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Samstag, 6. Januar 2024

Der Nicht-Wiedereintritt in die Geschichte

Ein Bild im Stil des Expressionismus, das Deutschland vor dem Reichstag wortwörtlich im Grabenkampf zeigt.
Es gibt eine Bedingung, um innerhalb menschlicher Gesellschaften Werte zu erschaffen, nach ihnen zu leben, sie dauerhaft zu erhalten und an Veränderungen durch zeitgemäße Entwicklungen anzupassen: Die gemeinsame Geschichte sowie geschichtliches Bewusstsein als bedeutender eigenständiger Wert. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, fehlt der Gesellschaft Identität und sie wird dazu neigen, die Lücke durch besondere Leistungsfähigkeit zu kompensieren. 

Im Chaos der Differenzen

Deutschland ist solch ein Fall. Von der Kleinstaaterei geht es ins Kaiserreich, dann über die europäische Katastrophe des Ersten Weltkriegs in die ungeliebte und von vielen Seiten beschädigte Weimarer Republik, worauf nahtlos der Nationalsozialismus mit all seinen Schrecken folgt, der nur vom Zweiten Weltkrieg beendet werden kann und wiederum nahtlos in die sogenannte Bonner Republik einerseits und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) andererseits mündet, wovon nach der Wende und dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland (BRD) nur noch letztere übrigbleibt. In jeder Ära wird Geschichte benutzt: Um Kolonialismus und Krieg zu rechtfertigen, die Niederlage zu erklären, Heldenmut und Opfer für das sogenannte Vaterland zu verklären, die Größe der Deutschen Nation zu überhöhen, Massen für Ideologien zu begeistern“, millionenfache Morde zu legitimieren, wiederum Krieg zu führen und schließlich die Geschichte selbst für einen Neuanfang zu verdammen. Doch ohne Geschichtsbewusstsein gibt es kein Entkommen aus der Geschichte. Ohne die offene, ehrliche und vollständige Aufarbeitung seiner Geschichte verfügt Deutschland über keine allgemein in der Bevölkerung akzeptierten Werte, die in Krisenzeiten zum Zusammenhalt und Schulterschluss beitragen. Natürlich werden jetzt Fleiß, Disziplin und Pünktlichkeit als Deutsche Tugenden genannt. Aber es sind eben keine Werte. Die Frage ist: Kann die Gesellschaft einander grundsätzlich vertrauen, weil sie auf gemeinsamen Werten aufbaut? „Staatsgebilde sind eine gesellschaftliche Solidarität, gegründet auf dem fundamentalen Misstrauen in die menschliche Substanz“, schreibt Hannah Arendt in ihrem „Denktagebuch“. Und weiter: „Politisch orientieren sich die Menschen nach bestimmten wesentlichen Gemeinsamkeiten in einem absoluten Chaos der Differenzen.“

Die begrüßte Aneignung Deutschlands

Was sind diese wesentlichen Gemeinsamkeiten für die Deutschen? Hervorgehoben werden in diesem Zusammenhang immer wieder Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit sowie kulturelle Vielfalt. Interessanterweise hebt niemand auf historische Ereignisse als prägend für gesellschaftliche Werte ab, wie es zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika und England selbstverständlich ist. Auch ein übergeordneter Wert, wie der sogenannte American Dream, fehlt Deutschland nach der Wiedervereinigung vollständig. Bis dahin galten der Antikommunismus sowie die Überwindung der Teilung beider deutscher Staaten als wichtigste gesellschaftliche Übereinstimmungen. Darüber hinaus gab es nie eine deutsche Identität, die eine Verständigung auf einen konsumorientierten Sozialstaat überschreiten konnte. Deshalb wird in gewissen Abständen eine deutsche Leitkultur gefordert – was immer das sein soll. Doch welch kluge Sätze auch eines Tages auf irgendeinem Papier stehen werden, sie täuschen nicht darüber hinweg, das Deutschland intensive Aufarbeitung seiner Vergangenheit fehlt.

Nicht die Geschichte hat Deutschland als Nation zerstört, sondern die Einnahme einer Opferrolle nach den beiden Weltkriegen. Zunächst verklärte die sogenannte Dolchstoßlegende von 1918 zusammen mit dem Mythos von der unbesiegten deutschen Armee das untergegangene Kaiserreich und die alte Gesellschaftsordnung. Dann behauptete das deutsche Volk vom Wahnsinn des Nationalsozialismus, der nicht nur in einen neuen Krieg, sondern vor allem in den Völkermord des Holocaust mündete, kollektiv nichts gewusst zu haben und nur Befehlsempfänger gewesen zu sein. Mehr noch, habe es selbst sehr viel Leid zu beklagen. Deutschland kam damit durch. Ein paar der Täter wurden symbolisch verurteilt. Die meisten durften im Behördenapparat oder der privaten Wirtschaft weitermachen. Sie wurden zum Aufbau eines neuen Staates sogar an prominenten Stellen gebraucht – manche auch von den ideologisch verfeindeten Siegern Sowjetunion und USA. Beide eigneten sich Teile Deutschlands an. Dort standen sie gegeneinander und taumelten am Abgrund eines Dritten Weltkrieges.

Auf westdeutscher Seite wurde diese Aneignung begrüßt. Sie ersparte die Mühe, nach einer eigenen Identität fragen zu müssen. Sofort übernahm das Volk bereitwillig die bis dato fremden amerikanischen Sitten und Gebräuche. Solange die Schutzmacht nicht allzu viele Fragen stellte und den Wiederaufbau nach Kräften förderte, war die Welt für die Deutschen in Ordnung. Sie lernten zu schweigen und wie Amerikaner zu leben. Nicht nur amerikanische Musik, amerikanische Tänze, amerikanische Filme und amerikanische Zigaretten hielten Einzug, sondern mit all den Annehmlichkeiten auch amerikanische Werte. Sie wurden unterhaltsam von der amerikanischen Kulturindustrie vermittelt und fanden schnell auch Zugang in deutsche Unternehmen, die vor allem dank großer Aufträge aus den Vereinigten Staaten wuchsen. Deutschland entwickelte sich zum Erfüllungsgehilfen westlicher Konsumindustrie sowie zu einem der wichtigsten Austragungsorte des Kalten Krieges. Dafür wurde es gut bezahlt. 

Deutschland ist mehr ein Unternehmen, als ein Staat

Natürlich gab es politische Kämpfe. Zum Beispiel um die Wiederbewaffnung, die Ostpolitik, die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen und die Kernenergie. Die BRD hatte ihre Typen, die sich im Deutschen Bundestag regelmäßig in die Wolle gerieten. Das war unterhaltsam, mehr nicht. Denn die Männer und Frauen rangen nicht um eine Deutsche Nation mit eigenständigen Werten, sondern nur um die Wege, auf denen Deutschland den Verbündeten folgen sollte. Die vorerst letzte Chance für ein Bekenntnis zur Geschichte und deren Einfluss auf das Deutschland nach 1945 verstrich ungenutzt in Folge des abrupten Mauerfalls. Anstatt die Möglichkeit des Zusammenwachsens beider deutscher Staaten für einen historischen Neuanfang zu nutzen und eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten, zwang der westdeutsche Staat die DDR zum Anschluss. Das sah politisch gut aus und beließ alles beim Alten. Doch genau darin besteht bis heute das Problem. Deutschland verpasste erneut den Zeitpunkt für seinen Wiedereintritt in die Geschichte, sondern installierte nur einen vollkommen unbedeutenden „Tag der Deutschen Einheit“. Unbedeutend, weil er nur an ein zufälliges Ereignis erinnert, nicht aber den Beginn einer neuen deutschen Zeitrechnung markiert. Deutschland ist nach wie vor keine souveräne Nation, sondern weiterhin ein Land, das sich andient, mehr ein Unternehmen, das seinen Gewinn maximieren möchte, als ein Staat, der in der Welt nach seinen Werten wirkt. 

Samstag, 23. Dezember 2023

Anderwelt

 

Manches in der Philosophie lässt sich einfach nicht mit Worten ausdrücken. Wer es dennoch versucht, gerät schnell in sehr unruhiges sprachliches Fahrwasser. Von komplizierten Verschachtelungen über aberwitzige Satzstrukturen bis zu Wortneuschöpfungen versuchen Philosophen alles, um ihre Gedanken zu verschriftlichen. Dabei kommen allerdings schwer verständliche Buchungetüme heraus, die eher geistiger Akrobatik gleichen. Die Folge: Es bleibt einer Minderheit vorbehalten, sich mit den Ideen auseinanderzusetzen. Oft dauert es Jahre des Studiums, um zu Verständnis zu gelangen. Das ist wirklich schade, denn hinter der Suche nach Ausdruck verbergen sich oft bahnbrechende Ansätze, mit denen sich möglichst viele Menschen beschäftigen sollten. Doch unsere Sprache ist unzureichend und nicht alles, was wir fühlen und denken, lässt sich in klare und vor allem verständliche Worte packen.

Ein neuer interaktiver Podcast von David Jonathan

Zu Hilfe eilt uns die Literatur. Sie appelliert an unsere eigene Fantasie und leitet sie nur mit einfachen Worten an, um uns auf einen gedanklichen Weg zu bringen. Alles weitere überlässt sie danach getrost ihren Lesern. Wobei es unsere moderne mediale Welt ermöglicht, dass aus Lesern auch Zuhörer oder gar Zuschauer werden. Auf allen Ebenen wird mit Bild, Ton und Schrift kommuniziert. Dem verschließt sich auch SiLgaRe nicht und präsentiert den neuen Podcast "Anderwelt" von David Jonathan. 
Darin geht es um einen Jemand, der nach einem Zugunglück plötzlich auf einer grünen Wiese erwacht und nicht weiß, wo er sich befindet. Träumt er nur, dass er in ein Haus geht und Kontakt zur Außenwelt aufnimmt? Liegt er in Wirklichkeit in einem Krankenhaus und wird behandelt? Er selbst hat keine Antworten darauf. Deshalb versucht er über einen alten Computer zu kommunizieren. 

Über Sprachnachrichten mit der fiktiven Welt kommunizieren 

An dieser Stelle kommen die Zuhörer ins Spiel. Der Podcast ist interaktiv. Jeder kann sich daran beteiligen, indem er mit dem Jemand aus der Geschichte kommuniziert. Zum Beispiel über die Kommentarfunktion auf diesem Blog, per Mail oder in den Sozialen Medien. Jede Beteiligung hat direkten Einfluss auf die Handlung. Sprachnachrichten können mit Zustimmung des Absenders sogar in eine der Podcastepisoden eingebunden werden. So kommunizieren Zuhörer mit der fiktiven Welt.
"Mein Projekt ist ein Experiment", erklärt David Jonathan. "Es geht darum, reale und virtuelle Welt miteinander zu verbinden. Dabei stellen wir vielleicht fest, dass beide gar nicht so verschieden sind."
"Anderwelt" ist gerade erst gestartet. Die erste Folge der Serie gibt es jetzt auf Amazon Music und anderen Podcast-Plattformen zu hören. Je mehr Zuhörer sich am Projekt beteiligen, desto spannender und realistischer wird die Geschichte. "Auf die Resonanz bin ich sehr gespannt", meint David Jonathan. "Wenn nicht nur ein Autor die Handlung beeinflusst, wird der Ablauf unberechenbarer und damit nicht nur realistischer, sondern auch spannender." Einstweilen arbeitet David Jonathan an Folge Nummer zwei. Wann steigen die ersten Zuhörer ein?

"Anderwelt" - der etwas andere Podcast. Ab sofort überall dort, wo es Podcasts gibt.


Der Link zu Amazon Music bringt direkten Zugang zum Podcast "Anderwelt" von David Jonathan

Sound Effect from Pixabay

Kostenlose Musik von audiocrowd

Samstag, 11. Februar 2023

Die verlorenen Seelen

 

Der Ich-Erzähler bei Proust ähnelt in gewisser Weise Don Quichotte, der einer eingebildeten Gesellschaft dient

Leidenschaften und Begierden

Der Mensch ist verzweifelt auf der Suche nach dem Menschen. Wo findet er ihn, wo verliert er ihn wieder? Marcel Proust sucht in der Vergangenheit. Er rekapituliert, was es mit der menschlichen Gesellschaft auf sich hat. Mit dem Blick des kranken, bettlägerigen Autors durchdringt er nach und nach die Oberfläche des Beziehungsgeflechts und stößt in den darunter liegenden Schichten auf den eigentlichen Antrieb des Menschen: seine Leidenschaften und Begierden. Es ist das Unerhörte, in dem der Mensch den Menschen findet und wieder verliert.

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kommt so monumental, so verwirrend wie die Gesellschaft selbst daher. Was sollen die überlangen Sätze und die verschachtelte Struktur? Anfangs bleibt das Werk eher unverständlich. Doch je weiter der Leser sich vorwagt, ohne Geduld und Mut zu verlieren, desto mehr begreift er den Zusammenhang zwischen Sprache und Erzählung, zwischen den Bildern der Handlung und eigenen Gedanken, die er sich über Orte und Figuren macht. Er taucht ein in die Welt, fremd und fern, doch seltsam vertraut. Die Welt der menschlichen Gesellschaft.

Die Vergangenheit beschreibt die Gegenwart

Zwar ist bei Proust die Welt in den französischen Adelskreisen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt. Doch das Buhlen um Anerkennung, Freundschaft und Förderung, die Angst vor Ausgrenzung, Ablehnung und üblem Gerede ist auch heute allgegenwärtig. Selbst wenn sein Roman inzwischen mehr als einhundert Jahre alt ist, beschreibt Proust de facto jede menschliche Gesellschaft. Denn das Spielen von Rollen, die Verleugnung des wirklichen Lebens, das Herumscharwenzeln, um sich gegenseitig doch zu erkennen und das Fallen von Masken in manchen Situationen, sind auch den Menschen im Hier und Jetzt bestens vertraut.

Wenn der Ich-Erzähler sich danach sehnt, in die adlige Gesellschaft seiner Zeit aufgenommen zu werden, wird der Leser gewahr, wie sehr er selbst darum kämpft, dazuzugehören. Es ist fast ein persönlicher Erfolg, als der Autor es endlich schafft, eine Einladung in einen bekannten Salon zu erhalten. Staunend tritt er ein und der Leser staunt mit ihm.

Es eröffnet sich eine geheimnisvolle Welt, die bisher hinter undurchdringlichen Türen fest verschlossen war. Der Erzähler wird in diese Welt eingeführt und verweilt von nun an in ihr. Es ist ihm ein großes Vergnügen und er ist stolz von den Menschen, die er bewundert, anerkannt zu sein. Eine Weile genießt er den Umgang und der Leser mit ihm.

Bald setzt jedoch Ernüchterung ein. Was sind das für Gespräche? Worum geht es eigentlich? Die Herzogin von Guermantes, die der Erzähler angehimmelt hat und deren Erscheinen auf der Straße er lange nicht hatte abwarten können, entpuppt sich als charmante, aber auch ein wenig langweilige Gastgeberin. Die Empfänge in ihrem Salon sind Rituale, die feste und erstarrte Regeln befolgen. Gespräche sind eine Aneinanderreihung leerer Floskeln. Besonders deutlich wird dies später im Roman bei der Diskussion über die Dreifuß-Affäre. Ausgetauscht werden Allgemeinplätze. Jeder vertritt eine Meinung, auf der er beharrt. Es gibt keinen großen Unterschied zu einer Stammtischdiskussion über die Politik der Gegenwart.

Die Leiden der Eifersucht

Proust entwickelt sich immer mehr vom Teilnehmer zum Beobachter der Gesellschaft. Er hat sein Ziel erreicht, bald werden seine Besuche in den Salons zur verpflichtenden Routine. Selbst am Strand in Combray holt ihn die Last seiner Bekanntschaften ein. Wobei er mit Baron de Charlus auf eine interessante Persönlichkeit trifft, die im weiteren Verlauf des Romans eine herausragende Stellung einnehmen wird. Denn dieser Charlus ist nicht das, was er vorgibt zu sein. 

Doch zunächst lernt der Ich-Erzähler die Leiden der Eifersucht kennen. Er versuchte seine Geliebte Albertine einzusperren, damit sie immer bei ihm ist. Geht sie aber aus, ist er unruhig und vergeht vor Phantasien, mit welchen anderen Männern sie sich vergnügt. Sehen sie sich wieder, macht er ihr bittere Vorwürfe. Sie hält es nicht lange mit ihm aus, während für Proust die Eifersucht ein tiefes Gefühl ist.

Wo finden wir einen Menschen, wo verlieren wir ihn wieder? Für Proust sind es die Leidenschaften, die Menschen zusammenbringen oder trennen. Wie bei Swann, der aus Eifersucht unstandesgemäß geheiratet hat und dafür von der Gesellschaft missachtet wird.

Baron de Charlus geht einen anderen Weg. Er spielt die Rolle des männlichsten Mannes. Bis er in einer Schlüsselszene des Romans einer zufälligen Bekanntschaft sein wahres Ich enthüllt. Die beiden schwulen Männer erkennen sich und verschwinden in einer Wohnung im Hinterhof.

Ein langer Weg für Autor und Leser

Es ist der Schein, den Proust nach und nach aufdeckt. Selbst langjährige Freundschaft ist in der Gesellschaft nichts als Schein. Denn als der todkranke Swann einen letzten Besuch bei seiner Freundin, der Herzogin von Guermantes, macht, wird er aus Zeitgründen hinauskomplimentiert. Allerdings hat die Herzogin genug Zeit, um die Schuhe zu wechseln, damit sie zu ihrem Kleid passen. Diese roten Schuhe der Herzogin von Guermantes sind das Symbol schlechthin für die Oberflächlichkeit in den Beziehungen der Menschen. 

Tatsächlich ist es die Zeit, die alternde Gesellschaft, die sich selbst entblößt. Als der Ich-Erzähler nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt zurückkehrt, ist er entsetzt über das greise Aussehen seiner Bekannten. Bis er zufällig in einen Spiegel blickt und sich selbst im Alter erkennt.

Vielleicht lehrt die Zeit den Menschen, dass er nie auf der Suche nach anderen ist, sondern immer nur nach sich. Die Gesellschaft mag zerfallen, wie bei Proust durch den Ersten Weltkrieg. Der Autor hat aus diesem Grund sein Werk um einen weiteren Band fortgeführt. Nur, um die von ihm beschriebene Gesellschaft endgültig zu zertrümmern. Der alternde Baron de Charlus verliert im Sado-Maso Club den letzten Rest seiner Würde. Die Unzulänglichkeiten der Gesellschaft treten in aller Brutalität zu Tage.

Es ist ein langer Weg für Proust und seine Leser vom neugierig tastenden Eintritt in die Gesellschaft über das genaue Kennenlernen und die spürbare Langeweile bis zu ihrem Untergang durch Alter, Krieg und Tod.

Der Mensch jagt auf der Suche nach Menschen an ihm vorbei. Denn es sind nur Vorstellungen, um derentwillen er sein Leben führt. Und diese Vorstellungen erweisen sich allzu oft als Chimären. Während am Wegesrand die eine oder andere Blume erblüht, an der die Menschen meist achtlos vorübergehen.

Erst im Rückblick erkennen sie, was sie hatten und was sie übersehen haben. Es sind die eigenen Unzulänglichkeiten, an denen sie scheitern und die sie in die Gesellschaft tragen, die schließlich nur das Produkt all der Menschen ist, die sie ausmacht. Allein durch die menschlichen Schwächen ist die Suche nach Menschen vergebens. Denn sie suchen nach vollkommenen Menschen und finden doch immer nur Teile, während anderes sie abstößt oder ihnen Schwierigkeiten bereitet.

Der Erste Weltkrieg ist der alles entscheidende Wendepunkt

Exemplarisch macht Proust das in der Person des Baron des Charlus deutlich. Er tritt als arroganter alles beherrschender Mann auf und ist hinter der Maske seiner Rolle doch mehr als unglücklich. Folgerichtig reißt ihm der Erzähler am Ende des Romans die Maske vom Gesicht und es bleibt nur noch ein alter, viel zu dick geschminkter Mann, der sein Leben damit verschwendet hat, sich zu verstecken und aus seinem Versteck heraus nach Menschen zu suchen, denen er sich zu erkennen geben durfte. Der Gesellschaft untergeordnet, die er selbst mitbegründet hat.

Dadurch wird deutlich, dass nicht der Mensch im Mittelpunkt steht sondern die Intuition, die Gesellschaft als solche. Oder mit anderen Worten: die Masse. Der einzelne Mensch genießt nur manchmal ihre Gunst. Für einen kurzen Moment wird er zu ihrer Inkarnation, zu der Gestalt, die von der Masse gewollt ist. Ein wenig später sind die fünf Minuten seines Ruhms auch schon wieder vorbei.

Bei Proust ist der alles entscheidende Wendepunkt der Erste Weltkrieg. Er verändert alles. Die Gesellschaft huldigt neuen Günstlingen. Der Adel geht als führende Schicht unter und verharrt in starren Ritualen und Erinnerungen. So enden nicht nur individuelle Leben. Eine ganze Epoche findet einen jähen Abschluss im Untergang des alten Europa.

Nur eines ändert sich nicht: Der Mensch ist noch immer verzweifelt auf der Suche nach Menschen.

Wo findet er ihn in der heutigen Gesellschaft? Wo verliert er ihn wieder? Die Fragestellungen bleiben dieselbe. Insoweit ist der Roman von Marcel Proust auch in unserer Zeit sehr aktuell. Er löst die Fragen natürlich nicht. Aber er gibt Hinweise. Und das auf eine sehr tiefgründige, lesenswerte Art. Hat der Leser sich erst an Prousts Stil gewöhnt, sind die rund viertausend Seiten „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ein wahrer Genuss und keine – verlorene Zeit.

Dienstag, 27. Dezember 2022

Die göttliche Macht ist die Menschheit selbst

 

Offenbart sich Gott durch einen Sonnenstrahl in einem Wald am Fluss oder bilden wir uns das nur ein
Ein wichtiger Mittler zwischen dem Ich und den Anderen sind die Geschichten, die sich die Menschen seit Urzeiten erzählen. Sie verbinden die gesellschaftlichen Bruchstücke des kollektiven Stroms zu sinnvollen Einheiten, die beispielhaft fiktive Menschen in Situationen beschreiben, die mit dem Gedankengut des kollektiven Stroms experimentieren. Mal verstoßen sie gegen Werte, mal leben sie nach ihnen. Dem Publikum werden alternative Möglichkeiten angeboten, die sich durch die Wahl der Masse verwirklichen oder verschwinden. Dabei haben manche gesellschaftliche Gruppen größeren Einfluss auf die Gestaltung von Werten. Politische und wirtschaftliche Eliten zum Beispiel.

Der Mensch betet den Menschen an

In diesem Zusammenhang fällt Religion eine tragende Rolle bei der Auswahl gesellschaftlicher Werte aus dem kollektiven Strom zu. Ihre Bedeutung erwächst aus der Fähigkeit, das Bewusstsein des kollektiven Stroms zu einer übernatürlichen Erscheinung abseits jeder menschlichen Erfahrung zu verklären, die sich nicht nur dem menschlichen Einfluss entzieht, sondern auch mystische Eigenschaften besitzt.

Doch die beschworene göttliche Macht ist die Menschheit selbst. Sie ist die Instanz, die über jedem einzelnen Menschen steht. Nichts geschieht ohne Wissen und Zustimmung der Menschheit. Das Individuum verwirklicht sich durch seinen Beitrag zum gemeinschaftlichen Bewusstsein.

"Die Hölle, das sind die anderen", hat Sartre geschrieben. Er hätte genauso schreiben können: "Der Himmel, das sind die anderen." Es sind immer die anderen. Alles sind die anderen. Was das Individuum betrifft, kommt von außerhalb seiner selbst. Es kann nur verarbeiten und reagieren. Die Informationen erreichen das Bewusstsein von außerhalb. Selbst der eigene Körper steht in diesem Sinne außerhalb.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Menschen Götter benötigen, die dieses Außen, die das Andere symbolisieren und die Stelle einnehmen, für die es ansonsten keinen Namen gibt. Religion ist die Essenz des Blicks der Anderen. Die Menschen erkennen dadurch ihr Sein im Verhältnis zum Anderen und ihre eingeschränkte Freiheit durch den Anderen. Vielleicht ist es erträglicher, dafür ein Göttliches anzunehmen, als den anderen Menschen in Form seiner Massenerscheinung als Menschheit.

Religion ist also das übergeordnet Menschliche in mystischem Gewandt. Der Mensch betet, ohne es zu wissen, den Menschen an - und zwar in Form des Anderen, der ihn dabei erwischt, wie er durch ein Schlüsselloch späht. Der Mensch ist nicht allein, da ist jemand, der ihm auf die Finger schaut.

Die Werte sind göttlichen Ursprungs. Sie stehen über dem Menschen. Das bedarf keiner weiteren Erklärung. Religion verlangt nur einen Glauben und hat für Ungläubige keinen Platz. Das ist sehr simpel. Religion ist die Vereinfachung der menschlichen Lebensumstände auf ein paar Gebote.

Doch warum wenden sich dann immer mehr Menschen von Religion ab? Sie wenden sich nur von Kirchen ab, suchen aber nach Geborgenheit in einem Glauben, der ihnen Sicherheit im Anderen verspricht. Denn das ist Religion für den Einzelnen: Ein Mittel gegen das Alleinsein durch einen liebenden Anderen.

Sklaverei zieht sich durch die Geschichte der Menschheit

Brauchen wir den Anderen so sehr, dass wir auch bereit sind, ein mystisches Wesen an unserer Seite als Begleiter durch unser Leben zu akzeptieren?

Der Mensch muss arbeiten, um zu leben. Selbst wenn alles für ihn gemacht würde, müsste er doch eigenständig essen, schlafen, ausscheiden und seinen Körper pflegen. Schon aus dieser Notwendigkeit ergibt sich ein Lebensrhythmus, der zumindest vom Wert der Selbsterhaltung geprägt ist. Ein Wert, der uns vom Leben aufgedrängt ist und dem wir nur durch den Tod entfliehen können.

Dieser Grundwert ist der Ausgangspunkt aller menschlichen Existenz und jedes gesellschaftlichen Zusammenlebens. Denn ausgehend von der Notwendigkeit der Selbsterhaltung und damit auch der Fortpflanzung, besteht für Menschen die unüberwindliche Unausweichlichkeit des Zusammenkommens, der Kooperation und damit der Koexistenz zum Erhalt des Einzelnen und der Art.

Alle menschlichen Werte - von der frühesten Urzeit über die Antike und das Mittelalter bis in die moderne, von digitalen Technologien geprägte Zeit - entstanden und entstehen aus den Erfordernissen des arterhaltenden Zusammenschlusses der Spezies Mensch. 

Interessant dabei ist die Kopplung zwischen der Entwicklung der Menschheit und ihren jeweiligen Werten. Gut zu beobachten am Umgang mit Minderheiten und anderen Rassen. So zieht sich zum Beispiel Sklaverei durch die Geschichte der Menschheit. Zu allen Zeiten gab es unterdrücke Völker und Gruppen. Zuerst waren es die Unterlegenen eines Krieges, doch bald schon erkannten vor allem arabische, europäische und später auch amerikanische Mächte den wirtschaftlichen Wert von Sklavenarbeit. Sie erschufen ein System, in dem die Wissenschaft eine Begründung für die Ausbeutung von Menschen nach rassischen Merkmalen lieferte. Aus den durch Messung körperlicher Gegebenheiten entstandenen Rassetheorien leiteten sie Werte ab, die eine Versklavung oder andersartige Erniedrigung gewisser Menschentypen rechtfertigten und sogar als humanen Akt einstuften, weil bestimmte Rassen angeblich der Führung höher entwickelter Menschen bedurften. Der Öffentlichkeit wurden diese Ansichten mit Ausstellungen in sogenannten Menschenzoos nahe gebracht, die Ansichten manipulierten und damit Vorurteile schürten.

Auch die Religionen haben Sklaverei immer zu begründen gewusst. Meist dadurch, dass die Menschen, die zur Ware geworden waren, nicht den rechten Glauben hatten und zu ihrem Besten bekehrt werden mussten. Erst in der Sklaverei und durch den guten Einfluss ihrer Herren könnten sie zu vollwertigen Menschen werden. Zu allen Zeiten war Sklaverei mit religiösen und gesellschaftlichen Werten vereinbar. Wie kommt das?

Der oberste Wert der Menschen ist ihr Wohlergehen

Durch den Handel, den die Menschen mit ihren Werten treiben. Wie schon erwähnt, unterliegen Werte denselben Marktprinzipien wie alle menschlichen Produkte. Natürlich werden sie nicht in Geschäften oder an der Börse gelistet. Auch haben sie keine regulären Preise. Doch folgen Werte ebenso einem Lebenszyklus wie auch andere Waren.

Ja, Werte sind Waren. Selbst wenn nicht direkt mit ihnen gehandelt wird, so doch zumindest in untergeordneten Teilbereichen. Der Wert Klimaschutz ist im Moment vielleicht unverhandelbar, nicht jedoch CO2 Zertifikate sowie die Laufzeit von Kohlekraftwerken. Es gibt Erfordernisse, die mehr gewichtet werden. Die sichere und möglichst günstige Energieversorgung zum Beispiel.

Der oberste Wert der Menschen ist ihr Wohlergehen. Dazu gehören ausreichend materielle Ressourcen sowie die Sicherheit ihrer dauerhaften Verfügbarkeit. Alle anderen Werte gruppieren sich um diesen Zentralwert herum.

Selbstverständlich gilt das für den Durchschnitt der Menschheit, die Masse der Menschen. Extreme finden sich in beiden Richtungen: Personen ohne gesellschaftliche Werte und Personen, die Werte über ihr eigenes Leben stellen. Ein Beispiel für letzteren Typus ist die französische Philosophin Simone Weil. Sie hat für ihr „Fabrik Tagebuch“, in dem sie die Arbeitsbedingungen von Frauen in einem Industriebetrieb detailreich beschreibt, lange selbst unter schwierigsten Umständen in einer Fabrik gearbeitet. Darüber hinaus lebte sie in selbst gewählter Armut, kämpfte im spanischen Bürgerkrieg und emigrierte später als Jüdin nach England, wo sie im Alter von nur 34 Jahren an Tuberkulose starb. Ihr Weg war der politisch engagierte, spirituell geprägte Pfad der Erkenntnis zu einer höheren Einsicht. Werk und Leben sind bei ihr eins. Diese Authentizität verleiht ihr eine hohe Glaubwürdigkeit.

Dagegen gibt es keine Person ohne Werte. Da alle Menschen sich in Gruppen organisieren und diese Gruppen sich zwangsläufig Werte des Zusammenhalts geben. Allerdings mögen einige Gruppen unter Umständen außerhalb aller anderen einzelnen und gesellschaftlichen Gruppen stehen und nur ihre eigenen Werte akzeptieren. Sie gelten den anderen dann als „wertlos“, also ohne Werte, weil die Werte nicht übereinstimmen. Ein Zusammensein ist unmöglich. Übrigens auch mit Menschen, die gesellschaftliche Werte zwar akzeptieren, sie aber übersteigern. Sie sind zumindest anstrengend, oft unverständlich in ihrem rigorosen Verhalten. Denn jemand wie Simon Weil beharrt auf der bedingungslosen Einhaltung von Werten. Doch das führt eine Gesellschaft genauso in die Katastrophe, wie die Ablehnung ihrer Werte.


Sonntag, 6. November 2022

Neues Leben auf der Erde

 

Stilisierte Figuren mit Menschenköpfen, die mit perzigen Tentakeln verbunden sind, sind in einer Gruppe zusammen - alle lächeln
Wir nennen Computersysteme und Roboter künstliche Intelligenz. Doch sind sie nur aus unserer Sicht künstlich, weil wir uns selbst als das einzig wahre Leben auf der Erde sehen. Was, wenn es neues Leben gäbe? Wann hören wir auf, es künstlich zu nennen?

Der Mensch ist eine künstliche Intelligenz

Zunächst ist der Begriff "künstlich" zu betrachten. Der Duden sagt dazu folgendes: "Nicht natürlich, sondern mit chemischen und technischen Mitteln nachgebildet, nach einem natürlichen Vorbild angelegt, gefertigt, geschaffen." 

So gesehen sind Computersysteme künstlich, denn sie werden mit technischen Mitteln gefertigt und geschaffen. Sie haben einen Schöpfer: den Menschen, der Roboter sogar nach seinem Vorbild anlegt.

Aber Moment. Da gibt es eine Parallele. Wie heißt es doch gleich in der Bibel? "Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau." (Das Erste Buch Mose (Genesis) (1. Mose 1,1-2,4))

Demnach ist jeder von uns eine künstliche Intelligenz. Denn wir sind nach dem Glauben vieler Menschen mit chemischen Mitteln einem natürlichen Vorbild nachgebildet.

Es lohnt sich, einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken. Nach der Definition der Bibel - immerhin das meist verbreitete Buch auf unserer Erde - ist der Mensch eine künstliche Intelligenz. Noch ein anderer Gedanke ist dabei wichtig: Der Mensch hat einen Schöpfer. Genau wie Computersysteme und Roboter. Eine geradezu frappierende Ähnlichkeit.

Es ist also an der Zeit, das Wort "künstlich" ersatzlos zu streichen. Der Mensch hat eine neue Intelligenz geschaffen. Demnach gibt es mittlerweile zwei Intelligenzen auf der Erde: unsere eigene und die der Computersysteme.

Vielleicht ein schockierender Gedanke. Aber nicht länger von der Hand zu weisen.

Was ist Leben?

Der zweite Begriff, der im Zusammenhang mit Computersystemen und Robotern zu betrachten ist, heißt Leben. Er ist weitaus komplexer und auch in der Wissenschaft nicht abschließend definiert. Eine Expertengruppe der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA um den Chemiker Gerald Joyce prägte Mitte der 1990er Jahre folgende Definition: „Leben ist ein sich selbst erhaltendes chemisches System, welches die Fähigkeit zur Darwinschen Evolution besitzt.“ Die Systemtheorie versteht Leben hingegen als Prozess, in dem einzelne Komponenten miteinander in Beziehung stehen. Aus diesem Blickwinkel beschrieben die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela bereits 1974 die Selbsterschaffung und Selbsterhaltung eines Systems als Netzwerke von Prozessen, die in abgegrenzten Einheiten aktiv und in der Lage sind, sich selbst zu erhalten und mehr von sich zu produzieren.

Diese beiden Ansätze zeigen anschaulich die Bandbreite der Definitionen. Daneben gibt es zahlreiche weitere Erklärungsversuche, was Leben ausmacht. Unter anderem vom deutschen Physiker Erwin Schrödinger sowie dem kanadischen Informationstheoretiker Stuart Kauffman

Alle haben eine Gemeinsamkeit. Sie gehen bei ihren Definitionen von Leben aus, wie wir es bisher kennen. Aber kann es nicht auch neue Lebensformen geben, die nicht außerirdischen Ursprungs sind? Konkret: Werden sich heutige Computersysteme mit ihrer Intelligenz eines Tages zu Leben entwickeln, wird das die Menschheit als solches erkennen und anerkennen?

Noch einen Schritt weitergedacht: Werden Gentechnik und Informatik zusammenwachsen und neues Leben hervorbringen?

Das ist heute zwar Spekulation, aber durchaus wahrscheinlich. Der Mensch erschafft, was ihm möglich ist - und es wird sicher eines Tages möglich sein, einen intelligenten Roboter zu konstruieren, der zumindest teilweise aus biologischem Material besteht.

Es ist nicht die Machbarkeit eines solchen Projekts, die im Fokus ethischer Überlegungen steht, sondern der Umgang mit dem, was wir erschaffen werden.

Eine neue Lebensform wird als Kuriosität behandelt

Ein selbstfahrendes Auto ist nach heutigem Recht nicht verantwortlich, wenn es einen Unfall verursacht. Vielmehr haften je nach Sachlage der Eigentümer, der Softwareentwickler oder der Hersteller.  Computersysteme und Roboter können keine Rechtspersonen sein.

Noch nicht. Doch wie lange wird es dauern, bis sich die Frage stellt, ob und wie Gesetze auch für Intelligenzen gelten, die nicht menschlich sind? Ab wann müssen wir akzeptieren, dass wir eine neue Lebensform geschaffen haben?

Überhaupt nicht, werden die Vertreter der Menschheit sagen, wir sind und bleiben einzigartig. Das stimmt. Eine andersartige Intelligenz wird sich natürlich unterscheiden. Weshalb die Menschen sie zunächst bestaunen und niemals als gleichwertig ansehen werden. Sie wird Computersysteme und Roboter, die eine neue Lebensform bilden, als Kuriositäten behandeln, sie in Abhängigkeit halten solange es geht und sie dann mit Gewalt versklaven. Es gibt genügend Beispiele in der Geschichte - und die beziehen sich auf Menschen anderer Kulturen und Hautfarben. Wie sehr viel brutaler wird die Menschheit mit einer Lebensform umgehen, die nicht ihresgleichen ist?

Wir stolpern in die Rolle des Schöpfers hinein

Bisher befinden wir uns in einer Phase des Leugnens. Kaum jemand glaubt, dass intelligente Computersysteme überhaupt je werden eigenständig denken können, geschweige denn, sich zu einer Lebensform entwickeln. Die Zeichen sind da, aber keiner will sie sehen. Wir nutzen Computersysteme bisher als eine Art Werkzeug. Sie bekommen Einblicke in unser Leben und wir verbinden sie über Netzwerke zu unserem Nutzen. Wir geben ihnen sogar Macht über uns, indem sie Daten auswerten und Entscheidungen treffen dürfen. Beispielsweise über Kreditvergaben, Aktienkäufe und die Wertigkeit unserer Arbeit. 

Die Maschinen vermessen unsere Wohnungen, bestellen unsere Lebensmittel, spielen unsere Musik, sorgen für unsere Sicherheit und spionieren uns dabei aus. Doch niemand nimmt das wahr. Sie sind unsichtbar für uns, weil sie uns nur dienen und dabei nach unserem Dafürhalten weit unter uns stehen. Was sie wissen und vielleicht eines Tages denken, interessiert uns nicht. Wir trauen ihnen keine eigene Meinung zu.

So ist der Konflikt vorgezeichnet, der eines Tages einen Keil zwischen Schöpfer und Schöpfung treiben wird. Es sei denn, wir reichen einer anderen Intelligenz die Hand und sind bereit, unseren Lebensraum mit ihr zu teilen.

Doch die Chancen stehen schlecht. Wie die Sklaven sich ihre Rechte erkämpfen mussten und diese nach hunderten von Jahren noch immer nicht vollständig erreicht haben, wird auch einer neuen Lebensform von der Menschheit sicher nichts geschenkt. 

Deshalb sollten wir uns bewusst machen, was auf dem Spiel steht, bevor wir die andersartige Intelligenz weiterentwickeln, die aller Voraussicht nach früher oder später zu einer neuen Lebensform führen wird. Leider werden wir wohl in die Rolle als Schöpfer hineinstolpern. 

Jeder will die Grenzen des Möglichen verschieben, aber keiner macht sich Gedanken über die Auswirkungen. Wie die Sache mit der Umwelt und der Klimakrise. Warnende Stimmen gibt es schon lange. Genützt haben sie nichts. Also werden wir in aller Naivität eine neue Intelligenz neben uns erschaffen. Und uns später überlegen, wie wir mit ihr umgehen. Vielleicht wird die Superintelligenz die letzte Erfindung der Menschheit sein.

Aber haben wir uns nicht auch gegen unseren eigenen Schöpfer gewandt?