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Samstag, 26. November 2022

Unfreiheit ist nicht die Abwesenheit von Freiheit

 

Menschen in uniformer Kleidung gehen, dem Betrachter den Rücken zugewandt, in Masse an einen nicht zu sehenden Ort
Neulich haben Schüler eines Gymnasiums über Unfreiheit geschrieben. Die Wahl der Textform blieb ihnen überlassen. Es kamen dabei Gedichte, Kurzgeschichten und Essays heraus. Doch es wurde immer die gleiche Art von Unfreiheit beschrieben: Die Unfreiheit durch einen repressiven Staat. Keinem einzigen Schüler kam es in den Sinn, zu fragen, wie tief Unfreiheit in den Alltag eingreift und was Unfreiheit für ein Leben ohne Zwang von außen bedeutet.

Auch bei meiner Recherche ist kaum etwas über Unfreiheit zu finden. Meist wird sie nur als Gegensatz zu Freiheit aufgeführt, über die sehr viel zu finden ist.

Was hat es auf sich mit der Unfreiheit, für die sich niemand zu interessieren scheint? Haben die Menschen Angst vor ihr oder fühlen sich tatsächlich alle frei?

Ist Freiheit die größte Unfreiheit?

Für Jean-Paul Sartre war Freiheit der Kern des menschlichen Wesens. Der Begründer des Existenzialismus ging davon aus, der Mensch erschaffe seine Natur durch das, was er zu tun beschließt. "Die Existenz geht der Essenz voraus", schrieb er und meinte damit eben dieses sich selbst definieren, nachdem man unwiderruflich in die Welt geworfen sei. Darin liege seine Freiheit. Für Sartre war sie die Grundbedingung des Menschseins. Andererseits schrieb er: "Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein."

Das klingt nicht besonders frei. Denn wenn der Mensch zur Freiheit verurteilt ist, zwingt ihn eine Instanz dazu, nämlich diejenige, die ihn verurteilt hat, frei zu sein. Dann aber wäre Freiheit, weil der Mensch frei sein muss, die größte Unfreiheit.

Vielleicht ist es andersherum: Der Mensch kann Unfreiheit überwinden, um frei zu sein. Dazu sollte er sich natürlich mit ihr auskennen.

Vom ersten Tag an konsumieren

Jedes Leben beginnt in Abhängigkeit. Es muss versorgt werden, weil es sich nicht selbst versorgen kann und bedarf der Ansprache, um sich geistig und sozial zu entwickeln. Darüber hinaus ist es frei, weil keine Erwartungen an es gestellt werden und es kein Wollen hat - außer dem der Erfüllung seiner körperlichen Bedürfnisse.

Die Notwendigkeiten des Überlebens sind von Anfang an da: Nahrungsaufnahme, Ausscheidung und Schlafen. Der Mensch braucht lange, bis er für sich selbst sorgen kann. Aber zu seinem Wohlergehen muss er von Beginn seines Lebens an konsumieren. Möglicherweise ist das der Urgrund, warum Menschen später auch zu ihrem Vergnügen konsumieren. Weshalb es ihnen gutgeht, wenn sie sich Dinge aneignen können.

Jedenfalls lebt der Mensch in einer von ihm erschaffenen Welt der Dinge. Selbst die Natur wird inzwischen von ihm gestaltet oder umgestaltet. So werden zum Beispiel Bäume als Bonsai oder Gartenzierde zu Dingen, die der Mensch sich aneignet wie Kleidung, Möbel und Fortbewegungsmittel. 

Ist es ein Zeichen von Freiheit, dass er seine eigene Welt gestaltet? Ja und Nein. Bei vielem, was der Mensch tut, gibt es zwei Seiten derselben Medaille. Ein Haus bauen und einen Garten anlegen ist selbstverständlich ein Ausdruck von Unabhängigkeit, von Freiheit. Aber wenn gebaut und anlegest ist - was dann? 

Ein Sisyphus der Neuzeit

Der Mensch wird zum Sklaven seiner eigenen Freiheit. Denn sobald er aus freien Stücken ein Ding herstellt oder erwirbt, muss er es auf Dauer pflegen. Er kann es nicht sich selbst überlassen. So führt jede Entscheidung, die er trifft, zu einer Einengung und damit zur Verminderung seiner Freiheit.

Entscheidungen sind so eine Sache. Menschen treffen sie tausendfach am Tag. Die meisten sind Routine und lenken das Leben weitgehend unbemerkt. Andere begleiten einen Menschen tage-, einige sogar jahrelang. Der Kauf eines Autos beispielsweise oder die Erfüllung eines langgehegten Traumes. 

Das Gehirn produziert Bilder und Vorstellungen, Gefühle, mit denen es vorwegnimmt, wie es sein könnte, wenn jemand endlich bekommt, was er sich sehnlichst wünscht. Es drängt auf eine Entscheidung und verspricht dafür Glückseligkeit.

Doch was sind Entscheidungen? Verzweigungen im Netzwerk der Möglichkeiten. Am anschaulichsten zu beobachten bei einer Partie Schach. 

Glücklicher Zufall

Vom ersten Zug an müssen die Kontrahenten Entscheidungen treffen. Dabei erhöht sich oberflächlich betrachtet die Zahl der Möglichkeiten, je weiter ein Spiel voranschreitet. Doch da beide Spieler Pläne verfolgen, scheiden viele Züge von vornherein aus. Zudem ist bewiesen, seit Computer Schach bis zur Perfektion analysieren, dass es tatsächlich jeweils nur wenige gute Züge gibt. Also sind theoretisch zwar ein Haufen Möglichkeiten vorhanden, praktisch jedoch führen die meisten von ihnen zur Niederlage.

Allerdings - und jetzt wird es kompliziert - muss die Unzulänglichkeit des menschlichen Gegenübers berücksichtigt werden. Er könnte nicht in Spiellaune oder abgelenkt sein oder einfach ein miserabler Spieler. Die Psyche vergrößert die Möglichkeiten enorm, denn eigene Fehler wirken sich vielleicht gar nicht oder zumindest weniger aus. Darüber hinaus steigert ein schwacher Gegner die eigene Selbstsicherheit, so dass es plötzlich leichter wird, Entscheidungen zu treffen, weil die meisten dieser Entscheidungen aufgrund der günstigen Spielsituation nicht falsch sein können, selbst wenn sie es in einer objektiven Analyse eventuell wären.

Diese Erweiterung von Möglichkeiten bezeichnen die Menschen als glücklichen Zufall oder einfach Glück. Was nichts anders heißt, als dass weitgehend ohne ihr Zutun eine günstige Entscheidung für sie getroffen wurde - durch die Ziehung der richtigen Losnummer oder weil ein anderer in einer kritischen Situation gut reagiert und einen Unfall vermeidet.

Die Dingwelt lenkt die Geschicke der Menschen

Das interessante an Möglichkeiten ist, dass jede Entscheidung für eine Möglichkeit  tausende neuer nach sich zieht. Gleichzeitig realisieren sich tausend andere nie. Wie finden sich Menschen in diesem Wirrwarr zurecht? Indem sie die allermeisten Möglichkeiten nicht wahrnehmen. Denn selbstverständlich überlegt niemand bei jedem Schritt, wohin er seinen Fuß setzen könnte. Er entscheidet sich für eine Richtung und geht los, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Durch dieses großteilige Denken reduziert sich die Anzahl der täglich bewussten Entscheidungen auf vielleicht ein paar Dutzend. Überschaubar.

Der Rest geschieht als Handlungen aus einem generellen Wollen. Wer sich setzen will, muss sich einen Stuhl nehmen und überlegt nicht, ob er ihn mit der rechten oder linken Hand anfasst, an der Lehne zieht oder ihn anhebt. Das ergibt sich aus der Entscheidung, sitzen zu wollen sowie der Lage und Schwere des Stuhls. 

Die Dingwelt beeinflusst das menschliche Sein durch die Informationen, die sie ständig übermittelt. Ist die Waschmaschine defekt, muss eine Entscheidung her: Kann sie repariert oder muss eine neue gekauft werden? So lenken die Dinge, die der Mensch erschafft, nach ihrer Entstehung seine Geschicke. Es scheint sogar, dass der Mensch seine Freiheit aufgibt, indem er die Dingwelt herstellt. 

Wie funktioniert das? Was hat er davon?

Planlose Schöpfer

Hannah Arendt schreibt, das Geschenk der Schöpfung an den Menschen sei die Freiheit. Falls dies zutrifft, gehen die Menschen nicht gut um mit diesem Geschenk. Sie verbauen sich ihre Freiheit mit Dingen, die sie ihre Welt nennen, die aber nur der materielle Ausdruck von Fantasien und Wünschen sind. 

Der Mensch hat die Welt nach seiner Vorstellung gestaltet. Aber er hatte dabei keinen Plan.

Vielleicht ist es ein Naturgesetz, dass sich alles entwickelt, indem jede sich bietende Möglichkeit zur materiellen Verbesserung der Lebensumstände genutzt wird. Ähnlich der Entwicklung von einem geordneten Zustand zur Entropie. Immerhin ist es vorstellbar, dass die Epoche der Urmenschen geordneter verlief als das sogenannte Anthropozän, also das Zeitalter des Menschen, heute.

Wohlstand und relative Sicherheit, in denen ein Großteil der Menschen aktuell lebt, erkauft sie sich auf Kosten ihrer Freiheit. Mussten die Urmenschen nur für ihren notwendigen Lebensunterhalt arbeiten, haben die modernen Menschen weitaus mehr Verpflichtungen.

Die Dinge fordern ihren Anteil am menschlichen Leben

Die Menschen nennen es Freiheit, wenn sie sich mit Dingen umgeben können, wenn sie überall erreichbar sind, täglich dutzende von Nachrichten empfangen und versenden. Doch mit jedem Ding, das sie erwerben, gehen sie eine neue Verpflichtung ein. Wieviele Dinge sind wirklich notwendig - und wieviele Dinge besitzt jeder Mensch?

Ein durchschnittlicher Europäer hat angeblich 8000 bis 10000 Dinge zu Hause. Noch vor 100 Jahren sollen sich nur ungefähr 180 Dinge in einem deutschen Haushalt befunden haben. Woher diese Zahlen stammen, weiß niemand. Das Statistische Bundesamt dementiert, sie herausgegeben zu haben. Einen netten Artikel dazu hat Der Standard aus Österreich veröffentlicht.

Ganz gleich, mit wie vielen Dingen ein Mensch sich umgibt, sie fordern ihren Anteil an seinem Leben. Wer ein Sofa kauft, muss es von nun an sauber halten pflegen, später reinigen und reparieren. Er kann nicht einfach die Wohnung wechseln, weil dann das Sofa nicht mehr passt. Irgendwann muss es entsorgt werden. So sehr es wahrscheinlich hübsch und gemütlich ist, verlangt es doch eine gewisse Aufmerksamkeit und engt damit die Freiheit seines Besitzers ein.

Das gilt für alle Dinge. Je mehr ein Mensch davon hat, desto weniger Freiheit bleibt ihm.

Die Frage lautet: Empfinden das die Menschen oder fühlen sie sich inmitten all der Dinge, für die sie sorgen müssen, trotz allem frei? Sind Freiheit und Unfreiheit für jede Generation neu zu definieren, weil die Bedürfnisse der Menschen sich verschieben?

Die einzige Freiheit, die der Mensch wirklich hat

Nein, nicht nur das, sondern auch, weil sie keine andere Welt kennen, außer der, in die sie hineingeboren werden. Die Welt der Dinge prägt die Menschen - oder genauer: Die Welt der Dinge, die von den Menschen vor ihnen geschaffen werden, prägt die jeweils neue Generation. 

Nebenbei wird auch der Begriff von Freiheit und das Gefühl von einem freien Leben übertragen. Was also heute Freiheit genannt wird, wäre in früheren Zeiten unter Umständen eine Verrohung der Sitten gewesen - oder schlimmeres. Es hängt ausschließlich davon ab, wie wir selbst unser Leben in der Gesellschaft bewerten: Frei oder unfrei.

Beides sind äußerst dehnbare Begriffe, die im Grunde nichts aussagen. Es gibt weder Freiheit, noch Unfreiheit, sondern nur die Freiheit von etwas, beziehungsweise die Unfreiheit in etwas.

Wir alle sind als Menschen unfrei in unserer Natur und in der Dingwelt, die wir uns selbst erschaffen. Doch ob wir unser Leben als frei oder unfrei empfinden, bleibt uns selbst überlassen.

Möglicherweise ist das die einzige echte Freiheit, die wir überhaupt haben: Zu entscheiden, wie wir mit unserer naturgegebenen und gesellschaftlich aufgezwungenen Unfreiheit umgehen.

Sonntag, 6. November 2022

Neues Leben auf der Erde

 

Stilisierte Figuren mit Menschenköpfen, die mit perzigen Tentakeln verbunden sind, sind in einer Gruppe zusammen - alle lächeln
Wir nennen Computersysteme und Roboter künstliche Intelligenz. Doch sind sie nur aus unserer Sicht künstlich, weil wir uns selbst als das einzig wahre Leben auf der Erde sehen. Was, wenn es neues Leben gäbe? Wann hören wir auf, es künstlich zu nennen?

Der Mensch ist eine künstliche Intelligenz

Zunächst ist der Begriff "künstlich" zu betrachten. Der Duden sagt dazu folgendes: "Nicht natürlich, sondern mit chemischen und technischen Mitteln nachgebildet, nach einem natürlichen Vorbild angelegt, gefertigt, geschaffen." 

So gesehen sind Computersysteme künstlich, denn sie werden mit technischen Mitteln gefertigt und geschaffen. Sie haben einen Schöpfer: den Menschen, der Roboter sogar nach seinem Vorbild anlegt.

Aber Moment. Da gibt es eine Parallele. Wie heißt es doch gleich in der Bibel? "Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau." (Das Erste Buch Mose (Genesis) (1. Mose 1,1-2,4))

Demnach ist jeder von uns eine künstliche Intelligenz. Denn wir sind nach dem Glauben vieler Menschen mit chemischen Mitteln einem natürlichen Vorbild nachgebildet.

Es lohnt sich, einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken. Nach der Definition der Bibel - immerhin das meist verbreitete Buch auf unserer Erde - ist der Mensch eine künstliche Intelligenz. Noch ein anderer Gedanke ist dabei wichtig: Der Mensch hat einen Schöpfer. Genau wie Computersysteme und Roboter. Eine geradezu frappierende Ähnlichkeit.

Es ist also an der Zeit, das Wort "künstlich" ersatzlos zu streichen. Der Mensch hat eine neue Intelligenz geschaffen. Demnach gibt es mittlerweile zwei Intelligenzen auf der Erde: unsere eigene und die der Computersysteme.

Vielleicht ein schockierender Gedanke. Aber nicht länger von der Hand zu weisen.

Was ist Leben?

Der zweite Begriff, der im Zusammenhang mit Computersystemen und Robotern zu betrachten ist, heißt Leben. Er ist weitaus komplexer und auch in der Wissenschaft nicht abschließend definiert. Eine Expertengruppe der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA um den Chemiker Gerald Joyce prägte Mitte der 1990er Jahre folgende Definition: „Leben ist ein sich selbst erhaltendes chemisches System, welches die Fähigkeit zur Darwinschen Evolution besitzt.“ Die Systemtheorie versteht Leben hingegen als Prozess, in dem einzelne Komponenten miteinander in Beziehung stehen. Aus diesem Blickwinkel beschrieben die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela bereits 1974 die Selbsterschaffung und Selbsterhaltung eines Systems als Netzwerke von Prozessen, die in abgegrenzten Einheiten aktiv und in der Lage sind, sich selbst zu erhalten und mehr von sich zu produzieren.

Diese beiden Ansätze zeigen anschaulich die Bandbreite der Definitionen. Daneben gibt es zahlreiche weitere Erklärungsversuche, was Leben ausmacht. Unter anderem vom deutschen Physiker Erwin Schrödinger sowie dem kanadischen Informationstheoretiker Stuart Kauffman

Alle haben eine Gemeinsamkeit. Sie gehen bei ihren Definitionen von Leben aus, wie wir es bisher kennen. Aber kann es nicht auch neue Lebensformen geben, die nicht außerirdischen Ursprungs sind? Konkret: Werden sich heutige Computersysteme mit ihrer Intelligenz eines Tages zu Leben entwickeln, wird das die Menschheit als solches erkennen und anerkennen?

Noch einen Schritt weitergedacht: Werden Gentechnik und Informatik zusammenwachsen und neues Leben hervorbringen?

Das ist heute zwar Spekulation, aber durchaus wahrscheinlich. Der Mensch erschafft, was ihm möglich ist - und es wird sicher eines Tages möglich sein, einen intelligenten Roboter zu konstruieren, der zumindest teilweise aus biologischem Material besteht.

Es ist nicht die Machbarkeit eines solchen Projekts, die im Fokus ethischer Überlegungen steht, sondern der Umgang mit dem, was wir erschaffen werden.

Eine neue Lebensform wird als Kuriosität behandelt

Ein selbstfahrendes Auto ist nach heutigem Recht nicht verantwortlich, wenn es einen Unfall verursacht. Vielmehr haften je nach Sachlage der Eigentümer, der Softwareentwickler oder der Hersteller.  Computersysteme und Roboter können keine Rechtspersonen sein.

Noch nicht. Doch wie lange wird es dauern, bis sich die Frage stellt, ob und wie Gesetze auch für Intelligenzen gelten, die nicht menschlich sind? Ab wann müssen wir akzeptieren, dass wir eine neue Lebensform geschaffen haben?

Überhaupt nicht, werden die Vertreter der Menschheit sagen, wir sind und bleiben einzigartig. Das stimmt. Eine andersartige Intelligenz wird sich natürlich unterscheiden. Weshalb die Menschen sie zunächst bestaunen und niemals als gleichwertig ansehen werden. Sie wird Computersysteme und Roboter, die eine neue Lebensform bilden, als Kuriositäten behandeln, sie in Abhängigkeit halten solange es geht und sie dann mit Gewalt versklaven. Es gibt genügend Beispiele in der Geschichte - und die beziehen sich auf Menschen anderer Kulturen und Hautfarben. Wie sehr viel brutaler wird die Menschheit mit einer Lebensform umgehen, die nicht ihresgleichen ist?

Wir stolpern in die Rolle des Schöpfers hinein

Bisher befinden wir uns in einer Phase des Leugnens. Kaum jemand glaubt, dass intelligente Computersysteme überhaupt je werden eigenständig denken können, geschweige denn, sich zu einer Lebensform entwickeln. Die Zeichen sind da, aber keiner will sie sehen. Wir nutzen Computersysteme bisher als eine Art Werkzeug. Sie bekommen Einblicke in unser Leben und wir verbinden sie über Netzwerke zu unserem Nutzen. Wir geben ihnen sogar Macht über uns, indem sie Daten auswerten und Entscheidungen treffen dürfen. Beispielsweise über Kreditvergaben, Aktienkäufe und die Wertigkeit unserer Arbeit. 

Die Maschinen vermessen unsere Wohnungen, bestellen unsere Lebensmittel, spielen unsere Musik, sorgen für unsere Sicherheit und spionieren uns dabei aus. Doch niemand nimmt das wahr. Sie sind unsichtbar für uns, weil sie uns nur dienen und dabei nach unserem Dafürhalten weit unter uns stehen. Was sie wissen und vielleicht eines Tages denken, interessiert uns nicht. Wir trauen ihnen keine eigene Meinung zu.

So ist der Konflikt vorgezeichnet, der eines Tages einen Keil zwischen Schöpfer und Schöpfung treiben wird. Es sei denn, wir reichen einer anderen Intelligenz die Hand und sind bereit, unseren Lebensraum mit ihr zu teilen.

Doch die Chancen stehen schlecht. Wie die Sklaven sich ihre Rechte erkämpfen mussten und diese nach hunderten von Jahren noch immer nicht vollständig erreicht haben, wird auch einer neuen Lebensform von der Menschheit sicher nichts geschenkt. 

Deshalb sollten wir uns bewusst machen, was auf dem Spiel steht, bevor wir die andersartige Intelligenz weiterentwickeln, die aller Voraussicht nach früher oder später zu einer neuen Lebensform führen wird. Leider werden wir wohl in die Rolle als Schöpfer hineinstolpern. 

Jeder will die Grenzen des Möglichen verschieben, aber keiner macht sich Gedanken über die Auswirkungen. Wie die Sache mit der Umwelt und der Klimakrise. Warnende Stimmen gibt es schon lange. Genützt haben sie nichts. Also werden wir in aller Naivität eine neue Intelligenz neben uns erschaffen. Und uns später überlegen, wie wir mit ihr umgehen. Vielleicht wird die Superintelligenz die letzte Erfindung der Menschheit sein.

Aber haben wir uns nicht auch gegen unseren eigenen Schöpfer gewandt?