Gründungsmythos
Das wurde mit der Staatsgründung 1949 zum Problem. Was war der neue deutsche Staat? Ein Nachfolger des Dritten Reiches? Das wollte niemand. Ein vollkommen neues Gebilde? Viele hätten sich das bestimmt gewünscht, aber die Siegermächte ließen solch ein Konstrukt nicht zu. Jemand musste die Verantwortung für die Schweinerei, die das alte Deutschland angerichtet hatte, übernehmen. Also wurde eine Bundesrepublik gegründet, die nicht frei war, aber als Unternehmen gegen den Kommunismus diente, die nicht ganz anerkannt wurde, aber sich als verlässlicher, friedliebender Partner im westlichen Lager beweisen durfte. Ein Staat ohne Eigenschaften. Keiner fragte die Menschen. Denen war es jedoch recht, wie es kam, denn bald gab es wieder Arbeit und gut bestückte Geschäfte. Nebenbei begann der kollektive Strom zu malen. Er übernahm zwei Aufgaben: Die Vergangenheit erträglich auszulegen sowie dem besseren Deutschland einen Gründungsmythos zu verschaffen, der Werte bildet.
Handfeste Werte für die Zeit des Aufbaus
Beides gelang mit unglaublicher Präzision. Zum einen verabredete sich das ehemals nationalsozialistische Volk sehr schnell darauf, von nichts gewusst zu haben, sondern vielmehr durch eine verbrecherischen Clique benutzt worden zu sein. Die Täter erhielten ihre Strafe in den sogenannten Nürnberger Prozessen. Damit war das Unheil im Verständnis der Menschen gesühnt und für alle Zeiten ausgestanden. Zum anderen erzählte man sich zwei wunderbare Geschichten, die das neue, das gute Deutschland symbolisierten: Die Mär von den Trümmerfrauen und die Legende vom Wirtschaftswunderland. Aus beiden schöpft der kollektive Strom, um deutsche Werte für viele Jahrzehnte festzulegen. Niemand störte sich daran, dass die Trümmerfrauen eine Erfindung der Kriegspropaganda des Dritten Reiches waren und zum Teil dieselben Fotos für die Geschichte verwendet wurden. Auch, dass der rasante Aufstieg Deutschlands parallel zu dem Europas verlief und nicht das geringste mit besonderer Arbeitsleistung und deutscher Gründlichkeit zu tun hatte, schmälerte den Mythos des Wirtschaftswunders nicht. Die Menschen wollten an ihre Tüchtigkeit glauben und daran, diesmal auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Sie brauchten die feste Gewissheit, endlich gut zu sein. Gefüllte Regale und prominente Staatsbesuche gaben ihnen recht. Deutschland war wieder wer, wie viele erleichtert aufatmeten. Es verwundert nicht, dass der kollektive Strom in dieser Zeit entsprechende Werte lieferte: Zuverlässigkeit, Fleiß, Verbindlichkeit, Pünktlichkeit, Strebsamkeit, Familiensinn und Gemeinschaftsleben. Diese handfesten Werte passten in die Zeit des Aufbaus. Es hieß anzupacken, nicht zu zweifeln und zu verzagen, sondern Spaß an der Plackerei zu haben, die schließlich eine bessere Zukunft versprach. „Die Kinder sollen es einmal besser haben“, war damals eine gängige Redensart, die man auch genauso meinte.
Zutiefst verunsicherte Staaten
Das ging ungefähr zwanzig Jahre gut, dann wollten es einige Kinder anders haben. Sie probten den Aufstand, weil sie den Werten ihrer Eltern nicht vertrauten. Denn die waren nicht aus einer offenen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entstanden, sondern durch einen rein konsumorientierten Materialismus, orientiert vor allem am Lebensstil der Vereinigten Staaten, die jetzt Krieg und Unglück über die Welt brachten. Also gingen die Studenten auf die Straßen und Bürger protestierten gegen es Besuch des Schahs in der Bonner Republik. Die ließ zu, dass Sicherheitskräfte aus dem Iran ihr Volk mit schweren Holzlatten verprügelten. Ein Bruch, ein erster Riss. Weitere sollten folgen. Die Studenten verloren die Kraftprobe, doch sie misstrauten fortan dem Staat. Der kollektive Strom begann erneut zu malen. Aus den utopischen Vorstellungen junger Leute entsprangen im Laufe der Zeit Werte wie Gleichberechtigung, der Gedanke des Umweltschutzes, ziviler Ungehorsam, der Marsch durch die Instanzen und eine alternative Form des Zusammenlebens. Nur wiesen diese Werte erstmals keinen Bezug zu dem Staat auf, in dem sie entstanden. Zu lange war die neue Generation gegängelt und regelrecht bekämpft worden. Die Werte bildeten sich sozusagen im Untergrund heran und wurden auch dort erprobt. Natürlich kam es dabei zu vielen Irrtümern. Der Weg der Gewalt war ein Fehler, wie Gewalt auf jeder Seite und zu allen Zeiten falsch ist. Trotzdem formte sich allmählich eine alternative gesellschaftliche Kraft, die von den etablierten Systemen zunächst erbittert abgelehnt und dann heftig umworben wurde. Sie brachte ihre eigenen Werte mit und so verschwand langsam die Krawatte als männliches Accessoire. Das scheint eine Banalität, doch war sie stets ein Zeichen der besseren Gesellschaft. Lösten sich Klassenunterschiede nun auf? Leider zeigte sich, dass Äußerlichkeiten so oder so nur eine Attitüde für die Massen sind und keine Rückschlüsse auf die wirkliche Gesinnung zulassen. Denn einmal in der Nähe der Macht, ließ sich die strickende alternative gesellschaftliche Kraft genauso korrumpieren, wie die Krawattenträger und wechselte von billigen Turnschuhen zu Maßanzügen. Doch zunächst ging ein Ruck durch Deutschland, der so nicht vorgesehen war: Die Mauer fiel und die DDR löste sich auf. Das wurde zwar bejubelt, aber wer genau hinsah, erkannte den gewaltigen Schatten, den der kleine vormals sozialistische Landstrich auf die große Bundesrepublik warf. Die immensen wirtschaftlichen Herausforderungen waren zu bewältigen. Anders stand es um den Wertewandel. Deutschland befand sich auf beiden Seiten der Mauer im Umbruch. Die Wiedervereinigung kam zur Unzeit. Wie sollen zwei zutiefst verunsicherte Staaten eine gemeinsame Nation bilden?
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