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Samstag, 30. März 2024

Materialisierung des Geistes

Die Mittel zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse haben die Anderen, zu denen ein Mensch sich in seiner Bedürftigkeit begeben muss.
Um Werte dauerhaft sichtbar und verständlich gesellschaftlich zu verankern, repräsentieren Symbole sie allgemeingültig. Die Frage, die sich aus diesem Gedanken ergibt, lautet: Sind alle Dinge, die Menschen in irgendeiner Form umgeben, entsprechende Symbole? Ist die Ding-Welt also im weitesten Sinn der materielle Ausdruck nicht nur des menschlichen Denkens, sondern auch seines Wertekanons? Dafür spricht der hohe Stellenwert, der dem Handeln als Schnittstelle zwischen dem Inneren des Menschen und dem Außen sowie der Sphäre der Anderen, zukommt. Es ist die Materialisierung des Geistes. Denken wird durch Handeln offensichtlich und zeigt sein ansonsten verborgenes Wesen in dem, was der Mensch herstellt. Bestimmte Güter wie beispielsweise Häuser, Autos, Kleidung und teure Schreibgeräte werden umgangssprachlich regelrecht als Statussymbole bezeichnet. Nicht nur zugewiesene Funktion wohnt ihnen also inne, sondern darüber hinaus eine Mitteilung über den gesellschaftlichen Rang eines bestimmten Menschen, der durch seine Handlungen diese Güter nicht gerade erschaffen, aber doch übernommen hat. Mehr sogar: An der Ansammlung und Zuordnung weiterer kleinerer und größerer Güter lassen sich Denkweise und Handlungsmuster eines Menschen ablesen. Wie richtet er seine Wohnung ein? Welche Erinnerungsstücke bewahrt er auf? Wie sehen die Bilder an den Wänden aus? Womit würzt er seine Speisen? Was befindet sich in seinem Kühlschrank? Tausende Dinge berichten vom Leben, Denken, Handeln und Fühlen eines Menschen. Gemeinsam spiegeln sie seine Werte wider. Doch nicht nur dass – sie beeinflussen sie auch. Denn mit den Dingen, die seinem Denken entspringen, muss er sich beschäftigen, um sie zu pflegen, zu erhalten und später vielleicht zu verdammen. Sie begleiten ihn ein Stück weit auf seinem Weg, sind ihm Ansporn, Trost und Last. Er verwendet Zeit auf sie und lässt sich von ihnen formen.

Schätze sollen den Menschen in die Zukunft tragen

Die Dinge, mit denen sich der Mensch umgibt, stehen ihm vielfach näher als die Anderen. Bei ihnen fühlt er sich wohl. Mit Dingen belohnt er sich. Sie machen zwar Arbeit, aber von ihnen geht keine direkte Gefahr aus. Konsumieren ist auch Handeln – beides geht ineinander über, zum Beispiel beim Aufbau eines Gartenhauses oder einer Modelleisenbahnanlage. Indem er sein Umfeld mittels Konsums und Handeln formt, gibt der Mensch seinen Träumen eine Gestalt. Das Wolkenkuckucksheim wird in gewissem Sinn real – und sei es nur als modellierte Wirklichkeit. Die Anderen sind ausgeschlossen. Zutritt bekommen nur handverlesene Vertraute. Auf diese Weise erschafft der Mensch etwas, das er Heim nennt, in dem er schalten und walten kann, wie es ihm beliebt. Alle Dinge erhalten über ihre reine Funktion hinaus eine persönliche Bedeutung. Sie werden aufgeladen mit Erinnerungen und Emotionen. Sich von ihnen zu trennen, fällt schwer. Es sind die Dinge, die den Menschen überleben und in ihrer Gesamtheit seine Hinterlassenschaft an die Welt bilden. Sein Anker in der Unendlichkeit. Zu Lebzeiten hortet er Schätze, die seinen Namen in der Zukunft erhalten sollen. Das ist seine Verbindung mit der Welt der Anderen. Nachkommen sichern zwar sein genetisches Überleben – aber nur die Dinge sind mit seinem Handeln und Wirken verbunden.

Einsam denkend, hemmungslos handelnd

Schon Hegel wusste, dass der Wille seinen Zweck durch das Bedürfnis erhält, dessen Befriedigung der Mittel bedarf, die direkt hinein in die Welt führen, da sie in äußeren Dingen bestehen, die Eigentum oder Produkt anderer sind. Der Einzelne betritt die Welt der Allgemeinheit nur deshalb, weil er in seiner einsamen Bedürftigkeit nach den Mitteln zu ihrer Befriedigung sucht. Aus diesem Grund entstand der Handel. Dinge wurden herangeschafft, um die Bedürfnisse Dritter zu erfüllen. Dabei erkannten die Menschen bald: Je mehr Dinge sie anbieten, desto schneller wachsen die Bedürfnisse. Nachfrage entsteht vor allem durch das Wissen um Eigentum und Produkte anderer. Indem sie ihm einfachen und sicheren Zugang zu ihren Errungenschaften gewährt, nimmt die plurale Welt Einfluss auf den Willen des Einzelnen.  Werte entstehen zur Organisation und zum Schutz dieses komplexen Vorgangs genauso, wie zur Absicherung individueller Interessen gegenüber der Allgemeinheit. Sie dienen gleichermaßen als Vermittler und Bollwerk zwischen Geist und Materie, dem einsam Denkenden und dem hemmungslos Handelnden. Der Mensch ist immer beides und braucht deshalb Werte auch und vielleicht sogar insbesondere zur Disziplinierung seiner eigenen widerstreitenden Gefühle. Ohne Werte würde er seine Bedürfnisse vermutlich noch stärker auf Kosten der Allgemeinheit befriedigen, als es schon jetzt der Fall ist.

Menschliche Phantasie dichtet Dingen Werte an

Können Dinge Träger von Werten sein? Auf jeden Fall ist ihnen ein individueller materieller Wert zu eigen. Je nach Güte, Menge, Material und Eigenschaften wird er festgelegt und variiert im Lauf der Zeit. Es ist allerdings kein unabhängiger, neutraler, dem Ding innewohnender Wert, sondern ein von Menschen ermittelter und vergebener Preis, der sich vor allem danach bemisst, wie sehr ihresgleichen das Ding besitzen wollen. Ebenso verhält es sich mit immateriellen Werten, die einem Ding anhaften können. Menschen verleihen ihm wunderbare Eigenschaften, über die es selbst in keiner Weise verfügt und die es auch nicht für sich in Anspruch nimmt. Beispielsweise wahrhaftig zu sein, Gut von Böse unterscheiden zu können oder mystische Kräfte zu verleihen. Aber ein Stein ist weder mutig noch ehrlich, nicht kreativ und auch nicht fürsorglich. Er ist ein Stein, der sich möglicherweise zu einem speziellen Zweck benutzen lässt, der aber, nur weil ein Mensch einen anderen mit ihm erschlägt, keine negativen Eigenschaften hat und auch keinen Wert an sich, weil er Teil eines Hauses wird. Menschen geben ihm seinen Zweck und formen ihn zu ihrem Gebrauch. Sie dichten ihm vielleicht Zauberkräfte an und führen geheime Rituale mit ihm aus. Doch der Stein bleibt dabei dieser eine Stein, ganz gleich viele Vorstellung menschliche Phantasie mit ihm verbindet. Dinge können also keine Träger von Werten sein. Sie wissen weder, dass es Werte gibt, noch was Werte sind. Nur der menschliche Geist stellt mitunter eine Verbindung zwischen ihnen und seinen eigenen Ansichten her, um sie in sein Reich einzubeziehen. Dabei entwickelt er Werte, die Bezug zu Dingen haben, zum Beispiel ist „stahlhart“ solch ein Wert oder auch „flink wie ein Wiesel“. Die Dinge stehen dabei aber nur für die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften und haben ansonsten keinen Bezug zu dem mit ihnen verbundenen Wert.

Dinge werden zu Tatsachen

Ludwig Wittgenstein schreibt: „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“ Jedoch werden im Zusammenleben Dinge gerade durch ihren symbolischen Gehalt zu Tatsachen. So symbolisiert ein Haus durchaus Reichtum, Stärke und Macht seiner Besitzer – und allein dadurch die Tatsache einer gewissen gesellschaftlichen Stellung. Menschen machen auch Leben zum symbolischen Gebrauchsgegenstand, wie beispielsweise Blumen oder Haustiere, die unter anderem dazu benutzt werden, um Gefühle auszudrücken oder Einsamkeit zu zerstreuen. Dinge drücken also Tatsachen aus und werden zu Tatsachen in ihren symbolhaften Aussagen, ihrem Ausdruck über ihren reinen Gebrauchswert hinaus, der immer eine gesellschaftliche Wertung innerhalb einer Zeit darstellt. 

Freitag, 16. Juni 2023

Werte und Macht

Wie diese zwei Fische, schwimmen Masse und Macht nebeneinander her
Das vertrackte an die Freiheit ist das Empfinden der Menschen ihr gegenüber. Wer sich seiner Freiheit beraubt sieht, reagiert meist sehr massiv auf diesen Umstand. So ziehen sich zahllose Sklavenaufstände durch die Geschichte, bei denen Menschen ihr Leben eingesetzt haben, um sich und andere zu befreien. Doch ist die Freiheit errungen, wissen sie oft nichts damit anzufangen. Ihnen genügt der Umstand, dass sie nicht mehr zur Arbeit gezwungen werden, sondern freiwillig arbeiten. Das System, für das sie arbeiten und das aus ihrer gering entlohnten Arbeit noch immer gehörigen Profit schlägt, hinterfragen sie nicht. Es ist das bescheidene Glück von selbstverdienter Wohnung, Kleidung und Nahrung, das Menschen das Gefühl von Freiheit gibt. Die Erfüllung der notwendigen Lebensgrundlagen und ein klein wenig Wohlstand darüber hinaus macht sie zufrieden.

Der menschliche Geist muss Dinge erschaffen

Der Konsumismus nutzt das aus. Er produziert unendliche Warenwelten, die den Menschen vorgaukeln, sich in einem riesigen Kosmos voller Möglichkeiten zu bewegen. Weshalb spricht dieses Konstrukt die Menschen so stark an?

Der menschliche Geist kann sich nur in Taten offenbaren. Er muss, um sein Denken zu zeigen, Dinge erschaffen. In diesen Dingen drückt er sich aus. Umgekehrt offenbaren diese Dinge aber auch das Wesen der Menschen. Existiert der Konsumismus also, weil die Menschen ihn ihrem Sein entsprechend errichten, um all die Dinge zu präsentieren, die ihr Geist ersinnt oder formt er den Geist der Menschen nach seinen Vorgaben? Es gibt eine dritte Vermutung: Der Konsumismus dient dazu, die Freiheit der Menschen zu lenken und zu kontrollieren. Wie eine unsichtbare Mauer umspannt er jede Gesellschaft und bringt die Menschen dazu, nach seinen Regeln zu leben.

Werte werden gemacht

Und Werte? Sie flankieren und rechtfertigen jeden Weg, den Menschen einschlagen. Als Afrikaner millionenfach versklavt wurden, beteiligte sich sogar die katholische Kirche daran. Mit der Begründung, arme sündige Seelen zum Christentum und damit zum ewigen Leben zu bekehren. Aus Sicht der Kirche ein durchaus positiver Wert. An anderer Stelle wurden Rassetheorien ersonnen. Unhaltbare Aussagen über Menschen anderer Kulturen wurden pseudowissenschaftlich untermauert und rechtfertigten die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft sowie ihre Zuschaustellung in sogenannten Menschenzoos zum Vergnügen europäischer Besucher.

Werte werden gemacht. Sie sind die Leitlinien für die Masse der Gesellschaft. Ohne sie würde Zusammenleben nicht funktionieren. Beispielsweise das Verbot von Diebstahl. Könnte sich jeder bedienen, wie er wollte, würde der Handel zusammenbrechen. Deshalb wird ein entsprechendes Gesetz erlassen, seine Einhaltung überwacht und durchgesetzt. Wer dagegen verstößt, ist zu bestrafen. Eltern bringen ihren Kindern bei, nicht zu klauen. Ehrlichkeit gilt als hoher Wert. Viele Menschen gehen in einen Laden zurück, wenn sie aus Versehen ein Produkt nicht bezahlt oder zu viel Geld herausbekommen haben, um die Abrechnung zu korrigieren.

Ehrlichkeit ist ein Wert für den Alltagsgebrauch

Königin Elisabeth I. befahl ihrem Kapitän und Freibeuter Francis Drake dagegen, spanische Schiffe anzugreifen und zu kapern. Mit anderen Worten: Er sollte in ihrem Auftrag rauben und morden. Was er sehr erfolgreich tat und die Schatztruhen seiner Souveränin damit füllte. Als Lohn wurde Drake, der auch selbst ein Vermögen anhäufen konnte, in den Adelsstand erhoben. 

Die Kongokonferenz vom 15. November 1894 bis zum 26. Februar 1885 in Berlin teilte den afrikanischen Kontinent unter den damals führenden europäischen Mächten faktisch auf, indem Handelswege definiert und Kolonialrecht geschaffen wurde. Wohl gemerkt, von Menschen bereits besiedelte Regionen. Was war das anderes als Diebstahl? Diebstahl, der den afrikanischen Kontinent durch die damaligen willkürlichen Grenzziehungen bis heute beeinflusst.

Die amerikanischen Siedler raubten den Ureinwohnern ihr Land. Ölkonzerne übervorteilten Förderländer wie Persien. Die Treuhandgesellschaft organisierte den Ausverkauf der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR). China übernimmt im Zuge seines Projekt „Neue Seidenstraße“ Häfen von Ländern, die ihre immensen Kredite nicht zurückzahlen können. Internetkonzerne speichern massenhaft Daten von Nutzern und treiben damit ihre Wachstum voran.

Macht modifiziert die Masse

Der Wert „Ehrlichkeit“ ist eine Regel für den Alltagsgebrauch. Ohne sie könnte sich kein Handel etablieren. Doch innerhalb und außerhalb eines geordneten Staatswesens mit funktionierender Wirtschaft gibt es durchaus Spielraum für kreative Anwendungen von Werten, die dazu gemacht wurden, die Masse zu kontrollieren.

Ein weiterer Faktor beeinflusst also Werte: Macht. Ist es die Aufgabe der Masse, aus dem kollektiven Strom Werte zu etablieren, kontrolliert die Macht mit ihrer Hilfe die Masse und modifiziert sie entsprechend ihrer Interessen.

Samstag, 10. Juni 2023

Freiheit, nach der Menschen streben

Vielleicht besteht Freiheit in der vollkommenen Anonymität einer Hochhaussiedlung
Was also ist diese Freiheit? Ein Meme im Geist eines jeden Menschen. Sie ist nichts und alles. Ein Gedanke, der sich festsetzt und fortan in das Leben integriert werden will. Er zwingt seinen Wirt, tätig zu werden. Für den einen besteht Freiheit in einer Weltreise, ein anderer möchte einen großen Garten bewirtschaften, der dritte tagelang im Bett liegenbleiben, wieder andere sich irgendwo engagieren oder jedes Wochenende mit Freunden feiern gehen. Die Möglichkeiten, Freiheit zu empfinden, sind nahezu grenzenlos. Sie sind für jeden Menschen verschieden, auch wenn es zahlreiche Schnittmengen gibt. Kennzeichen aller Freiheiten innerhalb einer Gesellschaft ist ihre weitgehende Komptabilität mit den Werten und Regeln dieser Gesellschaft. Freiheiten, die einer Gesellschaft zuwider laufen, können entweder gar nicht oder nur heimlich ausgelebt werden. Eine offene Inanspruchnahme dieser Freiheiten führt zu Konflikten, in denen beide Seiten versuchen, ihre kontroversen Werte durchzusetzen. Meist obsiegt die Gesellschaft, doch manchmal setzt ein Wertewandel ein, der neue Freiheiten gewährt oder stillschweigend geduldete Freiheiten entzieht.

Individuelle Gefühle

Festzuhalten bleibt, dass die meisten Freiheiten individuelle Gefühle sind. Mancher fühlt sich beim Motorradfahren frei, andere beim Rauchen. Und es gibt Menschen, die auf der Suche nach Freiheit um die Welt reisen und sie nie finden.

Deshalb ist die Frage wichtig: Was nimmt den Menschen ihre Freiheit? Alles, was ihre Aufmerksamkeit fordert. Jedes Ding, jedes Lebewesen. Wer einen Schlüssel verlegt, muss ihn früher oder später suchen und dafür Zeit aufbringen, in der er nicht frei ist, anderes zu machen. Entscheidet sich jemand für Kinder, werden sie ihn den Rest seines Lebens beschäftigen. 

Liegt nicht gerade in der Entscheidung für etwas eine große Freiheit? Ja, die Freiheit liegt in der Entscheidung. Doch was daraus folgt, ist Unfreiheit. Jede Entscheidung engt das Leben ein wenig mehr ein. Wer sich zum Beispiel für eine Ausbildung oder ein Studium entscheidet, stellt die Weichen für den weiteren Lebensweg. Auch äußere Umstände wie große Kälte oder Hitze, Hunger oder Durst lassen die persönliche Freiheit gegen Null gehen. Die Arbeit für die notwendigen Lebensgrundlagen überwiegt. 

Freizeit ersetzt Freiheit

Vielleicht ist die einzig verlässlichen Aussage, die sich allgemein über Freiheit treffen lässt: Die potentielle individuelle Freiheit nimmt proportional zur Abnahme der Arbeit für die notwendigen Lebensgrundlagen zu. Potentiell ist die Freiheit, weil sie sich nicht unbedingt in vollem Umfang verwirklicht. Nicht jeder schöpft seine Freiheit vollumfänglich aus und nicht alle empfinden ihre Situation als eine von Freiheit geprägte. Möglicherweise bleibt in einer Gesellschaft nur als Freiheit übrig, was landläufig als Freizeit bezeichnet wird. Zeit, die für die sogenannten angenehmen Seiten des Lebens reserviert ist, dafür aber mit organisierten Vergnügungen, Familienbesuchen, Besorgungen, Ausflügen, Feiern und ähnlichem verplant wird. Wirklich freie Zeit ist selten geworden. Jeder beschäftigt sich mit den Dingen und Menschen, die ihn unmittelbar umgeben.

Enthaltsame Menschen vernichten den Konsumismus

Der größte Freund der Freiheit ist deshalb die Einfachheit. Wer wenig besitzt, muss kaum Lebenszeit darauf verwenden, Dinge zu verwalten und zu pflegen. Er könnte sich frei fühlen. Doch in der Gesellschaft wird er sich eher für gescheitert und ausgeschlossen halten. Woher kommt diese Diskrepanz?

Die Einfachheit ist zugleich der größte Feind des Konsumismus. Wenn die Masse der Menschen enthaltsam leben würde, könnte der Konsumismus nicht überleben. Er verlöre seine Berechtigung. Deshalb bedient er sich eines Tricks: Er hackt sich in die Gedanken der Menschen, sozusagen ihr Betriebssystem und manipuliert das Freiheits-Meme von innen heraus.

Rauchen wurde zum Inbegiff der emanzipierten Frau

Den Menschen wird suggeriert, die größte jemals zu erreichende Freiheit bestehe im Konsumieren. Dazu gibt es ein berühmtes Beispiel: Die Tabakindustrie erkannte in den 1920er Jahren, dass sie ihren Umsatz mit einem Schlag verdoppeln könnte, wenn auch Frauen rauchen würden. Nur galt Rauchen damals als unweiblich und unschicklich für Damen. Deshalb lancierten die Unternehmen eine PR-Kampagne. Die zielte darauf ab, Rauchen als Ausdruck von Emanzipation zu verkaufen. Sie versprach Frauen also Freiheit durch den Konsum von Zigaretten. Sehr erfolgreich, wie rückblickend zu erkennen ist. Aktuell rauchen durchschnittlich mehr Frauen als Männer. 

Die Menschen fallen auf die Versprechungen des Konsumismus herein, weil sie seit Anbeginn ihres Daseins konsumieren müssen. Nur treten heute die notwendigen Lebensgrundlagen zugunsten eines wahren Kaufrausches in den Hintergrund. Die Menschen konsumieren, um die Gefühle von Freiheit und Befriedigung zu erleben, die ihnen versprochen werden. Da diese Gefühle aber nur kurzzeitig wirken, müssen sie ständig erneuert werden. So feiert der Konsumismus seit Jahrzehnten einen globalen Triumphzug, indem er sich als die Freiheit ausgibt, nach der Menschen streben.

Dienstag, 31. Januar 2023

Die Masse kreiert Werte aus dem kollektiven Strom

 

Einer Discokugel nicht unähnlich, fließt der kollektive Strom durch eine Gesellschaft und transportiert seine Werte
Werte bilden das Gerüst eine Gesellschaft. Aber eines, dass oft erweitert und umgebaut wird. Dadurch ist es nur bedingt verlässlich. Deshalb prallen verschiedene Generationen aufeinander. Sie leben nach unterschiedlichen Werten. Sicher gibt es Überschneidungen, aber ebenso gewaltige Unterschiede. Die sind auf die Trends zurückzuführen, kreiert von der Masse aus dem kollektiven Strom.

Die Kulturindustrie ist ein wichtiger Partner bei der Vermittlung von Werten

Auch Massen sind zu differenzieren. Sie setzen sich fortlaufend neu zusammen. Dabei gibt es zwei Hauptgruppe von Massen: welche, die sich bewusst zusammen finden und Massen, die sich zufällig ordnen. Oft erfüllen Massen auch beide Voraussetzungen. So sind die Mitglieder einer Partei eine organische Masse, auch wenn sie sich nicht immer einig sind. Doch sie agieren nach einheitlich Regeln und Werten. Dagegen sind die Besucher eines Konzerts zwar eine Masse, die sich zu einem bestimmten Zweck zusammengefunden hat, aber sie haben außer dem Musik Geschmack nichts gemeint. Nur im Konzert selbst agieren die Besucher als Masse, die schon in der Pause zerfällt.

Das Wesen der Masse ist ihre Unbeständigkeit. Das liegt daran, weil die Masse selbst keine Werte vertritt. Sie ist Empfänger und Übermittler von Werten, die ihren Angehörigen vertraut sind. Zum einen schöpft sie aus dem kollektiven Strom, darüber hinaus nimmt sie Werte einzelner Menschen auf und verbreitet sie innerhalb der Gruppe. Dabei ist wiederum die Kulturindustrie ein wichtiger Partner bei der Vermittlung von Werten. Sie ermöglicht es, dass kleine Gruppen und sogar einzelne Werte setzen können, solange sie sich bei ihr Gehör verschaffen. Doch auch diese Werte fallen natürlich nicht vom Himmel, sondern sind Fundstücke aus dem kollektiven Strom.

Erinnerung ist eine wichtige Eigenschaft des kollektiven Stroms. Er bewahrt, was war, über einen sehr langen Zeitraum. Seine Speicher sind Aufzeichnungen, fossile Ablagerungen, klimatische Rückstände, mündliche und kulturelle Überlieferungen, Bilder, archäologische Funde, Kunst und Experimente. Das Zusammentragen der menschlichen Herkunft schärft den Blick auf Werte und dokumentiert deren Entwicklung. Besonders in der Bestrafung bei Überschreitung von Werten blickt der Mensch auf sich selbst. Denn häufig sind es nicht die Werte, die sich verändern, sondern der Umgang mit Wertverlust. Diebstahl, Raub und Todschlag wurden schon immer bestraft. Doch heute werden Motivation und Verfassung des Täters berücksichtigt. Es gibt Hoffnung für ihn. Auch hier zeigt sich der gesellschaftliche Blick auf Minderheiten, der Gründe für Nachsicht und Förderung sucht. Früher wurden Randgruppen auf die ein oder andere Weise aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Im Moment geht es um Schutz und Integration.

Heute ist Gewaltfreiheit ein hoher Wert

Dieser Wertewandel war ein langer Prozess, der viele Opfer gekostet hat. Auf das Extrem des Völkermords folgt ein Schutzrecht für alle Menschen. Gerade kommen so wenig Menschen die noch nie in der menschlichen Geschichte gewaltsam ums Leben. Bedeutet das, Werte wandeln sich von einem Ansatz, den Menschen zu zähmen und zu züchtigen, ihn regelrecht zu bekämpfen, um seine Seele zu retten, zu einer lebensbejahenden Freiheitlichkeit, die den Menschen per se als wertvolles Wesen betrachtet?

Der Mensch ist Nutznießer einer Entwicklung, die erst fast unmerklich, dann drastisch sein Leben verändert hat und weiter verändert. Das betrifft vor allem die Notwendigkeit des Lebens: die Arbeit für den Lebensunterhalt. Diese Arbeit macht heutzutage bei vielen nur noch einen Bruchteil der tatsächlichen Arbeitszeit aus. Selbst Geringverdiener arbeiten einen beträchtlichen Teil für Güter, die nicht unbedingt notwendig sind. In vielen Teilen der Welt können sich die Menschen über ihren notwendigen Lebensunterhalt hinaus viele Dinge leisten. Der Warenaustausch ist global organisiert, so dass die Verbraucher relativ gleichmäßig davon partizipieren. Damit entfällt ein wichtiger Grund für Gewaltanwendung. Wem genug zum Leben und darüber hinaus zur Verfügung steht, muss sich Dinge nicht gewaltsam beschaffen. Im Gegenteil: Gesellschaften, in denen die meisten Menschen immer weniger für ihren notwendigen Lebensunterhalt arbeiten müssen, erheben Gewaltfreiheit zu einem sehr hohen Wert, weil sie Sicherheit in der Dingwelt bietet, die alle Besitzer schützt.

Wieso kommt es trotzdem zu Gewalt? Abgesehen von grundsätzlich gewaltbereiten Menschen, die es in jeder Gesellschaft gibt, ist für einige Gewalt Teil ihrer für den Lebensunterhalt notwendigen Arbeit. Es lockt Reichtum, zum Beispiel im Drogen – oder Menschenhandel. In diesen Nischen besteht Nachfrage, entsprechend aktiv sind auch Lieferanten.

Werte müssen akzeptiert sein

Darüber hinaus entsteht Gewalt hauptsächlich aus ethnischen, religiösen sowie politischen Gründen. Ebenso zählt das Bestreben von Staaten dazu, Territorien und Einflussbereiche zu erhalten oder zu erweitern. Im weitesten Sinne sind auch dein Verteilungskämpfe, die sicherstellen, dass es innerhalb einer Gesellschaft ausreichend Güter und Arbeit gibt. Dementsprechend ist Gewalt Ausdruck ungleiche Verteilung auf verschiedenen Ebenen. Selbst ethnische und religiöse Konflikte zeigen Ängste innerhalb einer Gesellschaft vor Verlust der lebensnotwendigen Dinge. Gewalt dokumentiert Ungleichheit. Sie stellt einen Verlust von Werten dar, beziehungsweise ihre Anpassung an eine gewaltbereite Umgebung.

Werte erhalten ihre Gültigkeit durch die Akzeptanz der Menschen. So gesehen kann auch Gewalt einen Wert darstellen. Die Masse setzt die Werte durch ihr Verhalten.

Doch obwohl es möglich ist, Werte frei zu wählen, gibt der kollektive Strom nur diejenigen Werte frei, die der Entwicklung einer Gesellschaft nützlich sind. Das ist schwer zu verstehen. Ganz besonders mit Blick auf die beiden Weltkriege. Millionen Menschen starben und es gab unglaubliche Gräueltaten. Wie konnte es zu diesem Wertewandel kommen?

Dienstag, 29. November 2022

Das Volk der hängenden Köpfe

 

Menschen blicken plastisch aus Bildschirmen und symbolisieren so die Abhängigkeit von der modernen vor allem mobilen Technologie
Der Mensch entwickelte den aufrechten Gang vermutlich, um Gefahren und Beute frühzeitig sehen zu können. Heute verkrümmt er den Hals, damit er den Blick ständig auf sein Mobiltelefon richten kann. Die Chinesen nennen diese Menschen treffend "Volk der hängenden Köpfe".

Der Mensch fügt sich den Dingen, die er erschafft

Ist das die nächste evolutionäre Stufe der Menschheit? Auch wenn man das mit einem Schmunzeln meinen könnte: Natürlich nicht. Es zeigt nur, wie sehr sich der Mensch der von ihm geschaffenen Technik anpasst. Andere Erfindungen werden folgen. Implementierte Chips zum Beispiel, Kontaktlinsen mit Datenübertragung oder auch Geräte, die sich heute noch niemand vorstellen kann.

Eines steht allerdings fest: Je mehr sich der Mensch seiner Technik anpasst, desto schneller wird er sich verändern. In welche Richtung? Wer weiß. Darüber können wir heute nur spekulieren.

Ein Naturvolk sind wir jedenfalls längst nicht mehr. Körperliche Voraussetzungen und Wissen sind vielfach verloren gegangen. Inzwischen sind wir Menschen, die in einer selbst erschaffenen Welt leben, einer Welt, in der uns viele Dinge umgeben, deren Anforderungen wir uns fügen. Ein Fahrstuhl, zum Beispiel. Die meisten Menschen benutzen ihn, selbst wenn sie nur zwei Stockwerke zu gehen hätten und die Wartezeit, bis der Fahrstuhl bereitsteht, länger ist als der Fußweg über die Treppe. Dafür setzen wir uns dann auf stationäre Fahrräder, um zu trainieren.

Das Mobiltelefon verspricht den Menschen ein Mehr

Wir erschaffen Dinge, die erfordern, dass wir mehr Dinge erschaffen, die den negativen Einfluss der ersten Dinge auf uns ausgleichen. So entsteht ständig Neues, das noch mehr Neues bedingt. Ein Kreislauf, auf den wir sogar unsere Wirtschaft abstimmen und den wir durch Wirtschaftstheorien sehr einfallsreich erklären und bestätigen.

Doch im Grunde ist es sehr einfach: Wir brauchen immer mehr. Die Mobiltelefone sind die Mittler zu diesem Mehr. Ganz gleich, um was für ein Mehr es dabei geht: Mehr Gespräche, mehr Dinge, mehr Nachrichten. 

Der Mensch veraltet mehr und mehr sein gesamtes Leben über den kleinen Taschencomputer, der sich als harmloses Telefon tarnt und doch jeden Schritt seines Nutzers dokumentiert. Von zurückgelegten Reisestrecken über Kontobewegungen bis zu Gesundheitsdaten. Nebenbei animiert es die Menschen genau zu dem Mehr, das sie so gerne haben möchten und das jetzt sehr einfach für sie zu bekommen ist. Nur ein paar Klicks und das Mehr wird postwendend zu ihnen nach Hause geliefert.

Deshalb verkrümmt der Mensch seinen Hals und wird zum "Volk der hängenden Köpfe". Es ist dieses Mehr, welches das Mobiltelefon ihm verspricht und vor dem er seinen Kopf neigt.

Vielleicht verbirgt sich dahinter doch die nächste evolutionäre Stufe in der Entwicklung der Menschheit. Nur wird sie anders aussehen, als wir es erwarten.

Samstag, 26. November 2022

Unfreiheit ist nicht die Abwesenheit von Freiheit

 

Menschen in uniformer Kleidung gehen, dem Betrachter den Rücken zugewandt, in Masse an einen nicht zu sehenden Ort
Neulich haben Schüler eines Gymnasiums über Unfreiheit geschrieben. Die Wahl der Textform blieb ihnen überlassen. Es kamen dabei Gedichte, Kurzgeschichten und Essays heraus. Doch es wurde immer die gleiche Art von Unfreiheit beschrieben: Die Unfreiheit durch einen repressiven Staat. Keinem einzigen Schüler kam es in den Sinn, zu fragen, wie tief Unfreiheit in den Alltag eingreift und was Unfreiheit für ein Leben ohne Zwang von außen bedeutet.

Auch bei meiner Recherche ist kaum etwas über Unfreiheit zu finden. Meist wird sie nur als Gegensatz zu Freiheit aufgeführt, über die sehr viel zu finden ist.

Was hat es auf sich mit der Unfreiheit, für die sich niemand zu interessieren scheint? Haben die Menschen Angst vor ihr oder fühlen sich tatsächlich alle frei?

Ist Freiheit die größte Unfreiheit?

Für Jean-Paul Sartre war Freiheit der Kern des menschlichen Wesens. Der Begründer des Existenzialismus ging davon aus, der Mensch erschaffe seine Natur durch das, was er zu tun beschließt. "Die Existenz geht der Essenz voraus", schrieb er und meinte damit eben dieses sich selbst definieren, nachdem man unwiderruflich in die Welt geworfen sei. Darin liege seine Freiheit. Für Sartre war sie die Grundbedingung des Menschseins. Andererseits schrieb er: "Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein."

Das klingt nicht besonders frei. Denn wenn der Mensch zur Freiheit verurteilt ist, zwingt ihn eine Instanz dazu, nämlich diejenige, die ihn verurteilt hat, frei zu sein. Dann aber wäre Freiheit, weil der Mensch frei sein muss, die größte Unfreiheit.

Vielleicht ist es andersherum: Der Mensch kann Unfreiheit überwinden, um frei zu sein. Dazu sollte er sich natürlich mit ihr auskennen.

Vom ersten Tag an konsumieren

Jedes Leben beginnt in Abhängigkeit. Es muss versorgt werden, weil es sich nicht selbst versorgen kann und bedarf der Ansprache, um sich geistig und sozial zu entwickeln. Darüber hinaus ist es frei, weil keine Erwartungen an es gestellt werden und es kein Wollen hat - außer dem der Erfüllung seiner körperlichen Bedürfnisse.

Die Notwendigkeiten des Überlebens sind von Anfang an da: Nahrungsaufnahme, Ausscheidung und Schlafen. Der Mensch braucht lange, bis er für sich selbst sorgen kann. Aber zu seinem Wohlergehen muss er von Beginn seines Lebens an konsumieren. Möglicherweise ist das der Urgrund, warum Menschen später auch zu ihrem Vergnügen konsumieren. Weshalb es ihnen gutgeht, wenn sie sich Dinge aneignen können.

Jedenfalls lebt der Mensch in einer von ihm erschaffenen Welt der Dinge. Selbst die Natur wird inzwischen von ihm gestaltet oder umgestaltet. So werden zum Beispiel Bäume als Bonsai oder Gartenzierde zu Dingen, die der Mensch sich aneignet wie Kleidung, Möbel und Fortbewegungsmittel. 

Ist es ein Zeichen von Freiheit, dass er seine eigene Welt gestaltet? Ja und Nein. Bei vielem, was der Mensch tut, gibt es zwei Seiten derselben Medaille. Ein Haus bauen und einen Garten anlegen ist selbstverständlich ein Ausdruck von Unabhängigkeit, von Freiheit. Aber wenn gebaut und anlegest ist - was dann? 

Ein Sisyphus der Neuzeit

Der Mensch wird zum Sklaven seiner eigenen Freiheit. Denn sobald er aus freien Stücken ein Ding herstellt oder erwirbt, muss er es auf Dauer pflegen. Er kann es nicht sich selbst überlassen. So führt jede Entscheidung, die er trifft, zu einer Einengung und damit zur Verminderung seiner Freiheit.

Entscheidungen sind so eine Sache. Menschen treffen sie tausendfach am Tag. Die meisten sind Routine und lenken das Leben weitgehend unbemerkt. Andere begleiten einen Menschen tage-, einige sogar jahrelang. Der Kauf eines Autos beispielsweise oder die Erfüllung eines langgehegten Traumes. 

Das Gehirn produziert Bilder und Vorstellungen, Gefühle, mit denen es vorwegnimmt, wie es sein könnte, wenn jemand endlich bekommt, was er sich sehnlichst wünscht. Es drängt auf eine Entscheidung und verspricht dafür Glückseligkeit.

Doch was sind Entscheidungen? Verzweigungen im Netzwerk der Möglichkeiten. Am anschaulichsten zu beobachten bei einer Partie Schach. 

Glücklicher Zufall

Vom ersten Zug an müssen die Kontrahenten Entscheidungen treffen. Dabei erhöht sich oberflächlich betrachtet die Zahl der Möglichkeiten, je weiter ein Spiel voranschreitet. Doch da beide Spieler Pläne verfolgen, scheiden viele Züge von vornherein aus. Zudem ist bewiesen, seit Computer Schach bis zur Perfektion analysieren, dass es tatsächlich jeweils nur wenige gute Züge gibt. Also sind theoretisch zwar ein Haufen Möglichkeiten vorhanden, praktisch jedoch führen die meisten von ihnen zur Niederlage.

Allerdings - und jetzt wird es kompliziert - muss die Unzulänglichkeit des menschlichen Gegenübers berücksichtigt werden. Er könnte nicht in Spiellaune oder abgelenkt sein oder einfach ein miserabler Spieler. Die Psyche vergrößert die Möglichkeiten enorm, denn eigene Fehler wirken sich vielleicht gar nicht oder zumindest weniger aus. Darüber hinaus steigert ein schwacher Gegner die eigene Selbstsicherheit, so dass es plötzlich leichter wird, Entscheidungen zu treffen, weil die meisten dieser Entscheidungen aufgrund der günstigen Spielsituation nicht falsch sein können, selbst wenn sie es in einer objektiven Analyse eventuell wären.

Diese Erweiterung von Möglichkeiten bezeichnen die Menschen als glücklichen Zufall oder einfach Glück. Was nichts anders heißt, als dass weitgehend ohne ihr Zutun eine günstige Entscheidung für sie getroffen wurde - durch die Ziehung der richtigen Losnummer oder weil ein anderer in einer kritischen Situation gut reagiert und einen Unfall vermeidet.

Die Dingwelt lenkt die Geschicke der Menschen

Das interessante an Möglichkeiten ist, dass jede Entscheidung für eine Möglichkeit  tausende neuer nach sich zieht. Gleichzeitig realisieren sich tausend andere nie. Wie finden sich Menschen in diesem Wirrwarr zurecht? Indem sie die allermeisten Möglichkeiten nicht wahrnehmen. Denn selbstverständlich überlegt niemand bei jedem Schritt, wohin er seinen Fuß setzen könnte. Er entscheidet sich für eine Richtung und geht los, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Durch dieses großteilige Denken reduziert sich die Anzahl der täglich bewussten Entscheidungen auf vielleicht ein paar Dutzend. Überschaubar.

Der Rest geschieht als Handlungen aus einem generellen Wollen. Wer sich setzen will, muss sich einen Stuhl nehmen und überlegt nicht, ob er ihn mit der rechten oder linken Hand anfasst, an der Lehne zieht oder ihn anhebt. Das ergibt sich aus der Entscheidung, sitzen zu wollen sowie der Lage und Schwere des Stuhls. 

Die Dingwelt beeinflusst das menschliche Sein durch die Informationen, die sie ständig übermittelt. Ist die Waschmaschine defekt, muss eine Entscheidung her: Kann sie repariert oder muss eine neue gekauft werden? So lenken die Dinge, die der Mensch erschafft, nach ihrer Entstehung seine Geschicke. Es scheint sogar, dass der Mensch seine Freiheit aufgibt, indem er die Dingwelt herstellt. 

Wie funktioniert das? Was hat er davon?

Planlose Schöpfer

Hannah Arendt schreibt, das Geschenk der Schöpfung an den Menschen sei die Freiheit. Falls dies zutrifft, gehen die Menschen nicht gut um mit diesem Geschenk. Sie verbauen sich ihre Freiheit mit Dingen, die sie ihre Welt nennen, die aber nur der materielle Ausdruck von Fantasien und Wünschen sind. 

Der Mensch hat die Welt nach seiner Vorstellung gestaltet. Aber er hatte dabei keinen Plan.

Vielleicht ist es ein Naturgesetz, dass sich alles entwickelt, indem jede sich bietende Möglichkeit zur materiellen Verbesserung der Lebensumstände genutzt wird. Ähnlich der Entwicklung von einem geordneten Zustand zur Entropie. Immerhin ist es vorstellbar, dass die Epoche der Urmenschen geordneter verlief als das sogenannte Anthropozän, also das Zeitalter des Menschen, heute.

Wohlstand und relative Sicherheit, in denen ein Großteil der Menschen aktuell lebt, erkauft sie sich auf Kosten ihrer Freiheit. Mussten die Urmenschen nur für ihren notwendigen Lebensunterhalt arbeiten, haben die modernen Menschen weitaus mehr Verpflichtungen.

Die Dinge fordern ihren Anteil am menschlichen Leben

Die Menschen nennen es Freiheit, wenn sie sich mit Dingen umgeben können, wenn sie überall erreichbar sind, täglich dutzende von Nachrichten empfangen und versenden. Doch mit jedem Ding, das sie erwerben, gehen sie eine neue Verpflichtung ein. Wieviele Dinge sind wirklich notwendig - und wieviele Dinge besitzt jeder Mensch?

Ein durchschnittlicher Europäer hat angeblich 8000 bis 10000 Dinge zu Hause. Noch vor 100 Jahren sollen sich nur ungefähr 180 Dinge in einem deutschen Haushalt befunden haben. Woher diese Zahlen stammen, weiß niemand. Das Statistische Bundesamt dementiert, sie herausgegeben zu haben. Einen netten Artikel dazu hat Der Standard aus Österreich veröffentlicht.

Ganz gleich, mit wie vielen Dingen ein Mensch sich umgibt, sie fordern ihren Anteil an seinem Leben. Wer ein Sofa kauft, muss es von nun an sauber halten pflegen, später reinigen und reparieren. Er kann nicht einfach die Wohnung wechseln, weil dann das Sofa nicht mehr passt. Irgendwann muss es entsorgt werden. So sehr es wahrscheinlich hübsch und gemütlich ist, verlangt es doch eine gewisse Aufmerksamkeit und engt damit die Freiheit seines Besitzers ein.

Das gilt für alle Dinge. Je mehr ein Mensch davon hat, desto weniger Freiheit bleibt ihm.

Die Frage lautet: Empfinden das die Menschen oder fühlen sie sich inmitten all der Dinge, für die sie sorgen müssen, trotz allem frei? Sind Freiheit und Unfreiheit für jede Generation neu zu definieren, weil die Bedürfnisse der Menschen sich verschieben?

Die einzige Freiheit, die der Mensch wirklich hat

Nein, nicht nur das, sondern auch, weil sie keine andere Welt kennen, außer der, in die sie hineingeboren werden. Die Welt der Dinge prägt die Menschen - oder genauer: Die Welt der Dinge, die von den Menschen vor ihnen geschaffen werden, prägt die jeweils neue Generation. 

Nebenbei wird auch der Begriff von Freiheit und das Gefühl von einem freien Leben übertragen. Was also heute Freiheit genannt wird, wäre in früheren Zeiten unter Umständen eine Verrohung der Sitten gewesen - oder schlimmeres. Es hängt ausschließlich davon ab, wie wir selbst unser Leben in der Gesellschaft bewerten: Frei oder unfrei.

Beides sind äußerst dehnbare Begriffe, die im Grunde nichts aussagen. Es gibt weder Freiheit, noch Unfreiheit, sondern nur die Freiheit von etwas, beziehungsweise die Unfreiheit in etwas.

Wir alle sind als Menschen unfrei in unserer Natur und in der Dingwelt, die wir uns selbst erschaffen. Doch ob wir unser Leben als frei oder unfrei empfinden, bleibt uns selbst überlassen.

Möglicherweise ist das die einzige echte Freiheit, die wir überhaupt haben: Zu entscheiden, wie wir mit unserer naturgegebenen und gesellschaftlich aufgezwungenen Unfreiheit umgehen.