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Sonntag, 23. Oktober 2022

Selfie-Kultur

Eine enggedrängte Menschenmenge reckt die Arme empor und schießt Selfies
Am Ende des Romans "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust gibt es eine erleuchtende Szene. Der Ich-Erzähler kommt nach längerer Abwesenheit zurück in den Pariser Salon und stellt fest, wie alt all seine Bekannten geworden sind. Dann blickt er zufällig in einen Spiegel und erkennt erstaunt sein eigenes Alter.

Eine Szene, die heute nicht mehr denkbar ist. Die Selfie-Kultur hat die Sichtweise auf uns selbst und unsere Welt radikal verändert. Unsere Wahrnehmung geschieht nicht mehr per Zoom, sondern in Slow Motion. Tausende von Fotos begleiten fast jedes Leben. Momente werden ständig aufgezeichnet und Erinnerungen am laufenden Band produziert. Die Banalität des Alltäglichen als mediale Inszenierung.

Einblick in private Momente

Dabei geht es hauptsächlich darum, das vorgestellte Selbstbildnis zu transportieren. Nicht, um den eigenen Erwartungen zu entsprechen, sondern den Erwartungen einer Community, die aus real Bekannten und anonymen Follower besteht. Waren es bei Proust noch leibhaftige Menschen, die sich eine lange Zeit in ihrer Lebensspanne begleitet haben, über deren Veränderung der Protagonist erschrak, ist es heute oft ein schneller Wechsel von kurzzeitigen Begegnungen. Das Interesse hat dementsprechend meist eine knappe Spanne.

Diese Selfie-Kultur verändert den Blick auf uns selbst ebenso, wie unseren Blick auf die Welt. Denn was sehen wir heute? Vor allem die Selbstdarstellung anderer Menschen. Zudem haben wir und geben wir viel mehr Einblick in private Momente als noch vor einigen Jahren. Wir öffnen die Fenster und lassen unsere Nachbar zuschauen, wie wir leben. Gleichzeitig blicken wir auch ihnen permanent über die Schulter.

Was bewirkt das in uns? Vor allem zeigt es uns, was andere machen und haben. Die intimen Einblicke animieren uns, auch so leben zu wollen. Wir schauen uns ab, wie andere leben und konsumieren, was sie konsumieren.

Neu ist der alltägliche Blick auf uns

Interessanterweise schärfen die engen medialen Beziehungen zu anderen Menschen nicht unsere Wahrnehmung in Bezug auf Leid und Elend. Die Nutzer sozialer Netzwerke engagieren sich nicht überdurchschnittlich für Randgruppen der Gesellschaft. Sie sind anscheinend mehr am Vergleich mit ihrer Peer Group und Bessergestellten interessiert. 

Die Selfie-Kultur führt zum Voyeurismus Gleichartiger. Es gibt keine anderen Informationen als: "Seht her, das bin ich, das macht mich aus, das kann ich mir leisten, macht es mir nach!" Sie ist eine Kultur des Erlebens aus zweiter Hand, des Mitlebens und des Konsums. Das Teilen von Augenblicken gibt ihnen einen Wert, der nur empfunden wird, weil andere ihm durch Kommentare und weitere Ausdrücke des Wohlgefallens diesen Wert zumessen.

Diese zwei Fragen stellen sich: Verlieren wir selbst den Maßstab für den Wert unseres Lebens? Bemisst sich das Sein zunehmend nach der Anzahl von Follower und Kommentaren, also nach der Wahrnehmung in der digitalen Welt?

Auf den ersten Blick macht es keinen Unterschied, ob wir Anzug oder Kleid kaufen, um auf einer Veranstaltung gut auszusehen oder uns vor der Kamera inszenieren. Doch das täuscht. Neu ist der alltägliche Blick - von uns selbst und von anderen. Wir haben kaum noch unbeobachtete Momente. Die unheimliche Dimension der Selfie-Kultur ist der Zwang zur Mitteilung, um das Gefühl eines wertvollen Lebens in den Augen anderer zu haben. Sie entzieht uns die Auseinandersetzung mit uns selbst im Alleinsein. Damit erliegen wir mehr und mehr der Kontrolle der Masse.

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