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Samstag, 30. März 2024

Materialisierung des Geistes

Die Mittel zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse haben die Anderen, zu denen ein Mensch sich in seiner Bedürftigkeit begeben muss.
Um Werte dauerhaft sichtbar und verständlich gesellschaftlich zu verankern, repräsentieren Symbole sie allgemeingültig. Die Frage, die sich aus diesem Gedanken ergibt, lautet: Sind alle Dinge, die Menschen in irgendeiner Form umgeben, entsprechende Symbole? Ist die Ding-Welt also im weitesten Sinn der materielle Ausdruck nicht nur des menschlichen Denkens, sondern auch seines Wertekanons? Dafür spricht der hohe Stellenwert, der dem Handeln als Schnittstelle zwischen dem Inneren des Menschen und dem Außen sowie der Sphäre der Anderen, zukommt. Es ist die Materialisierung des Geistes. Denken wird durch Handeln offensichtlich und zeigt sein ansonsten verborgenes Wesen in dem, was der Mensch herstellt. Bestimmte Güter wie beispielsweise Häuser, Autos, Kleidung und teure Schreibgeräte werden umgangssprachlich regelrecht als Statussymbole bezeichnet. Nicht nur zugewiesene Funktion wohnt ihnen also inne, sondern darüber hinaus eine Mitteilung über den gesellschaftlichen Rang eines bestimmten Menschen, der durch seine Handlungen diese Güter nicht gerade erschaffen, aber doch übernommen hat. Mehr sogar: An der Ansammlung und Zuordnung weiterer kleinerer und größerer Güter lassen sich Denkweise und Handlungsmuster eines Menschen ablesen. Wie richtet er seine Wohnung ein? Welche Erinnerungsstücke bewahrt er auf? Wie sehen die Bilder an den Wänden aus? Womit würzt er seine Speisen? Was befindet sich in seinem Kühlschrank? Tausende Dinge berichten vom Leben, Denken, Handeln und Fühlen eines Menschen. Gemeinsam spiegeln sie seine Werte wider. Doch nicht nur dass – sie beeinflussen sie auch. Denn mit den Dingen, die seinem Denken entspringen, muss er sich beschäftigen, um sie zu pflegen, zu erhalten und später vielleicht zu verdammen. Sie begleiten ihn ein Stück weit auf seinem Weg, sind ihm Ansporn, Trost und Last. Er verwendet Zeit auf sie und lässt sich von ihnen formen.

Schätze sollen den Menschen in die Zukunft tragen

Die Dinge, mit denen sich der Mensch umgibt, stehen ihm vielfach näher als die Anderen. Bei ihnen fühlt er sich wohl. Mit Dingen belohnt er sich. Sie machen zwar Arbeit, aber von ihnen geht keine direkte Gefahr aus. Konsumieren ist auch Handeln – beides geht ineinander über, zum Beispiel beim Aufbau eines Gartenhauses oder einer Modelleisenbahnanlage. Indem er sein Umfeld mittels Konsums und Handeln formt, gibt der Mensch seinen Träumen eine Gestalt. Das Wolkenkuckucksheim wird in gewissem Sinn real – und sei es nur als modellierte Wirklichkeit. Die Anderen sind ausgeschlossen. Zutritt bekommen nur handverlesene Vertraute. Auf diese Weise erschafft der Mensch etwas, das er Heim nennt, in dem er schalten und walten kann, wie es ihm beliebt. Alle Dinge erhalten über ihre reine Funktion hinaus eine persönliche Bedeutung. Sie werden aufgeladen mit Erinnerungen und Emotionen. Sich von ihnen zu trennen, fällt schwer. Es sind die Dinge, die den Menschen überleben und in ihrer Gesamtheit seine Hinterlassenschaft an die Welt bilden. Sein Anker in der Unendlichkeit. Zu Lebzeiten hortet er Schätze, die seinen Namen in der Zukunft erhalten sollen. Das ist seine Verbindung mit der Welt der Anderen. Nachkommen sichern zwar sein genetisches Überleben – aber nur die Dinge sind mit seinem Handeln und Wirken verbunden.

Einsam denkend, hemmungslos handelnd

Schon Hegel wusste, dass der Wille seinen Zweck durch das Bedürfnis erhält, dessen Befriedigung der Mittel bedarf, die direkt hinein in die Welt führen, da sie in äußeren Dingen bestehen, die Eigentum oder Produkt anderer sind. Der Einzelne betritt die Welt der Allgemeinheit nur deshalb, weil er in seiner einsamen Bedürftigkeit nach den Mitteln zu ihrer Befriedigung sucht. Aus diesem Grund entstand der Handel. Dinge wurden herangeschafft, um die Bedürfnisse Dritter zu erfüllen. Dabei erkannten die Menschen bald: Je mehr Dinge sie anbieten, desto schneller wachsen die Bedürfnisse. Nachfrage entsteht vor allem durch das Wissen um Eigentum und Produkte anderer. Indem sie ihm einfachen und sicheren Zugang zu ihren Errungenschaften gewährt, nimmt die plurale Welt Einfluss auf den Willen des Einzelnen.  Werte entstehen zur Organisation und zum Schutz dieses komplexen Vorgangs genauso, wie zur Absicherung individueller Interessen gegenüber der Allgemeinheit. Sie dienen gleichermaßen als Vermittler und Bollwerk zwischen Geist und Materie, dem einsam Denkenden und dem hemmungslos Handelnden. Der Mensch ist immer beides und braucht deshalb Werte auch und vielleicht sogar insbesondere zur Disziplinierung seiner eigenen widerstreitenden Gefühle. Ohne Werte würde er seine Bedürfnisse vermutlich noch stärker auf Kosten der Allgemeinheit befriedigen, als es schon jetzt der Fall ist.

Menschliche Phantasie dichtet Dingen Werte an

Können Dinge Träger von Werten sein? Auf jeden Fall ist ihnen ein individueller materieller Wert zu eigen. Je nach Güte, Menge, Material und Eigenschaften wird er festgelegt und variiert im Lauf der Zeit. Es ist allerdings kein unabhängiger, neutraler, dem Ding innewohnender Wert, sondern ein von Menschen ermittelter und vergebener Preis, der sich vor allem danach bemisst, wie sehr ihresgleichen das Ding besitzen wollen. Ebenso verhält es sich mit immateriellen Werten, die einem Ding anhaften können. Menschen verleihen ihm wunderbare Eigenschaften, über die es selbst in keiner Weise verfügt und die es auch nicht für sich in Anspruch nimmt. Beispielsweise wahrhaftig zu sein, Gut von Böse unterscheiden zu können oder mystische Kräfte zu verleihen. Aber ein Stein ist weder mutig noch ehrlich, nicht kreativ und auch nicht fürsorglich. Er ist ein Stein, der sich möglicherweise zu einem speziellen Zweck benutzen lässt, der aber, nur weil ein Mensch einen anderen mit ihm erschlägt, keine negativen Eigenschaften hat und auch keinen Wert an sich, weil er Teil eines Hauses wird. Menschen geben ihm seinen Zweck und formen ihn zu ihrem Gebrauch. Sie dichten ihm vielleicht Zauberkräfte an und führen geheime Rituale mit ihm aus. Doch der Stein bleibt dabei dieser eine Stein, ganz gleich viele Vorstellung menschliche Phantasie mit ihm verbindet. Dinge können also keine Träger von Werten sein. Sie wissen weder, dass es Werte gibt, noch was Werte sind. Nur der menschliche Geist stellt mitunter eine Verbindung zwischen ihnen und seinen eigenen Ansichten her, um sie in sein Reich einzubeziehen. Dabei entwickelt er Werte, die Bezug zu Dingen haben, zum Beispiel ist „stahlhart“ solch ein Wert oder auch „flink wie ein Wiesel“. Die Dinge stehen dabei aber nur für die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften und haben ansonsten keinen Bezug zu dem mit ihnen verbundenen Wert.

Dinge werden zu Tatsachen

Ludwig Wittgenstein schreibt: „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“ Jedoch werden im Zusammenleben Dinge gerade durch ihren symbolischen Gehalt zu Tatsachen. So symbolisiert ein Haus durchaus Reichtum, Stärke und Macht seiner Besitzer – und allein dadurch die Tatsache einer gewissen gesellschaftlichen Stellung. Menschen machen auch Leben zum symbolischen Gebrauchsgegenstand, wie beispielsweise Blumen oder Haustiere, die unter anderem dazu benutzt werden, um Gefühle auszudrücken oder Einsamkeit zu zerstreuen. Dinge drücken also Tatsachen aus und werden zu Tatsachen in ihren symbolhaften Aussagen, ihrem Ausdruck über ihren reinen Gebrauchswert hinaus, der immer eine gesellschaftliche Wertung innerhalb einer Zeit darstellt. 

Mittwoch, 24. Januar 2024

Staat ohne Eigenschaften

Deutschland nach dem Krieg war ein Staat ohne Eigenschaften, der als Unternehmen gegen den Kommunismus diente und entsprechende Werte ausformte.
Sehr interessant ist es jedenfalls, die Funktionsweise des kollektiven Stroms bei der Auswahl von Werten beobachtend mitzuerleben. Ein langsamer Prozess, der mit dem Untergang eines Staates begann. Die Menschen, die ehemals Deutsche waren, lebten einige Jahre in einer Zwischenwelt. Ihr Land hatte aufgehört zu existieren und für sie ging es täglich darum, zu überleben. Recht und Gesetz spielten eine untergeordnete Rolle. Werte galten nur insoweit, wie sie das rudimentäre Zusammenleben regelten. Es war die Stunde der Schattenwirtschaft und der Glückritter, die sich beide nicht sonderlich um Werte scherten. Die Menschen orientierten sich an den Gebräuchen der Besatzer, die irgendwie das Sagen hatten und ihre Werte installierten, weil sie in den ihnen unterstellten Gebieten klar kommen musste. Keiner machte sich Gedanken darum, alle funktionierten nur zu ihrem Vorteil. Deutschland war damals zwar kein rechtsfreier, aber ein weitgehend wertefreier Raum. Abgesehen natürlich von persönlichen Werten der einzelnen Menschen. Doch die Werte des Staates waren mit ihm untergegangen und damit auch deutsche Werte wie Gehorsam, Vaterlandsliebe, Stolz, Treue, Ehre, Loyalität und Nationalgefühl. Ab der sogenannten „Stunde Null“ waren die Deutschen frei von Werten. 

Gründungsmythos

Das wurde mit der Staatsgründung 1949 zum Problem. Was war der neue deutsche Staat? Ein Nachfolger des Dritten Reiches? Das wollte niemand. Ein vollkommen neues Gebilde? Viele hätten sich das bestimmt gewünscht, aber die Siegermächte ließen solch ein Konstrukt nicht zu. Jemand musste die Verantwortung für die Schweinerei, die das alte Deutschland angerichtet hatte, übernehmen. Also wurde eine Bundesrepublik gegründet, die nicht frei war, aber als Unternehmen gegen den Kommunismus diente, die nicht ganz anerkannt wurde, aber sich als verlässlicher, friedliebender Partner im westlichen Lager beweisen durfte. Ein Staat ohne Eigenschaften. Keiner fragte die Menschen. Denen war es jedoch recht, wie es kam, denn bald gab es wieder Arbeit und gut bestückte Geschäfte. Nebenbei begann der kollektive Strom zu malen. Er übernahm zwei Aufgaben: Die Vergangenheit erträglich auszulegen sowie dem besseren Deutschland einen Gründungsmythos zu verschaffen, der Werte bildet.

Handfeste Werte für die Zeit des Aufbaus

Beides gelang mit unglaublicher Präzision. Zum einen verabredete sich das ehemals nationalsozialistische Volk sehr schnell darauf, von nichts gewusst zu haben, sondern vielmehr durch eine verbrecherischen Clique benutzt worden zu sein. Die Täter erhielten ihre Strafe in den sogenannten Nürnberger Prozessen. Damit war das Unheil im Verständnis der Menschen gesühnt und für alle Zeiten ausgestanden. Zum anderen erzählte man sich zwei wunderbare Geschichten, die das neue, das gute Deutschland symbolisierten: Die Mär von den Trümmerfrauen und die Legende vom Wirtschaftswunderland. Aus beiden schöpft der kollektive Strom, um deutsche Werte für viele Jahrzehnte festzulegen. Niemand störte sich daran, dass die Trümmerfrauen eine Erfindung der Kriegspropaganda des Dritten Reiches waren und zum Teil dieselben Fotos für die Geschichte verwendet wurden. Auch, dass der rasante Aufstieg Deutschlands parallel zu dem Europas verlief und nicht das geringste mit besonderer Arbeitsleistung und deutscher Gründlichkeit zu tun hatte, schmälerte den Mythos des Wirtschaftswunders nicht. Die Menschen wollten an ihre Tüchtigkeit glauben und daran, diesmal auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Sie brauchten die feste Gewissheit, endlich gut zu sein. Gefüllte Regale und prominente Staatsbesuche gaben ihnen recht. Deutschland war wieder wer, wie viele erleichtert aufatmeten. Es verwundert nicht, dass der kollektive Strom in dieser Zeit entsprechende Werte lieferte: Zuverlässigkeit, Fleiß, Verbindlichkeit, Pünktlichkeit, Strebsamkeit, Familiensinn und Gemeinschaftsleben. Diese handfesten Werte passten in die Zeit des Aufbaus. Es hieß anzupacken, nicht zu zweifeln und zu verzagen, sondern Spaß an der Plackerei zu haben, die schließlich eine bessere Zukunft versprach. „Die Kinder sollen es einmal besser haben“, war damals eine gängige Redensart, die man auch genauso meinte.

Zutiefst verunsicherte Staaten

Das ging ungefähr zwanzig Jahre gut, dann wollten es einige Kinder anders haben. Sie probten den Aufstand, weil sie den Werten ihrer Eltern nicht vertrauten. Denn die waren nicht aus einer offenen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entstanden, sondern durch einen rein konsumorientierten Materialismus, orientiert vor allem am Lebensstil der Vereinigten Staaten, die jetzt Krieg und Unglück über die Welt brachten. Also gingen die Studenten auf die Straßen und Bürger protestierten gegen es Besuch des Schahs in der Bonner Republik. Die ließ zu, dass Sicherheitskräfte aus dem Iran ihr Volk mit schweren Holzlatten verprügelten. Ein Bruch, ein erster Riss. Weitere sollten folgen. Die Studenten verloren die Kraftprobe, doch sie misstrauten fortan dem Staat. Der kollektive Strom begann erneut zu malen. Aus den utopischen Vorstellungen junger Leute entsprangen im Laufe der Zeit Werte wie Gleichberechtigung, der Gedanke des Umweltschutzes, ziviler Ungehorsam, der Marsch durch die Instanzen und eine alternative Form des Zusammenlebens. Nur wiesen diese Werte erstmals keinen Bezug zu dem Staat auf, in dem sie entstanden. Zu lange war die neue Generation gegängelt und regelrecht bekämpft worden. Die Werte bildeten sich sozusagen im Untergrund heran und wurden auch dort erprobt. Natürlich kam es dabei zu vielen Irrtümern. Der Weg der Gewalt war ein Fehler, wie Gewalt auf jeder Seite und zu allen Zeiten falsch ist. Trotzdem formte sich allmählich eine alternative gesellschaftliche Kraft, die von den etablierten Systemen zunächst erbittert abgelehnt und dann heftig umworben wurde. Sie brachte ihre eigenen Werte mit und so verschwand langsam die Krawatte als männliches Accessoire. Das scheint eine Banalität, doch war sie stets ein Zeichen der besseren Gesellschaft. Lösten sich Klassenunterschiede nun auf? Leider zeigte sich, dass Äußerlichkeiten so oder so nur eine Attitüde für die Massen sind und keine Rückschlüsse auf die wirkliche Gesinnung zulassen. Denn einmal in der Nähe der Macht, ließ sich die strickende alternative gesellschaftliche Kraft genauso korrumpieren, wie die Krawattenträger und wechselte von billigen Turnschuhen zu Maßanzügen. Doch zunächst ging ein Ruck durch Deutschland, der so nicht vorgesehen war: Die Mauer fiel und die DDR löste sich auf. Das wurde zwar bejubelt, aber wer genau hinsah, erkannte den gewaltigen Schatten, den der kleine vormals sozialistische Landstrich auf die große Bundesrepublik warf. Die immensen wirtschaftlichen Herausforderungen waren zu bewältigen. Anders stand es um den Wertewandel. Deutschland befand sich auf beiden Seiten der Mauer im Umbruch. Die Wiedervereinigung kam zur Unzeit. Wie sollen zwei zutiefst verunsicherte Staaten eine gemeinsame Nation bilden?