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Samstag, 6. Januar 2024

Der Nicht-Wiedereintritt in die Geschichte

Ein Bild im Stil des Expressionismus, das Deutschland vor dem Reichstag wortwörtlich im Grabenkampf zeigt.
Es gibt eine Bedingung, um innerhalb menschlicher Gesellschaften Werte zu erschaffen, nach ihnen zu leben, sie dauerhaft zu erhalten und an Veränderungen durch zeitgemäße Entwicklungen anzupassen: Die gemeinsame Geschichte sowie geschichtliches Bewusstsein als bedeutender eigenständiger Wert. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, fehlt der Gesellschaft Identität und sie wird dazu neigen, die Lücke durch besondere Leistungsfähigkeit zu kompensieren. 

Im Chaos der Differenzen

Deutschland ist solch ein Fall. Von der Kleinstaaterei geht es ins Kaiserreich, dann über die europäische Katastrophe des Ersten Weltkriegs in die ungeliebte und von vielen Seiten beschädigte Weimarer Republik, worauf nahtlos der Nationalsozialismus mit all seinen Schrecken folgt, der nur vom Zweiten Weltkrieg beendet werden kann und wiederum nahtlos in die sogenannte Bonner Republik einerseits und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) andererseits mündet, wovon nach der Wende und dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland (BRD) nur noch letztere übrigbleibt. In jeder Ära wird Geschichte benutzt: Um Kolonialismus und Krieg zu rechtfertigen, die Niederlage zu erklären, Heldenmut und Opfer für das sogenannte Vaterland zu verklären, die Größe der Deutschen Nation zu überhöhen, Massen für Ideologien zu begeistern“, millionenfache Morde zu legitimieren, wiederum Krieg zu führen und schließlich die Geschichte selbst für einen Neuanfang zu verdammen. Doch ohne Geschichtsbewusstsein gibt es kein Entkommen aus der Geschichte. Ohne die offene, ehrliche und vollständige Aufarbeitung seiner Geschichte verfügt Deutschland über keine allgemein in der Bevölkerung akzeptierten Werte, die in Krisenzeiten zum Zusammenhalt und Schulterschluss beitragen. Natürlich werden jetzt Fleiß, Disziplin und Pünktlichkeit als Deutsche Tugenden genannt. Aber es sind eben keine Werte. Die Frage ist: Kann die Gesellschaft einander grundsätzlich vertrauen, weil sie auf gemeinsamen Werten aufbaut? „Staatsgebilde sind eine gesellschaftliche Solidarität, gegründet auf dem fundamentalen Misstrauen in die menschliche Substanz“, schreibt Hannah Arendt in ihrem „Denktagebuch“. Und weiter: „Politisch orientieren sich die Menschen nach bestimmten wesentlichen Gemeinsamkeiten in einem absoluten Chaos der Differenzen.“

Die begrüßte Aneignung Deutschlands

Was sind diese wesentlichen Gemeinsamkeiten für die Deutschen? Hervorgehoben werden in diesem Zusammenhang immer wieder Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit sowie kulturelle Vielfalt. Interessanterweise hebt niemand auf historische Ereignisse als prägend für gesellschaftliche Werte ab, wie es zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika und England selbstverständlich ist. Auch ein übergeordneter Wert, wie der sogenannte American Dream, fehlt Deutschland nach der Wiedervereinigung vollständig. Bis dahin galten der Antikommunismus sowie die Überwindung der Teilung beider deutscher Staaten als wichtigste gesellschaftliche Übereinstimmungen. Darüber hinaus gab es nie eine deutsche Identität, die eine Verständigung auf einen konsumorientierten Sozialstaat überschreiten konnte. Deshalb wird in gewissen Abständen eine deutsche Leitkultur gefordert – was immer das sein soll. Doch welch kluge Sätze auch eines Tages auf irgendeinem Papier stehen werden, sie täuschen nicht darüber hinweg, das Deutschland intensive Aufarbeitung seiner Vergangenheit fehlt.

Nicht die Geschichte hat Deutschland als Nation zerstört, sondern die Einnahme einer Opferrolle nach den beiden Weltkriegen. Zunächst verklärte die sogenannte Dolchstoßlegende von 1918 zusammen mit dem Mythos von der unbesiegten deutschen Armee das untergegangene Kaiserreich und die alte Gesellschaftsordnung. Dann behauptete das deutsche Volk vom Wahnsinn des Nationalsozialismus, der nicht nur in einen neuen Krieg, sondern vor allem in den Völkermord des Holocaust mündete, kollektiv nichts gewusst zu haben und nur Befehlsempfänger gewesen zu sein. Mehr noch, habe es selbst sehr viel Leid zu beklagen. Deutschland kam damit durch. Ein paar der Täter wurden symbolisch verurteilt. Die meisten durften im Behördenapparat oder der privaten Wirtschaft weitermachen. Sie wurden zum Aufbau eines neuen Staates sogar an prominenten Stellen gebraucht – manche auch von den ideologisch verfeindeten Siegern Sowjetunion und USA. Beide eigneten sich Teile Deutschlands an. Dort standen sie gegeneinander und taumelten am Abgrund eines Dritten Weltkrieges.

Auf westdeutscher Seite wurde diese Aneignung begrüßt. Sie ersparte die Mühe, nach einer eigenen Identität fragen zu müssen. Sofort übernahm das Volk bereitwillig die bis dato fremden amerikanischen Sitten und Gebräuche. Solange die Schutzmacht nicht allzu viele Fragen stellte und den Wiederaufbau nach Kräften förderte, war die Welt für die Deutschen in Ordnung. Sie lernten zu schweigen und wie Amerikaner zu leben. Nicht nur amerikanische Musik, amerikanische Tänze, amerikanische Filme und amerikanische Zigaretten hielten Einzug, sondern mit all den Annehmlichkeiten auch amerikanische Werte. Sie wurden unterhaltsam von der amerikanischen Kulturindustrie vermittelt und fanden schnell auch Zugang in deutsche Unternehmen, die vor allem dank großer Aufträge aus den Vereinigten Staaten wuchsen. Deutschland entwickelte sich zum Erfüllungsgehilfen westlicher Konsumindustrie sowie zu einem der wichtigsten Austragungsorte des Kalten Krieges. Dafür wurde es gut bezahlt. 

Deutschland ist mehr ein Unternehmen, als ein Staat

Natürlich gab es politische Kämpfe. Zum Beispiel um die Wiederbewaffnung, die Ostpolitik, die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen und die Kernenergie. Die BRD hatte ihre Typen, die sich im Deutschen Bundestag regelmäßig in die Wolle gerieten. Das war unterhaltsam, mehr nicht. Denn die Männer und Frauen rangen nicht um eine Deutsche Nation mit eigenständigen Werten, sondern nur um die Wege, auf denen Deutschland den Verbündeten folgen sollte. Die vorerst letzte Chance für ein Bekenntnis zur Geschichte und deren Einfluss auf das Deutschland nach 1945 verstrich ungenutzt in Folge des abrupten Mauerfalls. Anstatt die Möglichkeit des Zusammenwachsens beider deutscher Staaten für einen historischen Neuanfang zu nutzen und eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten, zwang der westdeutsche Staat die DDR zum Anschluss. Das sah politisch gut aus und beließ alles beim Alten. Doch genau darin besteht bis heute das Problem. Deutschland verpasste erneut den Zeitpunkt für seinen Wiedereintritt in die Geschichte, sondern installierte nur einen vollkommen unbedeutenden „Tag der Deutschen Einheit“. Unbedeutend, weil er nur an ein zufälliges Ereignis erinnert, nicht aber den Beginn einer neuen deutschen Zeitrechnung markiert. Deutschland ist nach wie vor keine souveräne Nation, sondern weiterhin ein Land, das sich andient, mehr ein Unternehmen, das seinen Gewinn maximieren möchte, als ein Staat, der in der Welt nach seinen Werten wirkt.