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Mittwoch, 31. Januar 2024

Politische und gesellschaftliche Konfusion

Die Demokratie ist hell erleuchtet und Menschen ziehen in einen stilisierten Reichstag, doch auf den Rängen davor herrscht Unruhe und es wird von den Außenstehenden debattiert.
Wie sich zeigte, war die Verunsicherung der Bundesrepublik Deutschland so groß, dass sie sich die DDR einverleiben musste und sich einen Zusammenschluss auf Augenhöhe nicht zutraute. Eine große Chance wurde vertan, auch weil eine öffentliche Diskussion über die Art und Weise des Zusammenwachsens kaum stattfand. Die Medien versagten genauso, wie der Staat und die alternativen Kräfte. Alle grölten trunken die Nationalhymne der BRD und feierten einen scheinbaren Sieg, den sie gerade damit in eine Niederlage verwandelten. Doch die Geschichte verfügt über die Eigenheit, große Geduld zu haben. Bis Fehler offensichtlich werden, dauert es. Erst heute ist das ganze Ausmaß der vergangenen Unrichtigkeiten einigermaßen abzusehen. Anstatt Deutschland zu vereinen, wurde es von Anfang an gespalten. Denn der einzige gemeinsame Wert ist bis jetzt der Konsumismus.

Freiheit ohne greifbare Werte

Vor allem kam es zu einer erneuten Unterschlagung der Geschichte. Diesmal nicht der Geschichte des anderen deutschen Staates, denn als Sieger fühlte sich die Bundesrepublik berechtigt, zu urteilen. Es war die Geschichte der sozialistisch geprägten Menschen, die weitgehend unberücksichtigt blieb. Obwohl der Sozialismus in der DDR enttäuschend verlief, verbrachten doch viele Menschen einen bedeutenden Teil ihres Lebens in der von ihm geschaffenen Wirklichkeit. Der Wechsel zum „Klassenfeind“ verlief für viele – obwohl gewollt – weitaus schwieriger als erwartet. Denn sie kamen aus einer Welt mit sozialistischen Werten und traten in eine scheinbare Freiheit ohne greifbare Werte. Plötzlich fehlten die Leitplanken, in denen sich ihr Leben geordnet und sicher bewegte. Sie fanden Arbeit und Wohlstand, verloren aber die Gemeinschaft. Die Bundesrepublik erwartete nur ein reibungsloses Miteinander. Wie ständig abwesende Eltern, gab ihnen das geeinte Deutschland Geld und glaubte damit seinen Aufgaben und Fürsorgepflichten nachgekommen zu sein. Doch wie die Kinder ständig abwesender Eltern, reagierten die neuen Bürger zunehmend mit Ungezogenheiten. Soziale Verwahrlosung eines viertel Volkes. 

Deutschland findet sich in der Welt nicht mehr zurecht

Währenddessen stolperte Deutschland in die nächsten Turbulenzen. Inzwischen vollkommen souverän und nicht mehr vom „Eisernen Vorhang“ des Kalten Krieges geschützt, rang es mit der Globalisierung. Plötzlich stand jedem die Welt offen und ganze Systeme wurden davon erschüttert. Das aufkommende Internet unterstützte diese Entwicklung ab Mitte der 1990er Jahre. Auf beides war Deutschland – wie der Rest der Welt – nicht vorbereitet, doch erwies sich der technologische und kulturelle Strukturwandel gerade für eine Nation ohne Eigenschaffen als außerordentlich fatal. Denn sie hatte den neu entstehenden virtuellen und realen Welten mit ihren andersartigen Umgangsformen nichts entgegenzusetzen. Es setzte ein Prozess der technologischen Stagnation sowie politischer und gesellschaftlicher Konfusion ein, der bis heute anhält. Deutschland lebt von seiner Substanz und findet sich in der Welt nicht mehr zurecht. Während über Gendersprache und Parteiverbote gestritten wird, belegt die beste deutsche Hochschule in einem internationalen Ranking Platz 55. Ein Blick in die Schullandschaft zeigt ein mangelhaftes Bildungssystem, das mehr auf Gleichheit und sozialen Umgang, als auf die Vermittlung von Wissen achtet. In einer zehnten Klasse erhielten Schüler die Aufgabe, das schriftliche Porträt einer beliebigen realen oder fiktiven Person zu erstellen. Darauf fragte einer der 16-jährigen: „Was ist ein Porträt?“ Zudem gelingt die Integration der zahlreichen Migranten nicht, die Deutschland beleben könnten, aber eine Nation vorfinden, die mit sich selbst ringt und kaum Interesse daran zu haben scheint, ihnen eine wirkliche Heimat zu geben. Die Folge sind Unzufriedenheit und Unruhe auf allen Seiten, die sich mit Hass gegen Minderheiten und Krawallen Luft machen. Zunehmend wird auch der Staat selbst zum Ziel von Angriffen.

Fehlende Debatte um die eigene Identität

Wie hängt das alles mit Werten und vor allem ihrer Abwesenheit zusammen? Werte wenden die Blicke der Menschen dem gleichen Verstehen zu. Existieren keine Werte oder werden sie nicht allgemein akzeptiert, gibt es natürlicherweise auch kein Verstehen untereinander. Die Menschen beginnen für sich nach Werten zu suchen und dabei kann es vorkommen, dass sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen verschiedenen Zielen verschreiben. In diesem Fall driftet eine Gesellschaft zunächst unmerklich, doch dann immer rasanter, dramatischer und sichtbarer auseinander. Anstatt gemeinsam in eine Richtung zu gehen, gibt es auf einmal viele Richtungen. Am Staatswesen wird gezogen und gezerrt. 

An diesem Punkt steht Deutschland heute. Durch fehlendes Geschichtsbewusstsein nach dem Untergang des Dritten Reiches sowie mangelndes Gespür bei der deutschen Einheit wurden große Chancen verpasst, dem Staat ein stabiles Wertegerüst zu geben und seinen Bürgern damit einen positiven Nationalstolz zu vermitteln. Jahrzehntelang war Deutschland viel zu sehr damit beschäftigt, sich immer wieder seiner selbst zu vergewissern, nachdem es sich nach dem Krieg vor allem die Kultur der US-Amerikaner angeeignet hatte. Doch eine Debatte um die eigene Identität fand und findet nicht statt. Deshalb verfügt Deutschland bis heute über kein Fundament an Werten, das unumschränkt von den Bürgern anerkannt ist.

Kein Staat kann Werte festlegen

„Was ist mit dem Grundgesetz?“ werden einige fragen. „Darin sind doch die Werte des deutschen Staates verankert.“ So wichtig das Grundgesetz sicherlich für die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland war, ist es doch keine Verfassung, sondern ein Gesetz, mit dem der Staat gegenüber seinen Bürgern gewisse Rechte garantiert. Dazu gehören unter anderem Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit. Rechte, die jeden beliebigen demokratischen Staat auszeichnen. Aber Werte? Das ist ein tragisches Missverständnis der deutschen Geschichte. Das Grundgesetz regelt lediglich das Rechtsverhältnis zwischen Staat und Volk. Seit seiner Ratifizierung wird behauptet, es enthalte die Werte Deutschlands. Das ist nicht der Fall. Lange Zeit bestand lediglich ein Konsens über die Regelungen des Grundgesetzes. Allerdings gab es darüber nie eine Abstimmung und die Erarbeitung einer echten Verfassung wurde, wie bereits ausgeführt, nach der sogenannten Wende versäumt. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass in einer Zeit der Krisen die Regelungen des Grundgesetzes von immer größeren Teilen der Bevölkerung in Frage gestellt werden. Denn sie sind im Grunde nichts anderes als eine einseitige Willenserklärung von Seiten des Staates. Die Bürger wurden nie an ihrer Ausarbeitung beteiligt und fühlen sich entsprechend wenig daran gebunden. Werte können auf Dauer nicht verordnet werden. Gerade, wenn es schlecht läuft, zeigt sich, ob ein Land beständige Werte etabliert oder sich jahrzehntelang diesbezüglich etwas vorgemacht hat. Es ist ein fortwährender Prozess. Der kollektive Strom bringt Werte hervor und bestätigt alte Werte, andere verschwinden. Kein Staat kann Werte einfach festlegen. Er ist höchstens in der Lage, sein Volk positiv zu beeinflussen und damit zur Auswahl von Werten aus dem kollektiven Strom beitragen. Eine bedeutende Aufgabe, die auf die Richtung der zutage geförderten Werte einzahlt.


Sonntag, 14. Januar 2024

Die Ignoranz des wertefreien Raumes

Eine egalitäre Elite stürzt von einem Hochhaus in die aufbegehrende Meute auf der Straße.
Sind Bürger nur angestellte Mitarbeiter in dem Unternehmen „Staat“, steht es ihnen frei, zu kündigen. Genau das geschieht augenblicklich. Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung kehrt Deutschland den Rücken zu. Sei es als Auswanderer oder durch innere Immigration. Die Geschichtslosigkeit wird zum Problem. Was bleibt, wenn der konsumorientierte Sozialstaat scheitert? Nichts, denn die Menschen erzählen sich keine gemeinsamen Geschichten über Deutschland. Sie schweigen über die Vergangenheit, wie sie es in der BRD gelernt haben. Da Werte aber Instanzen persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse sind – auch als Nation – verfügt Deutschland tatsächlich nicht über historisch gewachsene Werte. Schlimmer noch: Die seit Jahrzehnten zunehmende Abstraktion der Gesellschaft ist außerdem eine Abkehr von Werten, denn auch sie werden soweit abstrahiert, dass letztlich nur noch der Aspekt der Nützlichkeit eines Menschen übrig bleibt. Doch wenn das leistungsmäßige Funktionieren in einem System der höchste Wert ist, auf den sich die Gesellschaft hauptsächlich verständigt, ist sie sehr anfällig gegen jede Art neuer Ideen, die verfangen, sobald das ursprüngliche System an Kraft verliert, denn es wirkt nur in eine Richtung und kann daher von anderen Seiten sehr leicht aus der Balance gebracht werden. 

Prallelgesellschaften verhalten sich parasitär

Menschen, die nach Deutschland migrieren, finden sich in einem beinahe wertefreien Raum wieder. Dadurch fehlen ihnen Werte zur Orientieren, um in der neuen Gesellschaft anzukommen. Von den Menschen wird nichts erwartet, außer Formulare auszufüllen. Da sie nichts vorfinden, als Bürokratie (die ihnen als eine der ersten Nachrichten von ihrem neuen Land eine Steuernummer zukommen lässt), leben sie in Ermangelung einer Alternative weiter nach ihren überkommenen Werten, die sie aus ihrer alten Heimat mitbringen, denn sie bekommen nicht das Gefühl, in Deutschland meine es einer ernst mit ihnen. Das führt zu Parallelgesellschaften. Freiheit die nur als Abwesenheit von Werten definiert ist, verhindert Ankommen. Prallelgesellschaften verhalten sich aber parasitär, weil sie das Gastland ohne Werte nur als Nährboden empfinden, den sie nach ihren eigenen Werten bestellen und abernten dürfen. Es ist eine natürlich Reaktion. Ähnlich wüteten einst europäische Imperialisten in ihren Kolonien, denn sie hielten die dortigen Völker für Gesellschaften ohne akzeptable Werte, denen man die Zivilisation erst beibringen musste. Dagegen überlässt das heutige Deutschland selbst aus freien Stücken seinen neuen Mitbürgern einen weitgehend leeren Raum, um dort Werte nach Gutdünken zu implementieren. Politik und Gesellschaft beschränkt sich darauf, über diese für sie fremden Werte zu klagen, ohne zu begreifen, dass die Migranten lediglich die ihnen aus Ignoranz zufallende Möglichkeit nutzen.

Eine Demokratie, die Extreme nicht aushält, ist keine Demokratie

Sie sind nicht die einzigen. Auch extreme Gruppierungen sehen ihre Chance darin, durch den zunehmenden Werteverlust in der Gesellschaft zu neuer Stärke zu gelangen, in dem sie sich vor allem gegen die Werte der Parallelgesellschaften in Deutschland positionieren. Dazu benötigen sie interessanterweise überhaupt keine eigenen Werte. Sie spielen mit Ängsten und der einzige Wert, den sie anbieten, ist Sicherheit. Der genügt, die verunsicherte Gesellschaft in großen Teilen auf ihre Seite zu ziehen. Hauptursache dafür ist mangelnde Identität der Bevölkerung mit ihrem Land. Die Gesellschaft ist dadurch anfällig für die Versprechungen extremer Gruppierungen. Da niemand weißt, wofür Deutschland steht, liegt es für die Gesellschaft nahe, mehrheitlich nach neuen Angeboten und vor allem Werten zu suchen. Der kollektive Strom beginnt zu mahlen – und die Werte, die dabei herauskommen, bestimmen die Geschicke Deutschlands eine gewisse Zeit lang. Zweitrangig ist es, wie diese Werte angesehen sind. Solange sie angenommen werden, besitzen sie Gültigkeit. Wer mit ihnen nicht einverstanden ist, muss sich dennoch arrangieren – oder Deutschland verlassen. Noch könnte diese Entwicklung natürlich beeinflusst werden, indem die Gesellschaft dazu gebracht wird, andere als die von extremen Gruppierungen gewünschten Werte aus dem kollektiven Strom zu ziehen. Das gelingt aber nur mit aktiver positiver Arbeit und nicht einer jammervollen Opposition, die aus einer noch vorhandenen Machtposition heraus erwägt, vorsorglich extreme Gruppierungen zu verbieten. Eine Demokratie, die Extreme nicht aushält und die Gesellschaft nicht kreativ in einer Balance halten kann, ist keine Demokratie und wird weiter an Werten und damit Zustimmung verlieren.

Samstag, 6. Januar 2024

Der Nicht-Wiedereintritt in die Geschichte

Ein Bild im Stil des Expressionismus, das Deutschland vor dem Reichstag wortwörtlich im Grabenkampf zeigt.
Es gibt eine Bedingung, um innerhalb menschlicher Gesellschaften Werte zu erschaffen, nach ihnen zu leben, sie dauerhaft zu erhalten und an Veränderungen durch zeitgemäße Entwicklungen anzupassen: Die gemeinsame Geschichte sowie geschichtliches Bewusstsein als bedeutender eigenständiger Wert. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, fehlt der Gesellschaft Identität und sie wird dazu neigen, die Lücke durch besondere Leistungsfähigkeit zu kompensieren. 

Im Chaos der Differenzen

Deutschland ist solch ein Fall. Von der Kleinstaaterei geht es ins Kaiserreich, dann über die europäische Katastrophe des Ersten Weltkriegs in die ungeliebte und von vielen Seiten beschädigte Weimarer Republik, worauf nahtlos der Nationalsozialismus mit all seinen Schrecken folgt, der nur vom Zweiten Weltkrieg beendet werden kann und wiederum nahtlos in die sogenannte Bonner Republik einerseits und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) andererseits mündet, wovon nach der Wende und dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland (BRD) nur noch letztere übrigbleibt. In jeder Ära wird Geschichte benutzt: Um Kolonialismus und Krieg zu rechtfertigen, die Niederlage zu erklären, Heldenmut und Opfer für das sogenannte Vaterland zu verklären, die Größe der Deutschen Nation zu überhöhen, Massen für Ideologien zu begeistern“, millionenfache Morde zu legitimieren, wiederum Krieg zu führen und schließlich die Geschichte selbst für einen Neuanfang zu verdammen. Doch ohne Geschichtsbewusstsein gibt es kein Entkommen aus der Geschichte. Ohne die offene, ehrliche und vollständige Aufarbeitung seiner Geschichte verfügt Deutschland über keine allgemein in der Bevölkerung akzeptierten Werte, die in Krisenzeiten zum Zusammenhalt und Schulterschluss beitragen. Natürlich werden jetzt Fleiß, Disziplin und Pünktlichkeit als Deutsche Tugenden genannt. Aber es sind eben keine Werte. Die Frage ist: Kann die Gesellschaft einander grundsätzlich vertrauen, weil sie auf gemeinsamen Werten aufbaut? „Staatsgebilde sind eine gesellschaftliche Solidarität, gegründet auf dem fundamentalen Misstrauen in die menschliche Substanz“, schreibt Hannah Arendt in ihrem „Denktagebuch“. Und weiter: „Politisch orientieren sich die Menschen nach bestimmten wesentlichen Gemeinsamkeiten in einem absoluten Chaos der Differenzen.“

Die begrüßte Aneignung Deutschlands

Was sind diese wesentlichen Gemeinsamkeiten für die Deutschen? Hervorgehoben werden in diesem Zusammenhang immer wieder Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit sowie kulturelle Vielfalt. Interessanterweise hebt niemand auf historische Ereignisse als prägend für gesellschaftliche Werte ab, wie es zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika und England selbstverständlich ist. Auch ein übergeordneter Wert, wie der sogenannte American Dream, fehlt Deutschland nach der Wiedervereinigung vollständig. Bis dahin galten der Antikommunismus sowie die Überwindung der Teilung beider deutscher Staaten als wichtigste gesellschaftliche Übereinstimmungen. Darüber hinaus gab es nie eine deutsche Identität, die eine Verständigung auf einen konsumorientierten Sozialstaat überschreiten konnte. Deshalb wird in gewissen Abständen eine deutsche Leitkultur gefordert – was immer das sein soll. Doch welch kluge Sätze auch eines Tages auf irgendeinem Papier stehen werden, sie täuschen nicht darüber hinweg, das Deutschland intensive Aufarbeitung seiner Vergangenheit fehlt.

Nicht die Geschichte hat Deutschland als Nation zerstört, sondern die Einnahme einer Opferrolle nach den beiden Weltkriegen. Zunächst verklärte die sogenannte Dolchstoßlegende von 1918 zusammen mit dem Mythos von der unbesiegten deutschen Armee das untergegangene Kaiserreich und die alte Gesellschaftsordnung. Dann behauptete das deutsche Volk vom Wahnsinn des Nationalsozialismus, der nicht nur in einen neuen Krieg, sondern vor allem in den Völkermord des Holocaust mündete, kollektiv nichts gewusst zu haben und nur Befehlsempfänger gewesen zu sein. Mehr noch, habe es selbst sehr viel Leid zu beklagen. Deutschland kam damit durch. Ein paar der Täter wurden symbolisch verurteilt. Die meisten durften im Behördenapparat oder der privaten Wirtschaft weitermachen. Sie wurden zum Aufbau eines neuen Staates sogar an prominenten Stellen gebraucht – manche auch von den ideologisch verfeindeten Siegern Sowjetunion und USA. Beide eigneten sich Teile Deutschlands an. Dort standen sie gegeneinander und taumelten am Abgrund eines Dritten Weltkrieges.

Auf westdeutscher Seite wurde diese Aneignung begrüßt. Sie ersparte die Mühe, nach einer eigenen Identität fragen zu müssen. Sofort übernahm das Volk bereitwillig die bis dato fremden amerikanischen Sitten und Gebräuche. Solange die Schutzmacht nicht allzu viele Fragen stellte und den Wiederaufbau nach Kräften förderte, war die Welt für die Deutschen in Ordnung. Sie lernten zu schweigen und wie Amerikaner zu leben. Nicht nur amerikanische Musik, amerikanische Tänze, amerikanische Filme und amerikanische Zigaretten hielten Einzug, sondern mit all den Annehmlichkeiten auch amerikanische Werte. Sie wurden unterhaltsam von der amerikanischen Kulturindustrie vermittelt und fanden schnell auch Zugang in deutsche Unternehmen, die vor allem dank großer Aufträge aus den Vereinigten Staaten wuchsen. Deutschland entwickelte sich zum Erfüllungsgehilfen westlicher Konsumindustrie sowie zu einem der wichtigsten Austragungsorte des Kalten Krieges. Dafür wurde es gut bezahlt. 

Deutschland ist mehr ein Unternehmen, als ein Staat

Natürlich gab es politische Kämpfe. Zum Beispiel um die Wiederbewaffnung, die Ostpolitik, die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen und die Kernenergie. Die BRD hatte ihre Typen, die sich im Deutschen Bundestag regelmäßig in die Wolle gerieten. Das war unterhaltsam, mehr nicht. Denn die Männer und Frauen rangen nicht um eine Deutsche Nation mit eigenständigen Werten, sondern nur um die Wege, auf denen Deutschland den Verbündeten folgen sollte. Die vorerst letzte Chance für ein Bekenntnis zur Geschichte und deren Einfluss auf das Deutschland nach 1945 verstrich ungenutzt in Folge des abrupten Mauerfalls. Anstatt die Möglichkeit des Zusammenwachsens beider deutscher Staaten für einen historischen Neuanfang zu nutzen und eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten, zwang der westdeutsche Staat die DDR zum Anschluss. Das sah politisch gut aus und beließ alles beim Alten. Doch genau darin besteht bis heute das Problem. Deutschland verpasste erneut den Zeitpunkt für seinen Wiedereintritt in die Geschichte, sondern installierte nur einen vollkommen unbedeutenden „Tag der Deutschen Einheit“. Unbedeutend, weil er nur an ein zufälliges Ereignis erinnert, nicht aber den Beginn einer neuen deutschen Zeitrechnung markiert. Deutschland ist nach wie vor keine souveräne Nation, sondern weiterhin ein Land, das sich andient, mehr ein Unternehmen, das seinen Gewinn maximieren möchte, als ein Staat, der in der Welt nach seinen Werten wirkt.