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Mittwoch, 14. Februar 2024

Die Krise der westlichen Werte

Chaos in einem fiktiven Plenarsaal, durch den ein Reiter mit einem Pferd jagt und überall Rauch quillt.
Das führt zu den sogenannten westlichen Werten. Im Kalten Krieg schlossen sich Teile Europas mit den Vereinigten Staaten und weiteren Partnern zu einer Allianz zusammen. Im Kern ein militärisches Bündnis, verband die Staaten aber auch der gemeinsame Kapitalismus sowie ein recht konformes politisches und kulturelles Selbstverständnis. Vor allem christliche Werte boten dafür einen Orientierungsrahmen, auf den sich die Staaten weitgehend verständigen konnte. Die Klammer lieferte der Kampf gegen den Kommunismus, der im Wesentlichen jedoch ein Wettlauf um Ressourcen, besonders um Öl war. Werte wurden im großen Stil über die Kultur- insbesondere die Filmindustrie vermittelt. Das Massenmedium Fernsehen trug stark dazu bei, den Menschen ein weitgehend einheitliches Denken nahezubringen. Das geschah nicht durch staatlich gelenkte Propaganda, sondern durch die Macht des Marktes, die ein Gespür dafür entwickelte, Konsumenten auf die richtige Weise anzusprechen, um ihre Massenwaren abzusetzen. 

Das Aufblühen des Westens schuf eine neue Art von Kolonialismus

Weil die westlichen Werte anscheinend funktionierten, zogen die meisten Menschen mit. Sie mussten sich nur verpflichten, fleißig zu arbeiten und die staatliche Autorität nicht in Frage zu stellen. Im Gegenzug erhielten sie einen bisher nicht gekannten Wohlstand. Ein Deal, der einfach und verständlich genug für die Masse war. Doch er beinhaltete einige kleingedruckte Absätze, die zwar kaum jemand zur Kenntnis nahm, die jedoch trotzdem wichtig sind, um das Dilemma der heutigen weitgehend wertefreien Gesellschaft zu verstehen. Das bewusst Kleingedruckte schloss Menschen außerhalb der westlichen Welt von den Werten der kapitalistischen Industrieländer aus und erlaubte ihre Ausbeutung oder verschloss zumindest die Augen davor. Es besiegelte einen Pakt, dass der Wohlstand eines Teils der Menschheit auf Kosten des anderen Teils entstehen darf. Schlimmer noch: Dass alle Kämpfe des Kalten Krieges auf dem Rücken dieser Ausgeschlossenen ausgetragen werden. Das erneute Aufblühen des Westens ermöglichte eine neue Art von Kolonialismus. Nach außen autonome Staaten wurden in einer wirtschaftlichen Abhängigkeit gehalten, die notfalls auch militärisch durchgesetzt werden konnte, während die westliche Bevölkerung an freundschaftliche Beziehungen zu diesen Ländern glaubte. Medien bestärkten diesen Glauben durch ihre recht unkritische Berichterstattung. 

Der Staat konnte nicht mehr unumwunden agieren

Die westlichen Werte galten also nur bis an die Grenzen des Bündnisses. Darüber hinaus herrschte in weiten Teilen der Welt Chaos und Gewalt. Offensichtlich und beispielhaft steht dafür der Krieg in Vietnam. Die Vereinigten Staaten waren sich damals ihrer Stärke auch als führende Kulturnation dermaßen sicher, dass sie eine kritische und weitgehend objektive Berichterstattung über die jahrelange Kämpfe zuließen. Das Ergebnis war ein Aufschrei in der westlichen Welt, der erstmals sehr drastisch vor Augen geführt wurde, mit wieviel Blut ihr Wohlstand tatsächlich erkauft wurde. Die Revolten der sogenannten 1968er brachen los und forderten ein Umdenken. In Deutschland setzte ein langsamer Prozess des Wertewandels ein, auch wenn die Demonstranten zunächst gewaltsam auseinandergetrieben wurden. Der Staat reagierte mit ohnmächtiger Wut auf das Ansinnen, Veränderungen einzuleiten. Teile der Aktivisten wiederum radikalisierten sich daraufhin, um ihre Ideen gegen staatliche Gewalt durchzusetzen. Der kollektive Strom wurde von der Polarisierung der Gesellschaft angetrieben. Einmal aufgebrochen, verlor die staatliche Autorität zunehmend an Einfluss, auch wenn sie sich mit schärferen Gesetzen dagegen zur Wehr setzte. Weitere Kräfte setzten dem angeschlagenen Staat zu: Frauen forderten Gleichberechtigung und ein Recht auf Abtreibungen, Menschen wehrten sich gegen die Speicherung ihrer Daten, Atomkraft und die Stationierung von Atomwaffen und es sprossen sogenannte „Dritte Welt Projekte“ aus dem Boden. Der Staat konnte nicht mehr so unumwunden agieren, Werte verschoben sich, doch war das Engagement der Bevölkerung hauptsächlich auf ihre eigene Situation bezogen. Die westlichen Staaten lebten auch weiterhin auf Kosten anderer Menschen und Nationen. Obwohl das Volk durchaus kritischer dachte. Die Mühlen des kollektiven Stroms malen langsam. Gesellschaftliche Kräfte aus dem gesamten politischen Spektrum brachten sich teils offen, teils verdeckt in Stellung und warteten darauf, dass ihre Zeit anbrach.

Mittwoch, 7. Februar 2024

Emotionale Meinungsbildung

In der Gesellschaft gibt es kaum sinnvolle Auseinandersetzungen, sondern eher einen Schulterschluss von Medien, Wirtschaft und Politik.
Lassen sich die Werte eines Staates als die Gesamtheit aller Werte seiner Bürger definieren? Sicherlich nicht. 

Orte der Arbeit

Aber wie in einer Demokratie jeder Wahlberechtigte über eine Stimme verfügt, so kann auch jeder Mensch seine ureigenen Werte in der Gesellschaft zur Diskussion stellen. Das geschieht über Familie, Freunde, Gruppen, Vereine, Parteien und Organisationen. Jedes öffentliche Verhalten spiegelt Werte wider und legt sie auf diese Weise anderen nahe. Ein großer Multiplikator von Werten sind selbstverständlich Orte der Arbeit, an denen viele Menschen täglich zusammenkommen. Dort prägt das eigene Verhalten die Atmosphäre mit, in der Arbeit stattfindet. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang Medien, deren Reflektionen Werte bei jedem Beitrag gewichten und verbreiten. Dabei transportieren sie die Werte ihrer Mitarbeiter, Nutzer, Eigentümer und Objekte der Berichterstattung. 

Freiwillige Gleichschaltung der Medien

Gerade die klassischen Medien durchleben aktuell einen großen Wandel. Sie verlieren ihre Stellung als zentrale Instanz der Meinungsvielfalt – oder als sogenannte vierte Gewalt im Staat. Denn die Sozialen Medien laufen ihnen den Rang ab. Dabei waren bereits gedruckte Zeitungen ein flüchtiges Gut. Nachrichten kamen und gingen. Immerhin wurde manche Debatte in den Medien ausgefochten. Meinungsbildung war allerdings schon immer ein wirtschaftliches Produkt und als solches den Bedingungen des Marktes unterworfen. Manche Anzeige wurde aus Unmut über die Berichterstattung zurückgezogen und meist knickten die Medien ein, sobald große Unternehmen Konsequenzen zogen. Prominente Anzeigenkunden durften mit wohlwollender Berichterstattung rechnen. Hinzu kam die zunehmende Konzentration der Verlage. Die Macht der Medien lag nur noch in wenigen Händen. Auch Fernsehen und Rundfunk hinzugerechnet, blieb von der vielgerühmten Presse- und Meinungsfreiheit nicht mehr viel übrig. Zu sehr orientierte sich die Medienlandschaft angesichts der Macht weniger Konzerne auf die kommerziellen Aspekte ihres Daseins. Ihren Bildungsauftrag vernachlässigte sie mehr und mehr zugunsten schlichter, aber lukrativer Unterhaltung. Experimente beschränkten sich darauf, mit möglichst wenig Einsatz die höchsten Einnahmen zu erzielen. Selbst Nachrichtenmagazine vermittelten seit Mitte der 1990er Jahre mit Aufkommen des sogenannten Infotainment Meldungen nur noch häppchenweise, mit vielen bunten Grafiken und Bildern garniert. Natürlich gab und gibt es Ausnahmen. Doch spätestens mit der weitgehend unkritischen Berichterstattung zur Pandemie und den einschränkenden Maßnahmen, die wie eine freiwillige Gleichschaltung der Medien wirkte, zeigt sich die eher staatstragende als kritische Funktion der vierten Gewalt. Gerade als Werte bildende Instanz hat sie in Zeiten der Krise vollkommen versagt. Die Vermutung liegt nahe, Ursache sei ihre vor allem wirtschaftliche Ausrichtung als Medienunternehmen. Es lässt sich nicht leugnen, dass sie im eigenen Interesse die Konsumorientierung der Menschen fördert und Teil der Kulturindustrie ist. Demnach verfolgt sie eher ihre eigenen Interessen, die primär darin bestehen, einen verlässlichen Staat mit kaufkräftigen Kunden zu unterstützen. Es gibt kaum Auseinandersetzungen zu kritischen Themen. Zu beobachten ist eher ein Schulterschluss von Medien, Wirtschaft und Politik. Der zentrale Wert, der auf diese Weise vermittelt wird, ist die Beachtung des eigenen Vorteils. Niemand in der Medienlandschaft stößt eine ernsthafte Debatte unter anderem über deutsche Kriegsbeteiligungen, den schleichenden Niedergang des Landes, das Scheitern der Integration und die Bevormundung durch Minderheiten an. Keiner fahndet nach Ursachen für das Erstarken des Extremismus.

Werte müssen keine positiv besetzten Eigenschaften haben

Eine Auseinandersetzung mit diesen Themen wird inzwischen an anderen Orten geführt. In den Sozialen Medien, die von Menschen befeuert werden, denen politisch korrekte Sprache ein Gräuel ist. Sie posten rundheraus ihre Wut, finden Publikum und beeinflussen damit das Denken im Land. Das ist keine professionelle Meinungsbildung, sondern eine emotionale. Behauptungen werden aufgestellt, Meinungen vertreten und auf Hintergrundinformationen meist verzichtet. Es geht nicht darum, abzuwägen, offen zu diskutieren und zu gemeinsamen Schlussfolgerungen zu gelangen. Ziel ist es, zu Polemisieren und andere von der eigenen Meinung zu überzeugen, Hetze eingeschlossen. Das Versagen der deutschen Gesellschaft, Werte zu schaffen und ihre Bürger von ihnen zu überzeugen,  wird hier sehr deutlich vor Augen geführt. In den Sozialen Medien sind diejenigen besonders aktiv, die sich nicht mehr zugehörig fühlen – und es werden mehr. Der kollektive Strom malt auch dort. Er bringt Werte wie Deutschtum, Nationalismus, Antisemitismus, Gewaltverherrlichung, Totalitarismus, Militarismus und einiges mehr hervor. Und ja, auch das sind Werte, die in einer gewissen Art von Gesellschaft oberste Priorität haben können. Wir nehmen sie nur nicht unbedingt als Werte wahr, weil das Wort „Wert“ zumeist mit positiv besetzten Eigenschaften assoziiert wird. Doch wie auch „Gut“ und „Böse“ nicht eindeutig definiert werden können, lassen sich auch Werte nicht allein der „hellen“ oder „dunklen“ Seite der Macht zuordnen. Werte sind, was Menschen als solche anerkennen.

Mittwoch, 24. Januar 2024

Staat ohne Eigenschaften

Deutschland nach dem Krieg war ein Staat ohne Eigenschaften, der als Unternehmen gegen den Kommunismus diente und entsprechende Werte ausformte.
Sehr interessant ist es jedenfalls, die Funktionsweise des kollektiven Stroms bei der Auswahl von Werten beobachtend mitzuerleben. Ein langsamer Prozess, der mit dem Untergang eines Staates begann. Die Menschen, die ehemals Deutsche waren, lebten einige Jahre in einer Zwischenwelt. Ihr Land hatte aufgehört zu existieren und für sie ging es täglich darum, zu überleben. Recht und Gesetz spielten eine untergeordnete Rolle. Werte galten nur insoweit, wie sie das rudimentäre Zusammenleben regelten. Es war die Stunde der Schattenwirtschaft und der Glückritter, die sich beide nicht sonderlich um Werte scherten. Die Menschen orientierten sich an den Gebräuchen der Besatzer, die irgendwie das Sagen hatten und ihre Werte installierten, weil sie in den ihnen unterstellten Gebieten klar kommen musste. Keiner machte sich Gedanken darum, alle funktionierten nur zu ihrem Vorteil. Deutschland war damals zwar kein rechtsfreier, aber ein weitgehend wertefreier Raum. Abgesehen natürlich von persönlichen Werten der einzelnen Menschen. Doch die Werte des Staates waren mit ihm untergegangen und damit auch deutsche Werte wie Gehorsam, Vaterlandsliebe, Stolz, Treue, Ehre, Loyalität und Nationalgefühl. Ab der sogenannten „Stunde Null“ waren die Deutschen frei von Werten. 

Gründungsmythos

Das wurde mit der Staatsgründung 1949 zum Problem. Was war der neue deutsche Staat? Ein Nachfolger des Dritten Reiches? Das wollte niemand. Ein vollkommen neues Gebilde? Viele hätten sich das bestimmt gewünscht, aber die Siegermächte ließen solch ein Konstrukt nicht zu. Jemand musste die Verantwortung für die Schweinerei, die das alte Deutschland angerichtet hatte, übernehmen. Also wurde eine Bundesrepublik gegründet, die nicht frei war, aber als Unternehmen gegen den Kommunismus diente, die nicht ganz anerkannt wurde, aber sich als verlässlicher, friedliebender Partner im westlichen Lager beweisen durfte. Ein Staat ohne Eigenschaften. Keiner fragte die Menschen. Denen war es jedoch recht, wie es kam, denn bald gab es wieder Arbeit und gut bestückte Geschäfte. Nebenbei begann der kollektive Strom zu malen. Er übernahm zwei Aufgaben: Die Vergangenheit erträglich auszulegen sowie dem besseren Deutschland einen Gründungsmythos zu verschaffen, der Werte bildet.

Handfeste Werte für die Zeit des Aufbaus

Beides gelang mit unglaublicher Präzision. Zum einen verabredete sich das ehemals nationalsozialistische Volk sehr schnell darauf, von nichts gewusst zu haben, sondern vielmehr durch eine verbrecherischen Clique benutzt worden zu sein. Die Täter erhielten ihre Strafe in den sogenannten Nürnberger Prozessen. Damit war das Unheil im Verständnis der Menschen gesühnt und für alle Zeiten ausgestanden. Zum anderen erzählte man sich zwei wunderbare Geschichten, die das neue, das gute Deutschland symbolisierten: Die Mär von den Trümmerfrauen und die Legende vom Wirtschaftswunderland. Aus beiden schöpft der kollektive Strom, um deutsche Werte für viele Jahrzehnte festzulegen. Niemand störte sich daran, dass die Trümmerfrauen eine Erfindung der Kriegspropaganda des Dritten Reiches waren und zum Teil dieselben Fotos für die Geschichte verwendet wurden. Auch, dass der rasante Aufstieg Deutschlands parallel zu dem Europas verlief und nicht das geringste mit besonderer Arbeitsleistung und deutscher Gründlichkeit zu tun hatte, schmälerte den Mythos des Wirtschaftswunders nicht. Die Menschen wollten an ihre Tüchtigkeit glauben und daran, diesmal auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Sie brauchten die feste Gewissheit, endlich gut zu sein. Gefüllte Regale und prominente Staatsbesuche gaben ihnen recht. Deutschland war wieder wer, wie viele erleichtert aufatmeten. Es verwundert nicht, dass der kollektive Strom in dieser Zeit entsprechende Werte lieferte: Zuverlässigkeit, Fleiß, Verbindlichkeit, Pünktlichkeit, Strebsamkeit, Familiensinn und Gemeinschaftsleben. Diese handfesten Werte passten in die Zeit des Aufbaus. Es hieß anzupacken, nicht zu zweifeln und zu verzagen, sondern Spaß an der Plackerei zu haben, die schließlich eine bessere Zukunft versprach. „Die Kinder sollen es einmal besser haben“, war damals eine gängige Redensart, die man auch genauso meinte.

Zutiefst verunsicherte Staaten

Das ging ungefähr zwanzig Jahre gut, dann wollten es einige Kinder anders haben. Sie probten den Aufstand, weil sie den Werten ihrer Eltern nicht vertrauten. Denn die waren nicht aus einer offenen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entstanden, sondern durch einen rein konsumorientierten Materialismus, orientiert vor allem am Lebensstil der Vereinigten Staaten, die jetzt Krieg und Unglück über die Welt brachten. Also gingen die Studenten auf die Straßen und Bürger protestierten gegen es Besuch des Schahs in der Bonner Republik. Die ließ zu, dass Sicherheitskräfte aus dem Iran ihr Volk mit schweren Holzlatten verprügelten. Ein Bruch, ein erster Riss. Weitere sollten folgen. Die Studenten verloren die Kraftprobe, doch sie misstrauten fortan dem Staat. Der kollektive Strom begann erneut zu malen. Aus den utopischen Vorstellungen junger Leute entsprangen im Laufe der Zeit Werte wie Gleichberechtigung, der Gedanke des Umweltschutzes, ziviler Ungehorsam, der Marsch durch die Instanzen und eine alternative Form des Zusammenlebens. Nur wiesen diese Werte erstmals keinen Bezug zu dem Staat auf, in dem sie entstanden. Zu lange war die neue Generation gegängelt und regelrecht bekämpft worden. Die Werte bildeten sich sozusagen im Untergrund heran und wurden auch dort erprobt. Natürlich kam es dabei zu vielen Irrtümern. Der Weg der Gewalt war ein Fehler, wie Gewalt auf jeder Seite und zu allen Zeiten falsch ist. Trotzdem formte sich allmählich eine alternative gesellschaftliche Kraft, die von den etablierten Systemen zunächst erbittert abgelehnt und dann heftig umworben wurde. Sie brachte ihre eigenen Werte mit und so verschwand langsam die Krawatte als männliches Accessoire. Das scheint eine Banalität, doch war sie stets ein Zeichen der besseren Gesellschaft. Lösten sich Klassenunterschiede nun auf? Leider zeigte sich, dass Äußerlichkeiten so oder so nur eine Attitüde für die Massen sind und keine Rückschlüsse auf die wirkliche Gesinnung zulassen. Denn einmal in der Nähe der Macht, ließ sich die strickende alternative gesellschaftliche Kraft genauso korrumpieren, wie die Krawattenträger und wechselte von billigen Turnschuhen zu Maßanzügen. Doch zunächst ging ein Ruck durch Deutschland, der so nicht vorgesehen war: Die Mauer fiel und die DDR löste sich auf. Das wurde zwar bejubelt, aber wer genau hinsah, erkannte den gewaltigen Schatten, den der kleine vormals sozialistische Landstrich auf die große Bundesrepublik warf. Die immensen wirtschaftlichen Herausforderungen waren zu bewältigen. Anders stand es um den Wertewandel. Deutschland befand sich auf beiden Seiten der Mauer im Umbruch. Die Wiedervereinigung kam zur Unzeit. Wie sollen zwei zutiefst verunsicherte Staaten eine gemeinsame Nation bilden?

Sonntag, 14. Januar 2024

Die Ignoranz des wertefreien Raumes

Eine egalitäre Elite stürzt von einem Hochhaus in die aufbegehrende Meute auf der Straße.
Sind Bürger nur angestellte Mitarbeiter in dem Unternehmen „Staat“, steht es ihnen frei, zu kündigen. Genau das geschieht augenblicklich. Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung kehrt Deutschland den Rücken zu. Sei es als Auswanderer oder durch innere Immigration. Die Geschichtslosigkeit wird zum Problem. Was bleibt, wenn der konsumorientierte Sozialstaat scheitert? Nichts, denn die Menschen erzählen sich keine gemeinsamen Geschichten über Deutschland. Sie schweigen über die Vergangenheit, wie sie es in der BRD gelernt haben. Da Werte aber Instanzen persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse sind – auch als Nation – verfügt Deutschland tatsächlich nicht über historisch gewachsene Werte. Schlimmer noch: Die seit Jahrzehnten zunehmende Abstraktion der Gesellschaft ist außerdem eine Abkehr von Werten, denn auch sie werden soweit abstrahiert, dass letztlich nur noch der Aspekt der Nützlichkeit eines Menschen übrig bleibt. Doch wenn das leistungsmäßige Funktionieren in einem System der höchste Wert ist, auf den sich die Gesellschaft hauptsächlich verständigt, ist sie sehr anfällig gegen jede Art neuer Ideen, die verfangen, sobald das ursprüngliche System an Kraft verliert, denn es wirkt nur in eine Richtung und kann daher von anderen Seiten sehr leicht aus der Balance gebracht werden. 

Prallelgesellschaften verhalten sich parasitär

Menschen, die nach Deutschland migrieren, finden sich in einem beinahe wertefreien Raum wieder. Dadurch fehlen ihnen Werte zur Orientieren, um in der neuen Gesellschaft anzukommen. Von den Menschen wird nichts erwartet, außer Formulare auszufüllen. Da sie nichts vorfinden, als Bürokratie (die ihnen als eine der ersten Nachrichten von ihrem neuen Land eine Steuernummer zukommen lässt), leben sie in Ermangelung einer Alternative weiter nach ihren überkommenen Werten, die sie aus ihrer alten Heimat mitbringen, denn sie bekommen nicht das Gefühl, in Deutschland meine es einer ernst mit ihnen. Das führt zu Parallelgesellschaften. Freiheit die nur als Abwesenheit von Werten definiert ist, verhindert Ankommen. Prallelgesellschaften verhalten sich aber parasitär, weil sie das Gastland ohne Werte nur als Nährboden empfinden, den sie nach ihren eigenen Werten bestellen und abernten dürfen. Es ist eine natürlich Reaktion. Ähnlich wüteten einst europäische Imperialisten in ihren Kolonien, denn sie hielten die dortigen Völker für Gesellschaften ohne akzeptable Werte, denen man die Zivilisation erst beibringen musste. Dagegen überlässt das heutige Deutschland selbst aus freien Stücken seinen neuen Mitbürgern einen weitgehend leeren Raum, um dort Werte nach Gutdünken zu implementieren. Politik und Gesellschaft beschränkt sich darauf, über diese für sie fremden Werte zu klagen, ohne zu begreifen, dass die Migranten lediglich die ihnen aus Ignoranz zufallende Möglichkeit nutzen.

Eine Demokratie, die Extreme nicht aushält, ist keine Demokratie

Sie sind nicht die einzigen. Auch extreme Gruppierungen sehen ihre Chance darin, durch den zunehmenden Werteverlust in der Gesellschaft zu neuer Stärke zu gelangen, in dem sie sich vor allem gegen die Werte der Parallelgesellschaften in Deutschland positionieren. Dazu benötigen sie interessanterweise überhaupt keine eigenen Werte. Sie spielen mit Ängsten und der einzige Wert, den sie anbieten, ist Sicherheit. Der genügt, die verunsicherte Gesellschaft in großen Teilen auf ihre Seite zu ziehen. Hauptursache dafür ist mangelnde Identität der Bevölkerung mit ihrem Land. Die Gesellschaft ist dadurch anfällig für die Versprechungen extremer Gruppierungen. Da niemand weißt, wofür Deutschland steht, liegt es für die Gesellschaft nahe, mehrheitlich nach neuen Angeboten und vor allem Werten zu suchen. Der kollektive Strom beginnt zu mahlen – und die Werte, die dabei herauskommen, bestimmen die Geschicke Deutschlands eine gewisse Zeit lang. Zweitrangig ist es, wie diese Werte angesehen sind. Solange sie angenommen werden, besitzen sie Gültigkeit. Wer mit ihnen nicht einverstanden ist, muss sich dennoch arrangieren – oder Deutschland verlassen. Noch könnte diese Entwicklung natürlich beeinflusst werden, indem die Gesellschaft dazu gebracht wird, andere als die von extremen Gruppierungen gewünschten Werte aus dem kollektiven Strom zu ziehen. Das gelingt aber nur mit aktiver positiver Arbeit und nicht einer jammervollen Opposition, die aus einer noch vorhandenen Machtposition heraus erwägt, vorsorglich extreme Gruppierungen zu verbieten. Eine Demokratie, die Extreme nicht aushält und die Gesellschaft nicht kreativ in einer Balance halten kann, ist keine Demokratie und wird weiter an Werten und damit Zustimmung verlieren.

Dienstag, 27. Dezember 2022

Die göttliche Macht ist die Menschheit selbst

 

Offenbart sich Gott durch einen Sonnenstrahl in einem Wald am Fluss oder bilden wir uns das nur ein
Ein wichtiger Mittler zwischen dem Ich und den Anderen sind die Geschichten, die sich die Menschen seit Urzeiten erzählen. Sie verbinden die gesellschaftlichen Bruchstücke des kollektiven Stroms zu sinnvollen Einheiten, die beispielhaft fiktive Menschen in Situationen beschreiben, die mit dem Gedankengut des kollektiven Stroms experimentieren. Mal verstoßen sie gegen Werte, mal leben sie nach ihnen. Dem Publikum werden alternative Möglichkeiten angeboten, die sich durch die Wahl der Masse verwirklichen oder verschwinden. Dabei haben manche gesellschaftliche Gruppen größeren Einfluss auf die Gestaltung von Werten. Politische und wirtschaftliche Eliten zum Beispiel.

Der Mensch betet den Menschen an

In diesem Zusammenhang fällt Religion eine tragende Rolle bei der Auswahl gesellschaftlicher Werte aus dem kollektiven Strom zu. Ihre Bedeutung erwächst aus der Fähigkeit, das Bewusstsein des kollektiven Stroms zu einer übernatürlichen Erscheinung abseits jeder menschlichen Erfahrung zu verklären, die sich nicht nur dem menschlichen Einfluss entzieht, sondern auch mystische Eigenschaften besitzt.

Doch die beschworene göttliche Macht ist die Menschheit selbst. Sie ist die Instanz, die über jedem einzelnen Menschen steht. Nichts geschieht ohne Wissen und Zustimmung der Menschheit. Das Individuum verwirklicht sich durch seinen Beitrag zum gemeinschaftlichen Bewusstsein.

"Die Hölle, das sind die anderen", hat Sartre geschrieben. Er hätte genauso schreiben können: "Der Himmel, das sind die anderen." Es sind immer die anderen. Alles sind die anderen. Was das Individuum betrifft, kommt von außerhalb seiner selbst. Es kann nur verarbeiten und reagieren. Die Informationen erreichen das Bewusstsein von außerhalb. Selbst der eigene Körper steht in diesem Sinne außerhalb.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Menschen Götter benötigen, die dieses Außen, die das Andere symbolisieren und die Stelle einnehmen, für die es ansonsten keinen Namen gibt. Religion ist die Essenz des Blicks der Anderen. Die Menschen erkennen dadurch ihr Sein im Verhältnis zum Anderen und ihre eingeschränkte Freiheit durch den Anderen. Vielleicht ist es erträglicher, dafür ein Göttliches anzunehmen, als den anderen Menschen in Form seiner Massenerscheinung als Menschheit.

Religion ist also das übergeordnet Menschliche in mystischem Gewandt. Der Mensch betet, ohne es zu wissen, den Menschen an - und zwar in Form des Anderen, der ihn dabei erwischt, wie er durch ein Schlüsselloch späht. Der Mensch ist nicht allein, da ist jemand, der ihm auf die Finger schaut.

Die Werte sind göttlichen Ursprungs. Sie stehen über dem Menschen. Das bedarf keiner weiteren Erklärung. Religion verlangt nur einen Glauben und hat für Ungläubige keinen Platz. Das ist sehr simpel. Religion ist die Vereinfachung der menschlichen Lebensumstände auf ein paar Gebote.

Doch warum wenden sich dann immer mehr Menschen von Religion ab? Sie wenden sich nur von Kirchen ab, suchen aber nach Geborgenheit in einem Glauben, der ihnen Sicherheit im Anderen verspricht. Denn das ist Religion für den Einzelnen: Ein Mittel gegen das Alleinsein durch einen liebenden Anderen.

Sklaverei zieht sich durch die Geschichte der Menschheit

Brauchen wir den Anderen so sehr, dass wir auch bereit sind, ein mystisches Wesen an unserer Seite als Begleiter durch unser Leben zu akzeptieren?

Der Mensch muss arbeiten, um zu leben. Selbst wenn alles für ihn gemacht würde, müsste er doch eigenständig essen, schlafen, ausscheiden und seinen Körper pflegen. Schon aus dieser Notwendigkeit ergibt sich ein Lebensrhythmus, der zumindest vom Wert der Selbsterhaltung geprägt ist. Ein Wert, der uns vom Leben aufgedrängt ist und dem wir nur durch den Tod entfliehen können.

Dieser Grundwert ist der Ausgangspunkt aller menschlichen Existenz und jedes gesellschaftlichen Zusammenlebens. Denn ausgehend von der Notwendigkeit der Selbsterhaltung und damit auch der Fortpflanzung, besteht für Menschen die unüberwindliche Unausweichlichkeit des Zusammenkommens, der Kooperation und damit der Koexistenz zum Erhalt des Einzelnen und der Art.

Alle menschlichen Werte - von der frühesten Urzeit über die Antike und das Mittelalter bis in die moderne, von digitalen Technologien geprägte Zeit - entstanden und entstehen aus den Erfordernissen des arterhaltenden Zusammenschlusses der Spezies Mensch. 

Interessant dabei ist die Kopplung zwischen der Entwicklung der Menschheit und ihren jeweiligen Werten. Gut zu beobachten am Umgang mit Minderheiten und anderen Rassen. So zieht sich zum Beispiel Sklaverei durch die Geschichte der Menschheit. Zu allen Zeiten gab es unterdrücke Völker und Gruppen. Zuerst waren es die Unterlegenen eines Krieges, doch bald schon erkannten vor allem arabische, europäische und später auch amerikanische Mächte den wirtschaftlichen Wert von Sklavenarbeit. Sie erschufen ein System, in dem die Wissenschaft eine Begründung für die Ausbeutung von Menschen nach rassischen Merkmalen lieferte. Aus den durch Messung körperlicher Gegebenheiten entstandenen Rassetheorien leiteten sie Werte ab, die eine Versklavung oder andersartige Erniedrigung gewisser Menschentypen rechtfertigten und sogar als humanen Akt einstuften, weil bestimmte Rassen angeblich der Führung höher entwickelter Menschen bedurften. Der Öffentlichkeit wurden diese Ansichten mit Ausstellungen in sogenannten Menschenzoos nahe gebracht, die Ansichten manipulierten und damit Vorurteile schürten.

Auch die Religionen haben Sklaverei immer zu begründen gewusst. Meist dadurch, dass die Menschen, die zur Ware geworden waren, nicht den rechten Glauben hatten und zu ihrem Besten bekehrt werden mussten. Erst in der Sklaverei und durch den guten Einfluss ihrer Herren könnten sie zu vollwertigen Menschen werden. Zu allen Zeiten war Sklaverei mit religiösen und gesellschaftlichen Werten vereinbar. Wie kommt das?

Der oberste Wert der Menschen ist ihr Wohlergehen

Durch den Handel, den die Menschen mit ihren Werten treiben. Wie schon erwähnt, unterliegen Werte denselben Marktprinzipien wie alle menschlichen Produkte. Natürlich werden sie nicht in Geschäften oder an der Börse gelistet. Auch haben sie keine regulären Preise. Doch folgen Werte ebenso einem Lebenszyklus wie auch andere Waren.

Ja, Werte sind Waren. Selbst wenn nicht direkt mit ihnen gehandelt wird, so doch zumindest in untergeordneten Teilbereichen. Der Wert Klimaschutz ist im Moment vielleicht unverhandelbar, nicht jedoch CO2 Zertifikate sowie die Laufzeit von Kohlekraftwerken. Es gibt Erfordernisse, die mehr gewichtet werden. Die sichere und möglichst günstige Energieversorgung zum Beispiel.

Der oberste Wert der Menschen ist ihr Wohlergehen. Dazu gehören ausreichend materielle Ressourcen sowie die Sicherheit ihrer dauerhaften Verfügbarkeit. Alle anderen Werte gruppieren sich um diesen Zentralwert herum.

Selbstverständlich gilt das für den Durchschnitt der Menschheit, die Masse der Menschen. Extreme finden sich in beiden Richtungen: Personen ohne gesellschaftliche Werte und Personen, die Werte über ihr eigenes Leben stellen. Ein Beispiel für letzteren Typus ist die französische Philosophin Simone Weil. Sie hat für ihr „Fabrik Tagebuch“, in dem sie die Arbeitsbedingungen von Frauen in einem Industriebetrieb detailreich beschreibt, lange selbst unter schwierigsten Umständen in einer Fabrik gearbeitet. Darüber hinaus lebte sie in selbst gewählter Armut, kämpfte im spanischen Bürgerkrieg und emigrierte später als Jüdin nach England, wo sie im Alter von nur 34 Jahren an Tuberkulose starb. Ihr Weg war der politisch engagierte, spirituell geprägte Pfad der Erkenntnis zu einer höheren Einsicht. Werk und Leben sind bei ihr eins. Diese Authentizität verleiht ihr eine hohe Glaubwürdigkeit.

Dagegen gibt es keine Person ohne Werte. Da alle Menschen sich in Gruppen organisieren und diese Gruppen sich zwangsläufig Werte des Zusammenhalts geben. Allerdings mögen einige Gruppen unter Umständen außerhalb aller anderen einzelnen und gesellschaftlichen Gruppen stehen und nur ihre eigenen Werte akzeptieren. Sie gelten den anderen dann als „wertlos“, also ohne Werte, weil die Werte nicht übereinstimmen. Ein Zusammensein ist unmöglich. Übrigens auch mit Menschen, die gesellschaftliche Werte zwar akzeptieren, sie aber übersteigern. Sie sind zumindest anstrengend, oft unverständlich in ihrem rigorosen Verhalten. Denn jemand wie Simon Weil beharrt auf der bedingungslosen Einhaltung von Werten. Doch das führt eine Gesellschaft genauso in die Katastrophe, wie die Ablehnung ihrer Werte.


Sonntag, 18. Dezember 2022

Werte werden auf dem Markt gehandelt

 

Menschen finden sich zusammen, um bildlich mit Werten auf einem Markt zu handeln
Die Werte einer Gesellschaft sind festgelegte Regeln in Form von Gesetzen oder auch ungeschrieben, die jedes Mitglied kennen und befolgten sollte. Sie sind die rechtliche und ethische Grundlage des Zusammenlebens. Doch sie befinden sich in ständigem Wandel. Was heute gilt, kann morgen schon vergessen sein. Zum Beispiel: Die Jüngeren grüßen die Älteren und die Älteren bieten das "Du" an. Wer kennt das noch? Na, jedenfalls hält sich niemand mehr daran.

Wie kommt das? Welche Werte gehen und welche bleiben bestehen? Wer bestimmt darüber und warum?

Anscheinend gibt es eine Macht, die genügend Einfluss hat, mit der Zeit gewisse Anpassungen vorzunehmen. Adam Smith nannte sie die "unsichtbare Hand des Marktes". Für Karl Marx war es die Arbeitskraft. Hannah Arendt wies darauf hin, dass es wohl immer irgendeiner mystischen Erscheinung bedürfe, um alle Entwicklungen der Menschheit zu erklären. Ist das so oder gibt es bisher einfach kein schlüssiges Wort dafür?

Kollektive Strömung

Die "unsichtbare Hand" oder die „mystische Erscheinung“ sind sind nichts anderes als die Menschheit in ihrer Gesamtheit als sehr große Gruppe und möglicherweise auch regional unterteilt. Heute gibt es den Begriff „Schwarmintelligenz", wenn das Verhalten vieler zu einem sichtbaren Ergebnis in einem speziellen Bereich führt. Doch er trifft nicht den Kern der Veränderungen, die ständig in einer Gesellschaft vorgehen. 

Vielmehr ist es das gemeinsame Resultat jeder Arbeit, allen Handelns und jedes Gedankens, das sich in einer Tätigkeit äußert. Mit anderen Worten: Jedes Wirken eines Menschen führt im Zusammenspiel mit dem Wirken jedes anderen Menschen zu einem Impuls innerhalb der Gesellschaft. Die Vielzahl der Impulse steuern und formen nicht nur die Regeln des menschlichen Miteinanders, sondern sind auch Smith's "unsichtbare Hand des Marktes", Marx's "Arbeitskraft" und Arendt's „mystische Erscheinung“. Sie sind eine kollektive Strömung. Ihr verdanken die Menschen jede Entdeckung und Erkenntnis, jeden Fortschritt und Wagemut, leider auch jede Eroberung und jeden Krieg. Die kollektive Strömung - einer Rückkopplung gleich - beeinflusst umgekehrt auch wiederum ihrerseits das menschliche Denken und Handeln.

Doch bezieht sie auch die von der Menschheit erschaffene Dingwelt sowie die ungezähmte Natur mit ein. Alles und Jedes, bis zum Haustier, einem kleinen Insekt und der Blume auf einer Wiese, üben Einfluss auf Menschen und damit auf die kollektive Strömung aus.

Die Menschheit als kollektives Wesen

Sie unterteilt sich in Ästelungen und Verzweigungen. Zahlreiche Pfade enden bald und verlieren ihren Einfluss. Andere verstärken sich im Laufe der Zeit und bestimmen mit die Richtung, in die die Menschheit voranschreitet. Später nimmt ihre Bedeutung ab und neue Vorstellungen treten an ihre Stelle. Ein ständiges Aufflackern, Leuchten und Abdunkeln. Vielleicht lässt es sich vergleichen mit den vielen Lichtpunkten auf der Erde bei Nacht vom Weltraum aus betrachtet. Netzlinien aus Licht, eine fortwährende Veränderung. Mal schneller, mal langsamer, aber immer im Wandel.

Sollte es so einfach sein - die Menschheit steuert sich selbst durch ihr Tun und setzt dabei ihre Werte ganz nebenbei? Sie wären dann sozusagen ein Abfallprodukt. 

Oder funktioniert es genau umgekehrt: Die Werte entstehen im kollektiven Strom und daraus resultieren Arbeit und Handeln, Herstellung und überhaupt das ganze Sein der Menschen. Ist die Menschheit gar ein kollektives Wesen, ohne sich selbst als solches zu empfinden? Gerade die Menschheit, die sich viel darauf zugute hält, aus selbständigen Individuen zu bestehen.

Nun, es ist nicht auszuschließen, dass die Spezies analog zum digitalen System existiert. Statt An oder Aus, Null oder Eins, ordnet sie ihre menschlichen "Bits" und "Bytes" nach der Prämisse "Richtig" oder "Falsch". Wobei beides keine Konstanten, sondern Variablen sind, die durch den kollektiven Strom definiert werden. Er hat also nicht die Aufgabe, Ideen und Vorstellungen zu generieren, sondern Ideen und Vorstellungen, das Arbeiten, Handeln und Herstellen der menschlichen Individuen als "Richtig" oder "Falsch" zu bewerten. Das erklärt, weshalb nichts in der Gesellschaft je endgültig feststeht, sondern einem fortwährenden Wandel unterworfen ist. Jede kleinste Regung eines einzelnen Menschen wird begutachtet und bewertet. Ein Werden und Vergehen, das nur den einen Zweck hat: Die Menschheit sich alle Möglichkeiten aneignen zu lassen, die ihr Heimatplanet und später vielleicht das Universum ihr bieten. Niemand ist bisher in der Lage, dahinter einen Sinn zu erkennen, ohne auf einen mystischen Glauben zurückzugreifen. Es ist keinem Menschen möglich, sinnvoll über die Grenzbeziehung von Möglichkeiten und Sinn zu sprechen. Oder, wie Ludwig Wittgenstein schrieb: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."

Doch über den kollektiven Strom zu sprechen, ist durchaus möglich. weil er vor aller Augen existiert. Er gibt der Menschheit durch Ausschlussverfahren eine Richtung. Das erklärt auch, weshalb sich Gut und Böse nicht eindeutig definieren lassen. Die Begriffe sind nur eine Hilfsbewertung menschlichen Verhaltens, um ein Wertesystem implementieren zu können. Gut ist, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer festgelegten menschlichen Gruppe als gut angesehen wird. Das gleiche gilt für den Begriff Böse. Aus diesem Grund kann das Töten von Menschen einerseits unter Strafe stehen, zum anderen aber hoch angesehen sein und belohnt werden, wenn beispielsweise Staaten Krieg führen.

Gemeinsamkeiten bilden den Wertekanon

Das menschliche Verhalten passiert in einem Koordinatensystem der Gesetze, Regeln und Werte. Hält er sich daran, ist der Mensch geachtet. Verstößt er dagegen, wird er bestraft. Moral ist die Instanz, die über die Einhaltung der Werte wacht. Sie stellt keine eigenen Regeln auf, sondern wendet sie auf Individuen und Gruppen an.

Wie werden Werte in der Gesellschaft ausgehandelt? Wie jedes menschliche Produkt: Durch Nachfrage und Vergleich der Wertigkeit mit anderen Gütern. So war zum Beispiel der Missbrauch von Kindern im kirchlichen Umfeld nur deshalb über Jahrzehnte möglich, weil der Kirche ein hoher Wert zugemessen wurde und sie deshalb nahezu unantastbar war. Das übertrug sich auch auf ihre Mitarbeiter. Erst als Religion in der Gesellschaft eine geringere Rolle zu spielen begann und ihr Stellenwert allgemein abnahm, bröckelte die Unantastbarkeit und die Diskussion über Missbrauchsfälle begann. Jedoch nur zaghaft, was noch immer auf einen relativ hohen Wert von Kirche hinweist.

Es sind die Gemeinsamkeiten der Menschen, die den Wertekanon der Gesellschaft bilden. Weshalb das Konsumieren den höchsten Wert einnimmt. Denn das ist die Tätigkeit, die über Generationen, Geschlechter, Rassen und Nationalitäten hinweg die größte Gemeinsamkeit der menschlichen Spezies darstellt. Shoppen bereitet den meisten Menschen Freude, nur die Vorlieben für verschiedene Produkte unterscheiden sich.

Zurück zu den Werten. Im Grunde werden sie gehandelt, wie Aktien an der Börse. Genauso sind sie Trends unterworfen. Eine deutliche Schwankung ist beispielsweise bei der Bewertung von Homosexualität zu beobachten. Lange strafrechtlich verfolgt, mit vielen Versuchen, Betroffene medizinisch zu "heilen", gilt es heute als geradezu schick, schwul zu sein. Die Werte haben sich diesbezüglich fast in die entgegengesetzte Richtung verschoben. Die Minderheit von Homosexuellen und Transgender ist in der öffentlichen Wahrnehmung eine bedeutende Gruppierung, weil Gleichberechtigung heutzutage einen hohen Wert verkörpert. Deshalb setzen Unternehmen auf diese Zielgruppe und greifen sie in ihrer Werbung auf. Auch in Büchern und Filmen kommt sie verstärkt vor. Sie hat einen Wert, auch weil sie als einkommensstark mit hoher Kaufkraft gilt. Gesellschaftlich ging dieser Akzeptanz ein langer Kampf um Anerkennung voraus.

Der Blick der Anderen

Der Wertewandel ist ein Zusammenspiel gesellschaftlicher Kräfte. Ausgelöst durch Notwendigkeit. Die Emanzipation der Frau wurde von der Tabakindustrie gefördert, weil sie die selbstbewusste Frau als Kundin für sich entdeckt hast, was die Größte des Marktes auf einen Schlag verdoppelte. Sie schuf mit ihren Werbekampagnen neue Werte für Frauen, die sich bald darauf auch in Filmen und Magazinen niederschlugen. Eine frühe Parallele zum heutigen Aufstieg von Homosexuellen und Transgender zu gesellschaftlichen Ikonen.

Doch die Zeit muss reif für einen solchen Wandel sein. Was heißt das? Die kollektive Strömung transportiert bereits länger entsprechende gedankliche Fragmente. Der Blick der Anderen darauf ist der entscheidende Schlüssel für die Entwicklung einfachen Gedankenguts, das wie Treibholz zufällig dahin schwimmt, zu einer relevanten und schließlich gesellschaftsverändernden Idee. Denn bereits Sartre beschreibt eindringlich, dass ein Mensch, der durch ein Schlüsselloch blickt, vollkommen frei und nur er selbst ist. Doch sobald er sich durch den Blick eines anderen beobachtet fühlt, nimmt er sich selbst anders wahr, nämlich im Blick des anderen und beginnt vielleicht seine Schuhe zuzubinden, um diesem anderen nicht als Voyeur zu gelten.

So sondert der Blick der Anderen auch aus dem gedanklichen Treibholz des kollektiven Stroms allein durch seine Aufmerksamkeit einige Bruchstücke aus, die dadurch an Kraft gewinnen und im gesellschaftlichen Umfeld relevant werden. Wobei der Blick der Anderen der Blick jedes einzelnen Menschen ist, der nur im Verhältnis zu einem selbst nicht ein fremder ist. Der Blick eines anderen ist auch immer der eigene, der sich vom Sein des Selbst ab- und dem Außen zuwendet. Deshalb ist jedes Sein sowohl ein Ich als auch ein Anderer.