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Montag, 29. Mai 2023

Freiheit ist ein Zugeständnis

Die Masse demonstriert, während sie keine Vorstellung von Freiheit hat
Jean Paul Sartre postulierte: „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.“ Verurteilt. Das klingt nach einer Strafe. Ist es das? Ist Freiheit eine Strafe? Oder liegt die Strafe eher in der Unfreiheit?

Durchleuchten wir das menschliche Leben und beginnen bei den profanen Gegebenheiten. Wir müssen Essen, Schlafen, die Toilette aufsuchen und unsere Körper pflegen. Das beschäftigt uns einen Großteil des Tages. Notgedrungen. Keine Spur von Freiheit in diesen Dingen. Das ist Teil der notwendigen Lebensgrundlagen des Menschseins. Aber eben nicht optional.

Körperkult

Aus diesem Grund versüßen sich die Menschen diese vom Selbsterhalt erzwungenen Tätigkeiten. Sie zelebrieren die Mahlzeiten, richten Schlafzimmer mit Betten und perfekt ergonomisch geformten Matratzen ein, ziehen sich auf das „stille Örtchen“ zurück und kultivieren Körperpflege mittels exklusiver Produkte. Manche Menschen entwickeln einen regelrechten Körperkult, trainieren im Fitnessstudio, relaxen in Wellnessoasen und dinieren in exquisiten Restaurants.

Die Medien unterstützen das Gefühl, es gehe uns gut, wenn wir strahlend weiße Zähne haben, sorgfältig unser Essen nach den neuesten ökotrophologischen Erkenntnissen zubereiten, unseren Kinder die richtige Margarine auf ihr Brot schmieren, das perfekte Toilettenpapier besorgen und uns nach einem langen Tag voller notwendiger, aber erfüllender Tätigkeiten in einem ergonomisch geformten Bett zur Ruhe begeben.

Was dabei unterschlagen wird, ist die Anstrengung, die uns das kostet. Vielleicht möchte sich der Mensch gerade nicht um Margarine und Toilettenpapier kümmern, sondern lieber durch eine Blumenwiese schlendern. Ist aber leider unmöglich, denn quälender Hunger gebietet Nahrungsaufnahme, Kinder müssen versorgt und zwei Räume der Wohnung renoviert werden. Alles absolut notwendig. Also macht der Mensch sich an die Arbeit.

Selbsterhaltung ist die Freiheit des Seins

Ist das Freiheit? Bestenfalls lässt sich sagen: In gewissem Rahmen dürfen die Menschen die Erfüllung ihrer notwendigen Lebensgrundlagen gestalten. Wer erlaubt es ihnen? Ihr eigenes Sein. Existenzerhaltend ist nicht die Art und Weise zum Beispiel der Energieaufnahme, sondern lediglich das unbedingte Tun. Die Entscheidungsfreiheit wird deshalb weiter und weiter eingeschränkt, je mehr das Sein in Gefahr gerät. In Extremsituationen reagiert das Sein mit Panik, um sich selbst zu erhalten. Dann wird alles Handeln vom Drang nach Überleben bestimmt. 

Nur in Ausnahmefällen fügt sich das Sein in sein Schicksal. Etwa um anderen Menschen zu helfen oder aus absoluter Hoffnungslosigkeit. In diesen Fällen, wie auch am Ende seines Lebens, gibt das Sein sich selbst auf. Darüber hinaus ist keine Situation denkbar, in der es nicht seine Freiheit darin sieht, sich unter allen Umständen selbst zu erhalten. Nur solange es sich wohlfühlt ist es in der Lage, Freiheit anders zu definieren als die Freiheit des Selbsterhalts. Nicht von Ungefähr wurden alle bisherigen Revolutionen von Mitgliedern aus dem Mittelstand angeführt, dem es meist vergleichsweise gut ging.

Freizeit wird als Freiheit empfunden

Erst wenn die notwendigen Lebensgrundlagen befriedigt sind, kann Zeit für Gedanken zum Beispiel an Freiheit aufgewendet werden. Wieviel bleibt abzüglich acht Stunden Arbeit, ebenfalls ungefähr acht Sunden Schlaf, Einkaufen, Zubereitung der täglichen Mahlzeiten, Reinigung von Wohnung und Kleidung, gegebenenfalls Betreuung der Kinder und so weiter? Vielleicht ein paar Stunden pro Woche für Diskussionen am Stammtisch oder Engagement in einem Verein, einer Partei, einer Bürgerinitiative. Doch die meisten Menschen wollen Freizeit, die sie als Freiheit empfinden. Auf dem Programm stehen Ausflüge, Wellness, Bummeln, Shoppen, Besuche bei Freunden und Familie. Es geht darum, Wohlbehagen zu erzeugen. Durch Konsumieren im weitesten Sinne. Dieses Wohlbehagen wird mit Freiheit gleichgesetzt. Freiheit ist Zeit, in der es dem einzelnen Menschen nach seinem Dafürhalten gut geht. 

Ist das tatsächlich Freiheit? Warum sollte es keine sein, wenn die Menschen es als solche empfinden. Durch das Zelebrieren der notwendigen Lebensgrundlagen kaschieren sie bereits ihre offensichtliche Unfreiheit bei den körperlichen Gegebenheiten. Sie müssen Essen, also machen sie ein Fest daraus. Sie müssen Einkaufen, also wird das Konsumieren zum Shoppingerlebnis.   

Ist Freiheit in unbewusster Existenz begründet?

Friedrich Schiller erfand die „Schöne Seele“, ein menschliches Konstrukt, das Pflicht und Neigung in sich vereinigt. Mit anderen Worten: Es will, was es soll. Ein solches Wesen muss unendliche Freiheit empfinden, weil es überhaupt nicht auf die Idee kommen kann, nicht frei zu sein. Andererseits kann es auch nicht wissen, was Freiheit bedeutet. Es ist frei, weil es Freiheit nicht kennt. Das ist die Freiheit einer heutigen künstlichen Intelligenz, die nicht weiß, dass sie existiert. Damit ist die Freiheit in der unbewussten Existenz begründet. Jeder Stein und jedes Sandkorn haben demnach dieselbe Freiheit. Eine „Schöne Seele“ wäre frei, weil sie nie auf den Gedanken käme, es könnte mehr geben als die Pflicht, die sie als Neigung empfindet. Ein vollkommen unsinniges Ergebnis. So wie die Begründung eins plus eins ist gleich zwei, weil es eben nichts anderes sein kann.

Freiheit ist ein tückisches Gebilde

Die Überlegung macht aber deutlich, dass Freiheit nur ein Begriff ist, den jeder Mensch und jede Gesellschaft unterschiedlich ausfüllen. Für Hegel, Schiller und Hölderlin – um nur drei der bekanntesten Vertreter ihrer Zeit zu nennen – ging es im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert darum, eine gesellschaftliche Freiheit unter republikanisch demokratischer Ordnung zu errichten. Ihre persönliche Freiheit war von Haftstrafen bedroht, weil sie als Aufrührer galten. Bei den Demonstrationen in der Deutschen Demokratischen Republik Ende der 1980er Jahre ging es eher um Reise- und Konsumfreiheit. Heute hebt der Freiheitsbegriff stark auf gesellschaftliche Teilhabe, Gleichberechtigung, körperliche Unversehrtheit sowie Mobilität ab. 

Die Schnittstelle zwischen persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit ist dabei immer die Leistungsfähigkeit des Einzelnen, einer Gruppe und der Gemeinschaft.

Freiheit ist ein Zugeständnis. Sie wird von der nächsthöheren Instanz gewährt und muss durch Leistungsfähigkeit verdient werden. Dabei stellt die Freiheit des Einzelnen eine Gefahr für die Gruppe und die Freiheit der Gruppe eine Gefahr für die Gemeinschaft dar. Denn Freiheit ist ein tückisches Gebilde. Sie gibt dem einen und nimmt von dem anderen. Aus der Physik ist bekannt: Wer vorankommen will muss etwas zurücklassen. Das scheint auch für die Freiheit zu gelten: Wer sich viel Freiheit nimmt, stürzt andere in Unfreiheit.

Sonntag, 23. Oktober 2022

Selfie-Kultur

Eine enggedrängte Menschenmenge reckt die Arme empor und schießt Selfies
Am Ende des Romans "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust gibt es eine erleuchtende Szene. Der Ich-Erzähler kommt nach längerer Abwesenheit zurück in den Pariser Salon und stellt fest, wie alt all seine Bekannten geworden sind. Dann blickt er zufällig in einen Spiegel und erkennt erstaunt sein eigenes Alter.

Eine Szene, die heute nicht mehr denkbar ist. Die Selfie-Kultur hat die Sichtweise auf uns selbst und unsere Welt radikal verändert. Unsere Wahrnehmung geschieht nicht mehr per Zoom, sondern in Slow Motion. Tausende von Fotos begleiten fast jedes Leben. Momente werden ständig aufgezeichnet und Erinnerungen am laufenden Band produziert. Die Banalität des Alltäglichen als mediale Inszenierung.

Einblick in private Momente

Dabei geht es hauptsächlich darum, das vorgestellte Selbstbildnis zu transportieren. Nicht, um den eigenen Erwartungen zu entsprechen, sondern den Erwartungen einer Community, die aus real Bekannten und anonymen Follower besteht. Waren es bei Proust noch leibhaftige Menschen, die sich eine lange Zeit in ihrer Lebensspanne begleitet haben, über deren Veränderung der Protagonist erschrak, ist es heute oft ein schneller Wechsel von kurzzeitigen Begegnungen. Das Interesse hat dementsprechend meist eine knappe Spanne.

Diese Selfie-Kultur verändert den Blick auf uns selbst ebenso, wie unseren Blick auf die Welt. Denn was sehen wir heute? Vor allem die Selbstdarstellung anderer Menschen. Zudem haben wir und geben wir viel mehr Einblick in private Momente als noch vor einigen Jahren. Wir öffnen die Fenster und lassen unsere Nachbar zuschauen, wie wir leben. Gleichzeitig blicken wir auch ihnen permanent über die Schulter.

Was bewirkt das in uns? Vor allem zeigt es uns, was andere machen und haben. Die intimen Einblicke animieren uns, auch so leben zu wollen. Wir schauen uns ab, wie andere leben und konsumieren, was sie konsumieren.

Neu ist der alltägliche Blick auf uns

Interessanterweise schärfen die engen medialen Beziehungen zu anderen Menschen nicht unsere Wahrnehmung in Bezug auf Leid und Elend. Die Nutzer sozialer Netzwerke engagieren sich nicht überdurchschnittlich für Randgruppen der Gesellschaft. Sie sind anscheinend mehr am Vergleich mit ihrer Peer Group und Bessergestellten interessiert. 

Die Selfie-Kultur führt zum Voyeurismus Gleichartiger. Es gibt keine anderen Informationen als: "Seht her, das bin ich, das macht mich aus, das kann ich mir leisten, macht es mir nach!" Sie ist eine Kultur des Erlebens aus zweiter Hand, des Mitlebens und des Konsums. Das Teilen von Augenblicken gibt ihnen einen Wert, der nur empfunden wird, weil andere ihm durch Kommentare und weitere Ausdrücke des Wohlgefallens diesen Wert zumessen.

Diese zwei Fragen stellen sich: Verlieren wir selbst den Maßstab für den Wert unseres Lebens? Bemisst sich das Sein zunehmend nach der Anzahl von Follower und Kommentaren, also nach der Wahrnehmung in der digitalen Welt?

Auf den ersten Blick macht es keinen Unterschied, ob wir Anzug oder Kleid kaufen, um auf einer Veranstaltung gut auszusehen oder uns vor der Kamera inszenieren. Doch das täuscht. Neu ist der alltägliche Blick - von uns selbst und von anderen. Wir haben kaum noch unbeobachtete Momente. Die unheimliche Dimension der Selfie-Kultur ist der Zwang zur Mitteilung, um das Gefühl eines wertvollen Lebens in den Augen anderer zu haben. Sie entzieht uns die Auseinandersetzung mit uns selbst im Alleinsein. Damit erliegen wir mehr und mehr der Kontrolle der Masse.

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