlichen Lager beweisen durfte. Ein Staat ohne Eigenschaften. Keiner fragte die Menschen. Denen war es jedoch recht, wie es kam, denn bald gab es wieder Arbeit und gut bestückte Geschäfte. Nebenbei begann der kollektive Strom zu malen. Er übernahm zwei Aufgaben: Die Vergangenheit erträglich auszulegen sowie dem besseren Deutschland einen Gründungsmythos zu verschaffen, der Werte bildet.

Handfeste Werte für die Zeit des Aufbaus

Beides gelang mit unglaublicher Präzision. Zum einen verabredete sich das ehemals nationalsozialistische Volk sehr schnell darauf, von nichts gewusst zu haben, sondern vielmehr durch eine verbrecherischen Clique benutzt worden zu sein. Die Täter erhielten ihre Strafe in den sogenannten Nürnberger Prozessen. Damit war das Unheil im Verständnis der Menschen gesühnt und für alle Zeiten ausgestanden. Zum anderen erzählte man sich zwei wunderbare Geschichten, die das neue, das gute Deutschland symbolisierten: Die Mär von den Trümmerfrauen und die Legende vom Wirtschaftswunderland. Aus beiden schöpft der kollektive Strom, um deutsche Werte für viele Jahrzehnte festzulegen. Niemand störte sich daran, dass die Trümmerfrauen eine Erfindung der Kriegspropaganda des Dritten Reiches waren und zum Teil dieselben Fotos für die Geschichte verwendet wurden. Auch, dass der rasante Aufstieg Deutschlands parallel zu dem Europas verlief und nicht das geringste mit besonderer Arbeitsleistung und deutscher Gründlichkeit zu tun hatte, schmälerte den Mythos des Wirtschaftswunders nicht. Die Menschen wollten an ihre Tüchtigkeit glauben und daran, diesmal auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Sie brauchten die feste Gewissheit, endlich gut zu sein. Gefüllte Regale und prominente Staatsbesuche gaben ihnen recht. Deutschland war wieder wer, wie viele erleichtert aufatmeten. Es verwundert nicht, dass der kollektive Strom in dieser Zeit entsprechende Werte lieferte: Zuverlässigkeit, Fleiß, Verbindlichkeit, Pünktlichkeit, Strebsamkeit, Familiensinn und Gemeinschaftsleben. Diese handfesten Werte passten in die Zeit des Aufbaus. Es hieß anzupacken, nicht zu zweifeln und zu verzagen, sondern Spaß an der Plackerei zu haben, die schließlich eine bessere Zukunft versprach. „Die Kinder sollen es einmal besser haben“, war damals eine gängige Redensart, die man auch genauso meinte.

Zutiefst verunsicherte Staaten

Das ging ungefähr zwanzig Jahre gut, dann wollten es einige Kinder anders haben. Sie probten den Aufstand, weil sie den Werten ihrer Eltern nicht vertrauten. Denn die waren nicht aus einer offenen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entstanden, sondern durch einen rein konsumorientierten Materialismus, orientiert vor allem am Lebensstil der Vereinigten Staaten, die jetzt Krieg und Unglück über die Welt brachten. Also gingen die Studenten auf die Straßen und Bürger protestierten gegen es Besuch des Schahs in der Bonner Republik. Die ließ zu, dass Sicherheitskräfte aus dem Iran ihr Volk mit schweren Holzlatten verprügelten. Ein Bruch, ein erster Riss. Weitere sollten folgen. Die Studenten verloren die Kraftprobe, doch sie misstrauten fortan dem Staat. Der kollektive Strom begann erneut zu malen. Aus den utopischen Vorstellungen junger Leute entsprangen im Laufe der Zeit Werte wie Gleichberechtigung, der Gedanke des Umweltschutzes, ziviler Ungehorsam, der Marsch durch die Instanzen und eine alternative Form des Zusammenlebens. Nur wiesen diese Werte erstmals keinen Bezug zu dem Staat auf, in dem sie entstanden. Zu lange war die neue Generation gegängelt und regelrecht bekämpft worden. Die Werte bildeten sich sozusagen im Untergrund heran und wurden auch dort erprobt. Natürlich kam es dabei zu vielen Irrtümern. Der Weg der Gewalt war ein Fehler, wie Gewalt auf jeder Seite und zu allen Zeiten falsch ist. Trotzdem formte sich allmählich eine alternative gesellschaftliche Kraft, die von den etablierten Systemen zunächst erbittert abgelehnt und dann heftig umworben wurde. Sie brachte ihre eigenen Werte mit und so verschwand langsam die Krawatte als männliches Accessoire. Das scheint eine Banalität, doch war sie stets ein Zeichen der besseren Gesellschaft. Lösten sich Klassenunterschiede nun auf? Leider zeigte sich, dass Äußerlichkeiten so oder so nur eine Attitüde für die Massen sind und keine Rückschlüsse auf die wirkliche Gesinnung zulassen. Denn einmal in der Nähe der Macht, ließ sich die strickende alternative gesellschaftliche Kraft genauso korrumpieren, wie die Krawattenträger und wechselte von billigen Turnschuhen zu Maßanzügen. Doch zunächst ging ein Ruck durch Deutschland, der so nicht vorgesehen war: Die Mauer fiel und die DDR löste sich auf. Das wurde zwar bejubelt, aber wer genau hinsah, erkannte den gewaltigen Schatten, den der kleine vormals sozialistische Landstrich auf die große Bundesrepublik warf. Die immensen wirtschaftlichen Herausforderungen waren zu bewältigen. Anders stand es um den Wertewandel. Deutschland befand sich auf beiden Seiten der Mauer im Umbruch. Die Wiedervereinigung kam zur Unzeit. Wie sollen zwei zutiefst verunsicherte Staaten eine gemeinsame Nation bilden?

Samstag, 6. Januar 2024

Der Nicht-Wiedereintritt in die Geschichte

Ein Bild im Stil des Expressionismus, das Deutschland vor dem Reichstag wortwörtlich im Grabenkampf zeigt.
Es gibt eine Bedingung, um innerhalb menschlicher Gesellschaften Werte zu erschaffen, nach ihnen zu leben, sie dauerhaft zu erhalten und an Veränderungen durch zeitgemäße Entwicklungen anzupassen: Die gemeinsame Geschichte sowie geschichtliches Bewusstsein als bedeutender eigenständiger Wert. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, fehlt der Gesellschaft Identität und sie wird dazu neigen, die Lücke durch besondere Leistungsfähigkeit zu kompensieren. 

Im Chaos der Differenzen

Deutschland ist solch ein Fall. Von der Kleinstaaterei geht es ins Kaiserreich, dann über die europäische Katastrophe des Ersten Weltkriegs in die ungeliebte und von vielen Seiten beschädigte Weimarer Republik, worauf nahtlos der Nationalsozialismus mit all seinen Schrecken folgt, der nur vom Zweiten Weltkrieg beendet werden kann und wiederum nahtlos in die sogenannte Bonner Republik einerseits und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) andererseits mündet, wovon nach der Wende und dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland (BRD) nur noch letztere übrigbleibt. In jeder Ära wird Geschichte benutzt: Um Kolonialismus und Krieg zu rechtfertigen, die Niederlage zu erklären, Heldenmut und Opfer für das sogenannte Vaterland zu verklären, die Größe der Deutschen Nation zu überhöhen, Massen für Ideologien zu begeistern“, millionenfache Morde zu legitimieren, wiederum Krieg zu führen und schließlich die Geschichte selbst für einen Neuanfang zu verdammen. Doch ohne Geschichtsbewusstsein gibt es kein Entkommen aus der Geschichte. Ohne die offene, ehrliche und vollständige Aufarbeitung seiner Geschichte verfügt Deutschland über keine allgemein in der Bevölkerung akzeptierten Werte, die in Krisenzeiten zum Zusammenhalt und Schulterschluss beitragen. Natürlich werden jetzt Fleiß, Disziplin und Pünktlichkeit als Deutsche Tugenden genannt. Aber es sind eben keine Werte. Die Frage ist: Kann die Gesellschaft einander grundsätzlich vertrauen, weil sie auf gemeinsamen Werten aufbaut? „Staatsgebilde sind eine gesellschaftliche Solidarität, gegründet auf dem fundamentalen Misstrauen in die menschliche Substanz“, schreibt Hannah Arendt in ihrem „Denktagebuch“. Und weiter: „Politisch orientieren sich die Menschen nach bestimmten wesentlichen Gemeinsamkeiten in einem absoluten Chaos der Differenzen.“

Die begrüßte Aneignung Deutschlands

Was sind diese wesentlichen Gemeinsamkeiten für die Deutschen? Hervorgehoben werden in diesem Zusammenhang immer wieder Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit sowie kulturelle Vielfalt. Interessanterweise hebt niemand auf historische Ereignisse als prägend für gesellschaftliche Werte ab, wie es zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika und England selbstverständlich ist. Auch ein übergeordneter Wert, wie der sogenannte American Dream, fehlt Deutschland nach der Wiedervereinigung vollständig. Bis dahin galten der Antikommunismus sowie die Überwindung der Teilung beider deutscher Staaten als wichtigste gesellschaftliche Übereinstimmungen. Darüber hinaus gab es nie eine deutsche Identität, die eine Verständigung auf einen konsumorientierten Sozialstaat überschreiten konnte. Deshalb wird in gewissen Abständen eine deutsche Leitkultur gefordert – was immer das sein soll. Doch welch kluge Sätze auch eines Tages auf irgendeinem Papier stehen werden, sie täuschen nicht darüber hinweg, das Deutschland intensive Aufarbeitung seiner Vergangenheit fehlt.

Nicht die Geschichte hat Deutschland als Nation zerstört, sondern die Einnahme einer Opferrolle nach den beiden Weltkriegen. Zunächst verklärte die sogenannte Dolchstoßlegende von 1918 zusammen mit dem Mythos von der unbesiegten deutschen Armee das untergegangene Kaiserreich und die alte Gesellschaftsordnung. Dann behauptete das deutsche Volk vom Wahnsinn des Nationalsozialismus, der nicht nur in einen neuen Krieg, sondern vor allem in den Völkermord des Holocaust mündete, kollektiv nichts gewusst zu haben und nur Befehlsempfänger gewesen zu sein. Mehr noch, habe es selbst sehr viel Leid zu beklagen. Deutschland kam damit durch. Ein paar der Täter wurden symbolisch verurteilt. Die meisten durften im Behördenapparat oder der privaten Wirtschaft weitermachen. Sie wurden zum Aufbau eines neuen Staates sogar an prominenten Stellen gebraucht – manche auch von den ideologisch verfeindeten Siegern Sowjetunion und USA. Beide eigneten sich Teile Deutschlands an. Dort standen sie gegeneinander und taumelten am Abgrund eines Dritten Weltkrieges.

Auf westdeutscher Seite wurde diese Aneignung begrüßt. Sie ersparte die Mühe, nach einer eigenen Identität fragen zu müssen. Sofort übernahm das Volk bereitwillig die bis dato fremden amerikanischen Sitten und Gebräuche. Solange die Schutzmacht nicht allzu viele Fragen stellte und den Wiederaufbau nach Kräften förderte, war die Welt für die Deutschen in Ordnung. Sie lernten zu schweigen und wie Amerikaner zu leben. Nicht nur amerikanische Musik, amerikanische Tänze, amerikanische Filme und amerikanische Zigaretten hielten Einzug, sondern mit all den Annehmlichkeiten auch amerikanische Werte. Sie wurden unterhaltsam von der amerikanischen Kulturindustrie vermittelt und fanden schnell auch Zugang in deutsche Unternehmen, die vor allem dank großer Aufträge aus den Vereinigten Staaten wuchsen. Deutschland entwickelte sich zum Erfüllungsgehilfen westlicher Konsumindustrie sowie zu einem der wichtigsten Austragungsorte des Kalten Krieges. Dafür wurde es gut bezahlt. 

Deutschland ist mehr ein Unternehmen, als ein Staat

Natürlich gab es politische Kämpfe. Zum Beispiel um die Wiederbewaffnung, die Ostpolitik, die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen und die Kernenergie. Die BRD hatte ihre Typen, die sich im Deutschen Bundestag regelmäßig in die Wolle gerieten. Das war unterhaltsam, mehr nicht. Denn die Männer und Frauen rangen nicht um eine Deutsche Nation mit eigenständigen Werten, sondern nur um die Wege, auf denen Deutschland den Verbündeten folgen sollte. Die vorerst letzte Chance für ein Bekenntnis zur Geschichte und deren Einfluss auf das Deutschland nach 1945 verstrich ungenutzt in Folge des abrupten Mauerfalls. Anstatt die Möglichkeit des Zusammenwachsens beider deutscher Staaten für einen historischen Neuanfang zu nutzen und eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten, zwang der westdeutsche Staat die DDR zum Anschluss. Das sah politisch gut aus und beließ alles beim Alten. Doch genau darin besteht bis heute das Problem. Deutschland verpasste erneut den Zeitpunkt für seinen Wiedereintritt in die Geschichte, sondern installierte nur einen vollkommen unbedeutenden „Tag der Deutschen Einheit“. Unbedeutend, weil er nur an ein zufälliges Ereignis erinnert, nicht aber den Beginn einer neuen deutschen Zeitrechnung markiert. Deutschland ist nach wie vor keine souveräne Nation, sondern weiterhin ein Land, das sich andient, mehr ein Unternehmen, das seinen Gewinn maximieren möchte, als ein Staat, der in der Welt nach seinen Werten wirkt. 

Sonntag, 19. November 2023

Die Herrschaft des Verwaltungsstabes

Im Verwaltungsapparat dient der einzelne Menschn als Zahnrad im Getriebe des Systems, das die Demokratie unterläuft.
Es sind Abwehrmechanismen gegen Eindringlinge, die in eine ihnen fremde und nicht zugestandene Gruppe streben, denen sich die Mitglieder dieser aus ihrer Sicht in Gefahr befindlichen Gruppe bedienen. Vorurteile und Beschuldigungen machen Stimmung gegen alles Fremde und schließen die eigenen Reihen fester zusammen. Die Menschen sehen sich als Bewahrer ihrer Werte und Kultur, die plötzlich wichtiger werden, als sie über lange Zeit waren. „Wer unsere Werte nicht einhält und unsere Kultur nicht lebt, gehört nicht zu uns“, sagen sie und verschanzen sich hinter Regeln, die ihnen nur vor kurzem lästig waren. Nun gelten sie als Zugehörigkeitsnachweis, mit dem die Menschen Besitz schützen und Bestand wahren. 

Der Bürokrat funktioniert im Sinnes des Systems

An diesem Punkt kommt die Bürokratie wieder ins Spiel. Sie ist die Instanz, mit der größten Kontinuität innerhalb einer Gesellschaft. Wahlen gehen spurlos an ihr vorüber und Umbrüche prallen meist an ihr ab. Selbst nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes blieb die Bürokratie weitgehend intakt. Jede Herrschaft äußert sich als Verwaltungsapparat. Schon der deutsche Soziologe Max Weber sah die Keimzelle des Staates in der Bürokratie, auf die der moderne Großstaat „technisch schlechthin angewiesen ist“. Sie überführe Gemeinschaftshandeln in rational geordnetes Gesellschaftshandeln. Dabei erkennt Weber bereits die Gefahr ihrer Verselbständigung zum „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“. Er warnte explizit vor der „Herrschaft des Verwaltungsstabes“, sah aber in der Bürokratie dennoch die einzige Form, langfristig Überleben sicherzustellen. Die gnadenlose Effizienz von Bürokratie erlebte Max Weber, der im Juni 1920 starb, nicht mehr. Es blieb der Philosophin Hannah Arendt vorbehalten, darin die „Banalität des Bösen“ zu erkennen. Mit Adolf Eichmann beobachtete sie einen exemplarischen Vertreter der Bürokratie während seines Prozesses 1961 in Jerusalem, der sich darauf berief, mit der logistischen Durchführung von Judentransporten im Sinne des nationalsozialistischen Staates und der damals geltenden Gesetze nichts Unrechts getan zu haben. Nach Hannah Arendt war Eichmann ein ganz und gar durchschnittlicher Mensch, der seiner Aufgabe höchst gewissenhaft nachkam und sich über die Auswirkungen seines beruflichen Handelns keinerlei Gedanken machte, da er sich in Übereinstimmung mit Recht und Ordnung sah. Der Bürokrat hinterfragte nicht Staat und Gesellschaft, sondern funktionierte im Sinne des Systems. Schlimmer noch: Als Teil des Verwaltungsapparates ermöglichte er überhaupt erst - Hand in Hand mit tausenden anderen Bürokraten - einen funktionstüchtigen Staat. Dabei spielt es keine Rolle, wieviel Eigeninitiative Eichmann an den Tag legte, denn er arbeitete als Teil einer Maschinerie, die Kraft ihrer Existenz Ergebnisse produzierte. Sobald sich ein Mensch in vorgegebene Strukturen begibt und sich fest mit ihnen verbindet, verliert er seine Eigenständigkeit. Ihm bleibt nur die Wahl, sich zu arrangieren oder auszutreten. Wer vom System überzeugt ist, wird sich darin engagieren, kritischer eingestellte Mitarbeiter gehen vielleicht dazu über, Dienst nach Vorschrift zu leisten. Doch jeder trägt auf seine Weise zur Funktion sowie zum Erhalt und Ausbau der Maschinerie bei. Das „Böse“ eines Systems wird genährt von den kleinsten Zahnrädchen, die funktionierend ineinandergreifen. 

Natürlich stellt sich an dieser Stelle die Fragen: Weshalb das „Böse“ und nicht das „Gute“? 

Mittwoch, 17. Mai 2023

Freiheiten verschwinden klammheimlich

Wie die Ritter auf diesem Bild, müssen sich Menschen für die Verteidigung ihrer Freiheiten rüsten
Das ist ein Widerspruch des gängigen Freiheitsverständnisses. Gilt der Einzelne in der westlichen Gesellschaft doch als weitgehend frei. Dabei wird allerdings vergessen, dass Freiheit immer nur im gesellschaftlichen Rahmen gewährt werden kann. Um diesen Rahmen herum wird allerdings viel getan, um die Illusion von Freiheit entstehen zu lassen und aufrecht zu erhalten. So wählt der Einzelne selbst, wieviel Zwängen er sich aussetzt und wie hoch er die Mauern um sich her aufrichten möchte. Dabei gilt: Je mehr Teilhabe an den Angeboten der Gesellschaft, desto größer die geforderte Anpassung und damit einhergehende Einengung. Denn die Leistungen der Gesellschaft, wie zum Beispiel Sicherheit, kosten die Freiheiten der Bürger.

Die Gesellschaft muss sich ständig zeigen

Der Einzelne trifft seine Wahl und verstrickt sich damit immer tiefer im Netz der Gesellschaft, das manchmal auch als bequeme Hängematte bezeichnet wird. Doch auch eine Hängematte ist bei genauerer Betrachtung ein Netz. Er fügt sich, indem er Kredite aufnimmt, ein Haus baut, Familie gründet. Von da an hat er keine Wahl mehr. Der Mensch muss in der Gesellschaft funktionieren, um seine Verpflichtungen zu erfüllen und sein Leben fortführen zu können. Ansonsten wird er schleichend herausgedrängt.

Im Gegenzug ist die Gesellschaft omnipräsent. Sie muss sich ständig zeigen, damit die Menschen an sie glauben. Denn ein Staatsgebilde ist ohne den Glauben der Masse schlichtweg nicht existent. So etwas wie eine Nation denken sich die Menschen ja nur aus. Ohne ihren Glauben an ein solches Konstrukt gibt es den Nationalstaat nicht. Deshalb müssen auf öffentlichen Gebäuden Fahnen wehen, müssen Polizisten in Uniform durch die Straßen laufen, müssen Medien ständig berichten. Wenn der Staat im Gespräch ist, versichert er sich seiner eigenen Existenz und zeigt sie vor den Leuten. Die Umwandlung von einer bloßen Idee zu einem Konstrukt, das Bestand hat, findet in den Köpfen der Menschen statt. Nur solange sie daran glauben, dass ihre Handlungen, beispielsweise das Mitführen eines Personalausweises und das Einhalten von Gesetzen, einen Nutzen haben, ist der Staat existent und Leute werden zu seinen Bürgern.

Es bleibt nur die Freiheit des Konsumierens

Die Menschen gehen einen Deal mit sich selbst ein, wie sie auch, wenn sie einen Gott anrufen, zu sich selbst beten. Der Deal lautet: Gebe Freiheit gegen Teilhabe und Schutz. Vielleicht meinen die Menschen diesen Deal, wenn sie davon sprechen, ihre Seele dem Teufel zu verkaufen, denn sie lassen sich auf einen Pakt ein, der ihnen in der Masse materiellen Wohlstand gegen geistige Armut einbringt. Natürlich gibt es Bildung und entsprechende Einrichtungen zur Vermittlung von Wissen. Aber die sollen Bürger nur lehren, was sie im Sinne des Systems wissen müssen. Nicht von ungefähr werden die Universitäten ohne viel Aufhebens - und, bemerkenswert, ohne großen Protest - von einem Hort des freien und kritischen Denkens zu mehr oder weniger weiterführenden Schulen degradiert. Obwohl die meisten Studenten schon vorher selten über den Tellerrand ihres Lernpensums geschaut haben, hätten sie aber wenigsten die Möglichkeit dazu gehabt, was den heutigen Studenten fast vollkommen verwehrt bleibt.

Freiheiten verschwinden klammheimlich im Dschungel der Bürokratie. Im Grunde bleibt nur eine Freiheit erhalten, die auch von Staat und Gesellschaft nach Kräften gefördert wird: Die Freiheit des Konsumierens. Diese Freiheit meinen Menschen auch, wenn sie davon sprechen, frei zu sein. Denn in diesem Bereich haben sie tatsächlich alle Freiheiten, vorausgesetzt, sie verfügen über ausreichend Geld. Was das Pendel in den Bereich der Scheinfreiheit ausschlagen lässt.

Die Reaktion auf gesellschaftliche Leere

Die Werte einer Gesellschaft wandeln sich mit ihrem Entwicklungsstadium. Eine Aufbauphase charakterisiert sich durch Fleiß und hohe Arbeitsmoral. Wohlstand wird geprägt von Überschuss und vermehrtem Besitz. Die Konsumgesellschaft geht über diese Abschnitte hinaus. Sie ist eine Phase der Stagnation, in der es kaum Visionen und gesellschaftliche Ziele gibt. Es bleibt nur, das zu erhalten und auszubauen, was längst da ist. Im Grunde eine Phase großer Langeweile, in der Angst vor dem Abstieg umgeht, sich aber niemand verantwortlich fühlt, den Status quo zu verändern. Schließlich geht es allen mehr als gut. 

Der Konsumismus ist die Reaktion auf gesellschaftliche Leere, in der niemand inhaltlich etwas beizutragen hat, weil keinem anderes einfällt, als stur weiterzumachen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Der Staat wir nur noch verwaltet, er ist nicht mehr zu Innovationen fähig.

Welche Werte bringt der Konsumismus hervor? Den Wert des Materialismus. Geld wohnt ein Zauber inne. Alles ist käuflich. Auch Gesundheit und Jugend. Schönheit kann per Katalog erworben werden. Kinder lassen sich planen und optimieren. Das Leben ist ein einziger Event. Selbst das Alter lässt sich hinausschieben, auch Greise dürfen noch eine jugendliche Attitüde an den Tag legen. Darüber hinaus?

Sonntag, 30. April 2023

Der Prozess der Anpassung wird durch die Gesellschaft ermittelt

Heftige Demonstrationen werden durch Veränderungen ausgelöst, die angepassten Menschen Angst bereiten
Jeder einzelne Mensch wird von den Werten einer Gesellschaft eingefangen. Sei er noch so anders in seinem Denken und Handeln. Die Notwendigkeiten des Lebens sind dabei die Nabelschnur, die das Individuum immer und zu jeder Zeit mit der Gesellschaft verbindet. Ganz gleich, wie sehr ein Mensch rebelliert – diese Nabelschnur darf er nicht zerreißen, ohne augenblicklich zu Grunde zu gehen. Selbst Rebellion kann deshalb nur in den Grenzen von Werten ablaufen, die von einer Masse akzeptiert werden und die menschliche Gesellschaft nicht grundsätzlich infrage stellen. Die Menschheit ist nicht zu neuen Formen des Zusammenlebens in der Lage, weil sie in die Notwendigkeit ihres eigenen Lebens verhaftet ist. Jede gesellschaftliche Utopie ist nur eine scheinbar neue Lebensweise.

Menschen synchronisieren Werte

Ein besonderer Wesenszug der Spezies Mensch ist die Anpassung. Vielleicht ist sie sogar ein eigener Wert. Seine Flexibilität, sich allen möglichen Situationen anzupassen, macht den Menschen so erfolgreich. Wir haben nie aufgehört uns anzupassen und werden es wohl auch niemals tun. Aber was genau ist diese Anpassung? Was geschieht, wenn wir unseren stärksten Trumpf ausspielen?

Technisch gesehen synchronisieren wir Werte. Wer sich anpasst, übernimmt Werte. Zugleich gibt er einen Teil seiner eigenen Werte auf. Wird ein Mensch zum Beispiel Soldat oder Polizist, muss er damit einverstanden sein, dass der Wert „Du sollst nicht töten“ nicht mehr uneingeschränkt für ihn gilt. Vielmehr lebt er fort an nach dem Wert: „Du darfst töten, wenn Staat und Gesellschaft es Dir erlauben“. Eine Anpassung an den Beruf und die Möglichkeit, die Werte von Staat und Gesellschaft wenn nötig mit Gewalt durchzusetzen. Wer dazu bereit ist, muss ich sehr mit diesen Werten verbunden fühlen.

Die Anpassung der Menschen ist das Fundament einer Gesellschaft. Es ist eine Symbiose zwischen ihr und den einzelnen Menschen. Für die Unterordnung gibt sie Sicherheit und Möglichkeiten der Entfaltung im Rahmen ihrer Werte. Natürlich nicht darüber hinaus. Wie sollte das auch gehen?

Lohn ist Anerkennung

Interessanterweise funktioniert die Anpassung auch bei den nicht Angepassten. Irgendwann jedenfalls. Sobald sie etwas zu verlieren haben. Wenn sich also ihre nicht Anpassung auszuzahlen beginnt. Dann ist die Anpassung Ein Vorteil für die nicht angepassten. Ein Ausgleich für die Langeweile.

Es sind vorwiegend die nicht Angepassten, die neue Werte aus dem kollektiven Strom picken und der Gesellschaft auf diese Weise eine Chance auf Entwicklung geben. Doch sobald sie ihre Aufgabe in Kunst, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik erledigt haben, werden sie von der Masse geschluckt und gliedern sich in das große Heer der Angepassten ein. Ihr Lohn ist Anerkennung, Geld und ewiger Ruhm. Doch die Gefahr, die von ihnen ausgeht, ist zu groß, als dass sie ein Leben lang Andersdenkende sein dürften. Entweder passen auch sie sich nach einer einiger Zeit an oder werden vernichtet. Die Gesellschaft verteidigt ihre Werte. Nur wenigen ist es erlaubt, sie zeitweise mit Füßen zu treten und so einen Prozess der Erneuerung oder Veränderung auszulösen. Diese wenigen wir sind zumeist keine besonders glücklichen Menschen.

Da die Masse sich anpasst, braucht sie diese unglücklichen Menschen, die für eine Vision oder Utopie kämpfen. Der eine oder andere von ihnen wird die Masse auf seinem Gebiet schließlich überzeugen und mitreißen. Doch selbst Individualisten sind letztlich angepasst im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung. Vielleicht nehmen sie sich ein wenig mehr Freiheit heraus. Die aber auch nur im gesellschaftlichen Umfeld existiert.

Der Staat darf jederzeit in das Betriebssystem eingreifen

Die Frage, ob die Menschen irgendwann in einer Zeit der besonderen gesellschaftlichen Anpassung leben oder sich aus der Notwendigkeit des Lebens überdurchschnittlich anpassen müssen, stellt sich nicht. Denn der Prozess der Anpassung, der Anpassungsgrund sozusagen, wird permanent durch die Gesellschaft ermittelt. Er ergibt sich aus dem Wohlstand einer Gesellschaft, der Bedrohung, die ihm von innen und außen droht und dem daraus abgeleiteten Potenzial an Freiheit, das jedem einzelnen zugestanden werden darf. Die größte Einengung erleben die Menschen im Krieg, denn sie haben rund um die Uhr im Sinne der Masse zu funktionieren. Ihre größte Freiheit genießen sie dagegen in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs und eines weltweiten Bemühens um Verständigung.

Freiheit oder erzwungene Anpassung gehen mit Erfolg und Misserfolg einer Gesellschaft einher. Fliehen Menschen aus einer Gesellschaft, wird sie Mauern errichten. Leisten sie Widerstand, wird sie ihre Bürger überwachen. Die Grenzen der Staatsgewalt verschieben sich je nach politischer und wirtschaftlicher Ausrichtung. Doch Grenzen gibt es in jeder Gesellschaft sowie auch erzwungene Anpassung. Werden Werte, die eine Gesellschaft ausmachen, nicht freiwillig eingehalten, wendet jeder Staat Gewalt an. Dabei greift er zu Mitteln, die seine eigenen Werte widerspiegeln: Einsatz von Provokateuren, Polizeigewalt, Aushebelung von Rechten. All das, um übergeordnete Werte zu schützen, die eine Gesellschaft willkürlich definiert. Manchmal geht es auch einfach nur um das Ansehen des Staates und seiner Repräsentanten auf der Weltbühne.

Damit öffnet sich eine neue Ebene von Werten: Sie sind der Repräsentanz einer Gesellschaft, dem Staat, zugeordnet und überstrahlen alle anderen Werte. Das Individuum muss zurückstehen und sogar die Masse verliert ihre Macht. Der Staat hat sozusagen Administratoren Gewalt und darf jederzeit in das Betriebssystem eingreifen. Das bedeutet, er verändert die Spielregeln.