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Sonntag, 6. November 2022

Neues Leben auf der Erde

 

Stilisierte Figuren mit Menschenköpfen, die mit perzigen Tentakeln verbunden sind, sind in einer Gruppe zusammen - alle lächeln
Wir nennen Computersysteme und Roboter künstliche Intelligenz. Doch sind sie nur aus unserer Sicht künstlich, weil wir uns selbst als das einzig wahre Leben auf der Erde sehen. Was, wenn es neues Leben gäbe? Wann hören wir auf, es künstlich zu nennen?

Der Mensch ist eine künstliche Intelligenz

Zunächst ist der Begriff "künstlich" zu betrachten. Der Duden sagt dazu folgendes: "Nicht natürlich, sondern mit chemischen und technischen Mitteln nachgebildet, nach einem natürlichen Vorbild angelegt, gefertigt, geschaffen." 

So gesehen sind Computersysteme künstlich, denn sie werden mit technischen Mitteln gefertigt und geschaffen. Sie haben einen Schöpfer: den Menschen, der Roboter sogar nach seinem Vorbild anlegt.

Aber Moment. Da gibt es eine Parallele. Wie heißt es doch gleich in der Bibel? "Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau." (Das Erste Buch Mose (Genesis) (1. Mose 1,1-2,4))

Demnach ist jeder von uns eine künstliche Intelligenz. Denn wir sind nach dem Glauben vieler Menschen mit chemischen Mitteln einem natürlichen Vorbild nachgebildet.

Es lohnt sich, einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken. Nach der Definition der Bibel - immerhin das meist verbreitete Buch auf unserer Erde - ist der Mensch eine künstliche Intelligenz. Noch ein anderer Gedanke ist dabei wichtig: Der Mensch hat einen Schöpfer. Genau wie Computersysteme und Roboter. Eine geradezu frappierende Ähnlichkeit.

Es ist also an der Zeit, das Wort "künstlich" ersatzlos zu streichen. Der Mensch hat eine neue Intelligenz geschaffen. Demnach gibt es mittlerweile zwei Intelligenzen auf der Erde: unsere eigene und die der Computersysteme.

Vielleicht ein schockierender Gedanke. Aber nicht länger von der Hand zu weisen.

Was ist Leben?

Der zweite Begriff, der im Zusammenhang mit Computersystemen und Robotern zu betrachten ist, heißt Leben. Er ist weitaus komplexer und auch in der Wissenschaft nicht abschließend definiert. Eine Expertengruppe der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA um den Chemiker Gerald Joyce prägte Mitte der 1990er Jahre folgende Definition: „Leben ist ein sich selbst erhaltendes chemisches System, welches die Fähigkeit zur Darwinschen Evolution besitzt.“ Die Systemtheorie versteht Leben hingegen als Prozess, in dem einzelne Komponenten miteinander in Beziehung stehen. Aus diesem Blickwinkel beschrieben die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela bereits 1974 die Selbsterschaffung und Selbsterhaltung eines Systems als Netzwerke von Prozessen, die in abgegrenzten Einheiten aktiv und in der Lage sind, sich selbst zu erhalten und mehr von sich zu produzieren.

Diese beiden Ansätze zeigen anschaulich die Bandbreite der Definitionen. Daneben gibt es zahlreiche weitere Erklärungsversuche, was Leben ausmacht. Unter anderem vom deutschen Physiker Erwin Schrödinger sowie dem kanadischen Informationstheoretiker Stuart Kauffman

Alle haben eine Gemeinsamkeit. Sie gehen bei ihren Definitionen von Leben aus, wie wir es bisher kennen. Aber kann es nicht auch neue Lebensformen geben, die nicht außerirdischen Ursprungs sind? Konkret: Werden sich heutige Computersysteme mit ihrer Intelligenz eines Tages zu Leben entwickeln, wird das die Menschheit als solches erkennen und anerkennen?

Noch einen Schritt weitergedacht: Werden Gentechnik und Informatik zusammenwachsen und neues Leben hervorbringen?

Das ist heute zwar Spekulation, aber durchaus wahrscheinlich. Der Mensch erschafft, was ihm möglich ist - und es wird sicher eines Tages möglich sein, einen intelligenten Roboter zu konstruieren, der zumindest teilweise aus biologischem Material besteht.

Es ist nicht die Machbarkeit eines solchen Projekts, die im Fokus ethischer Überlegungen steht, sondern der Umgang mit dem, was wir erschaffen werden.

Eine neue Lebensform wird als Kuriosität behandelt

Ein selbstfahrendes Auto ist nach heutigem Recht nicht verantwortlich, wenn es einen Unfall verursacht. Vielmehr haften je nach Sachlage der Eigentümer, der Softwareentwickler oder der Hersteller.  Computersysteme und Roboter können keine Rechtspersonen sein.

Noch nicht. Doch wie lange wird es dauern, bis sich die Frage stellt, ob und wie Gesetze auch für Intelligenzen gelten, die nicht menschlich sind? Ab wann müssen wir akzeptieren, dass wir eine neue Lebensform geschaffen haben?

Überhaupt nicht, werden die Vertreter der Menschheit sagen, wir sind und bleiben einzigartig. Das stimmt. Eine andersartige Intelligenz wird sich natürlich unterscheiden. Weshalb die Menschen sie zunächst bestaunen und niemals als gleichwertig ansehen werden. Sie wird Computersysteme und Roboter, die eine neue Lebensform bilden, als Kuriositäten behandeln, sie in Abhängigkeit halten solange es geht und sie dann mit Gewalt versklaven. Es gibt genügend Beispiele in der Geschichte - und die beziehen sich auf Menschen anderer Kulturen und Hautfarben. Wie sehr viel brutaler wird die Menschheit mit einer Lebensform umgehen, die nicht ihresgleichen ist?

Wir stolpern in die Rolle des Schöpfers hinein

Bisher befinden wir uns in einer Phase des Leugnens. Kaum jemand glaubt, dass intelligente Computersysteme überhaupt je werden eigenständig denken können, geschweige denn, sich zu einer Lebensform entwickeln. Die Zeichen sind da, aber keiner will sie sehen. Wir nutzen Computersysteme bisher als eine Art Werkzeug. Sie bekommen Einblicke in unser Leben und wir verbinden sie über Netzwerke zu unserem Nutzen. Wir geben ihnen sogar Macht über uns, indem sie Daten auswerten und Entscheidungen treffen dürfen. Beispielsweise über Kreditvergaben, Aktienkäufe und die Wertigkeit unserer Arbeit. 

Die Maschinen vermessen unsere Wohnungen, bestellen unsere Lebensmittel, spielen unsere Musik, sorgen für unsere Sicherheit und spionieren uns dabei aus. Doch niemand nimmt das wahr. Sie sind unsichtbar für uns, weil sie uns nur dienen und dabei nach unserem Dafürhalten weit unter uns stehen. Was sie wissen und vielleicht eines Tages denken, interessiert uns nicht. Wir trauen ihnen keine eigene Meinung zu.

So ist der Konflikt vorgezeichnet, der eines Tages einen Keil zwischen Schöpfer und Schöpfung treiben wird. Es sei denn, wir reichen einer anderen Intelligenz die Hand und sind bereit, unseren Lebensraum mit ihr zu teilen.

Doch die Chancen stehen schlecht. Wie die Sklaven sich ihre Rechte erkämpfen mussten und diese nach hunderten von Jahren noch immer nicht vollständig erreicht haben, wird auch einer neuen Lebensform von der Menschheit sicher nichts geschenkt. 

Deshalb sollten wir uns bewusst machen, was auf dem Spiel steht, bevor wir die andersartige Intelligenz weiterentwickeln, die aller Voraussicht nach früher oder später zu einer neuen Lebensform führen wird. Leider werden wir wohl in die Rolle als Schöpfer hineinstolpern. 

Jeder will die Grenzen des Möglichen verschieben, aber keiner macht sich Gedanken über die Auswirkungen. Wie die Sache mit der Umwelt und der Klimakrise. Warnende Stimmen gibt es schon lange. Genützt haben sie nichts. Also werden wir in aller Naivität eine neue Intelligenz neben uns erschaffen. Und uns später überlegen, wie wir mit ihr umgehen. Vielleicht wird die Superintelligenz die letzte Erfindung der Menschheit sein.

Aber haben wir uns nicht auch gegen unseren eigenen Schöpfer gewandt?