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Dienstag, 3. Januar 2023

Die modernen Medien verändern den Wertekanon der menschlichen Gesellschaft

 
Ein Fußgänger geht an einem großen Gebäude entlang, aber darf er links oder rechts gehen, welche Werte gelten gerade
Werte werden ständig neu verhandelt

Grundsätzlich sind Werte weder gut noch böse. Sie sind neutral. „Du sollst nicht töten“ ist tatsächlich kein wertvollerer Wert als: „Du sollst jeden Menschen töten, der dir begegnet“. Erst ist die Ausrichtung einer Gruppe oder Gesellschaft lädt Werte mit Wert auf. In vielen Wohlstandsgesellschaften ist beispielsweise der Leistungsgedanke ein hoher Wert. Wer hart und erfolgreich arbeitet, ist meist gut angesehen. Passend dazu stellt auch Geld einen hohen Wert dar, dessen Erwerb alles untergeordnet wird. Oft sogar die eigene Gesundheit. Der von außen sichtbare Wohlstand ist der höchste Wert.

Andererseits werden Werte ständig neu verhandelt. In einer Gesellschaft, in der jeder Mensch über ausreichend Geld verfügt, wird vermutlich der Wert von Freizeit höher gewichtet. Gleiches gilt, wenn es nicht genug Arbeit für alle gibt. Wenn sehr viele Menschen alleine leben, wird der Wert von Familie sinken. Je mehr Menschen ein hohes Alter erreichen, desto wertvoller werden Gesundheits- und Pflegeleistungen. In einer Wissensgesellschaft genießt Bildung einen hohen Wert.

Werte altern und sterben

Andere Werte wie Glaubwürdigkeit und Vertrauen werden ständig untergraben, solange es einer Gesellschaft hauptsächlich um den wirtschaftlichen Aspekt geht. „Krumme Geschäfte“ auf allen Ebenen führen den Menschen tagtäglich die Absurdität eines Staatswesens vor Augen. Schlimmer noch: Es macht sie zu Komplizen, die mehr und mehr auf die ursprünglichen Werte einer Gesellschaft pfeifen. Denn sie werden von Politik und Wirtschaft durch Werbung und Öffentlichkeitsarbeit belogen. So beginnen auch sie zu lügen und zu betrügen, weil sie der Gesellschaft, in der sie leben, keinen großen Wert beimessen.

Es scheint sogar, dass ein Staatswesen mit zunehmendem Alter an Wert verliert, wenn es nicht grundlegend erneuert wird. Seine Strukturen verkrustet, seine Regeln verwirren und es ist nur noch eine leere Hülle, die einer ausufernden Bürokratie als Rechtfertigung ihrer Existenz dient. Mit ihr verblassen seine einst strahlenden und alles verbindenden Werte. Das ist eine überraschende Erkenntnis: Werte altern und sterben. Wieso auch nicht? Sie haben einen Lebenszyklus von ihrem Entstehen bis zum Vergehen. Denn sie sind von Menschen gemacht und unterliegen damit dem menschlichen Werden. Oft über Generationen. Manchmal werden sie sogar neu belebt. Einige sind universell und passen in jedes Zeitalter, auch wenn sie gelegentlich andere Namen bekommen. Gehorsam ist ein solcher Wert. Heute sagt man eher, du musst dich anpassen oder deinen Teil zum Team beitragen. Doch gemeint ist Gehorsam, nur ist das Wort nicht mehr opportun.

Andere Werte werden bei Bedarf hervorgeholt, wie Vaterlandsliebe für das Opfer des eigenen Lebens in Kriegszeiten und das Ehrenwort für die eigene Glaubwürdigkeit, dass aber durch Missbrauch ziemlich in Verruf geraten ist.

Die Macht, Werte zu setzen

Es gibt also Werte für jeden Bedarf. Sie dienen dazu, Menschen zu bestimmten wünschenswerten Verhaltensweisen zu veranlassen. Wer die Macht hat, Werte zu setzen, kann die Menschen in seinem Sinne manipulieren. Doch wer hat die Macht dazu?

Die erste Erfahrung eines jeden Menschen mit dieser Macht geschieht in der Familie. Denn Eltern haben die Macht, ihre Kinder zu einem Benehmen zu erziehen, dass ihnen geboten erscheint oder mit anderen Worten: dass ihre Werte umsetzt. Meistens lauten sie: höflich, strebsam, fleißig, folgsam und ähnliche Adjektive. Doch in der Familie geschieht auch etwas anderes. Die Kinder lernen, wie subjektiv Werte ausgelegt werden, dass es darauf ankommt, wer die Werte einfordert und wer sie leben soll. Eltern sind nicht unbedingt das beste Vorbild. Ehrlichkeit? Wenn da nur die Geschichte mit dem Weihnachtsmann wäre. Doch dass sich alle in der Familie lieb haben, stimmt leider auch nicht. Was sind das für komische Anrufe, die Mama immer erhält und von denen Papa nichts wissen darf? Warum kommt Papa aus der Firma kaputt und verärgert nach Hause, wenn doch Feiß und Strebsamkeit zum Erfolg führen, der angeblich so viel Spaß bringt? Die Ungereimtheiten sähen schon früh Zweifel.

Ein Entkommen gibt es nicht. Kindergarten, Schule: alle Institutionen setzen Werte und wachen über ihre Einhaltung. Sie sind unentrinnbar, weil alle Beschäftigten selbst an diese Werte glauben und nach ihnen leben, auch wenn sie ihnen nicht immer gerecht werden. Sie verinnerlichen sie als Orientierungspunkte und Halt, damit sie wissen, wonach sie streben und wogegen sie verstoßen.

Die Kinder werden hineingeworfen in diese Welt der Werte mit ihrer Strenge, ihren Ausnahmen und all dem schlechten Gewissen, wenn den Werten nicht genügt wird. 

Ausnahmen haben ihren eigenen Wertekanon. Welche Ausnahmen sind wie und weshalb erlaubt? Wer darf sich wann darauf berufen und wer nicht? Es ist alles furchtbar kompliziert. Und warum? Man könnte es als eine Art Eingangstest bezeichnen. Nur wer in einer Gesellschaft zu Hause ist, versteht die Unterscheidungen und Feinheiten. So schaffen Werte ein Gefühl der Zugehörigkeit und geben andererseits unmissverständlich zu verstehen, bis zu welchem Punkt eine Gesellschaft bereit ist, Fremde und Außenseiter zu tolerieren.

Werte erfinden sich neu

Doch die Ausnahmen haben auch eine negative Wirkung, denn wo überhaupt Ausnahmen möglich sind, da wird es Menschen geben, die zu ihrem Nutzen oder dem ihrer Gruppe nach weiteren Ausnahmen suchen – und sie entweder finden oder selbst kreieren. Das setzt eine Spirale in Gang, die zwischen Werten und Ausnahmen einen unbeschreiblichen Wust an Regeln produziert, der in letzter Konsequenz alle Werte ad absurdum führt. Ein Sieg der Bürokratie und ihres obersten Wertes: der Intransparenz, um die Verwaltung dauerhaft wachsen zu lassen.

In diesem Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung werden Werte frenetisch beschworen, an die sich nur noch Bürger halten, denen es ein Anliegen ist, treu dem Staat zu dienen. Alle anderen machen die Ausnahmen von den Werten zur Regel und nutzen die Inkompetenz, die durch die Intransparenz der Bürokratie entsteht, zu ihrem Vorteil.

Dabei zeigt sich eine neue, überraschende Eigenschaft von Werten: Sie passen sich nicht nur den Umständen an, sondern erfinden sich neu.

Wie bereits erwähnt, gibt es keine Person, keine Gruppierung, kein Volk ohne Werte. Deshalb ist es ohne Belang, wie sich eine Gesellschaft entwickelt. Auf jeden Fall wird sie über Werte verfügen. Selbst in den online Welten des Internets wird über Werte im digitalen Zeitalter diskutiert und es gibt an vielen virtuellen Orten so genannte Nettiketten, also Benimmregeln für das Verhalten im Cyberspace. Die Menschen beginnen ganz von selbst, nach Werten zu suchen. Ob sie auch eingehalten werden, steht letztendlich auf einem anderen Blatt.

Die sozialen Medien haben den Wertekanon der menschlichen Gesellschaft sowieso nachhaltig verändert. Telefonate sind beispielsweise nicht länger privat. Sie werden in der Öffentlichkeit geführt. Unter anderem laut und deutlich in der Bahn und alle hören zwangsläufig mit, welche Tabletten die Freundin nimmt. Selbst Wohnungen sind nicht mehr geschützt, weil Gäste Fotos vom Essen machen und posten. Es ist inzwischen wichtiger, Follower zu informieren, als persönlich zusammen zu sein. Hinzu kommen Hasskommentare, Cybermobbing und ähnliche Erscheinungsformen der modernen Kommunikationswelt.

Sonntag, 23. Oktober 2022

Selfie-Kultur

Eine enggedrängte Menschenmenge reckt die Arme empor und schießt Selfies
Am Ende des Romans "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust gibt es eine erleuchtende Szene. Der Ich-Erzähler kommt nach längerer Abwesenheit zurück in den Pariser Salon und stellt fest, wie alt all seine Bekannten geworden sind. Dann blickt er zufällig in einen Spiegel und erkennt erstaunt sein eigenes Alter.

Eine Szene, die heute nicht mehr denkbar ist. Die Selfie-Kultur hat die Sichtweise auf uns selbst und unsere Welt radikal verändert. Unsere Wahrnehmung geschieht nicht mehr per Zoom, sondern in Slow Motion. Tausende von Fotos begleiten fast jedes Leben. Momente werden ständig aufgezeichnet und Erinnerungen am laufenden Band produziert. Die Banalität des Alltäglichen als mediale Inszenierung.

Einblick in private Momente

Dabei geht es hauptsächlich darum, das vorgestellte Selbstbildnis zu transportieren. Nicht, um den eigenen Erwartungen zu entsprechen, sondern den Erwartungen einer Community, die aus real Bekannten und anonymen Follower besteht. Waren es bei Proust noch leibhaftige Menschen, die sich eine lange Zeit in ihrer Lebensspanne begleitet haben, über deren Veränderung der Protagonist erschrak, ist es heute oft ein schneller Wechsel von kurzzeitigen Begegnungen. Das Interesse hat dementsprechend meist eine knappe Spanne.

Diese Selfie-Kultur verändert den Blick auf uns selbst ebenso, wie unseren Blick auf die Welt. Denn was sehen wir heute? Vor allem die Selbstdarstellung anderer Menschen. Zudem haben wir und geben wir viel mehr Einblick in private Momente als noch vor einigen Jahren. Wir öffnen die Fenster und lassen unsere Nachbar zuschauen, wie wir leben. Gleichzeitig blicken wir auch ihnen permanent über die Schulter.

Was bewirkt das in uns? Vor allem zeigt es uns, was andere machen und haben. Die intimen Einblicke animieren uns, auch so leben zu wollen. Wir schauen uns ab, wie andere leben und konsumieren, was sie konsumieren.

Neu ist der alltägliche Blick auf uns

Interessanterweise schärfen die engen medialen Beziehungen zu anderen Menschen nicht unsere Wahrnehmung in Bezug auf Leid und Elend. Die Nutzer sozialer Netzwerke engagieren sich nicht überdurchschnittlich für Randgruppen der Gesellschaft. Sie sind anscheinend mehr am Vergleich mit ihrer Peer Group und Bessergestellten interessiert. 

Die Selfie-Kultur führt zum Voyeurismus Gleichartiger. Es gibt keine anderen Informationen als: "Seht her, das bin ich, das macht mich aus, das kann ich mir leisten, macht es mir nach!" Sie ist eine Kultur des Erlebens aus zweiter Hand, des Mitlebens und des Konsums. Das Teilen von Augenblicken gibt ihnen einen Wert, der nur empfunden wird, weil andere ihm durch Kommentare und weitere Ausdrücke des Wohlgefallens diesen Wert zumessen.

Diese zwei Fragen stellen sich: Verlieren wir selbst den Maßstab für den Wert unseres Lebens? Bemisst sich das Sein zunehmend nach der Anzahl von Follower und Kommentaren, also nach der Wahrnehmung in der digitalen Welt?

Auf den ersten Blick macht es keinen Unterschied, ob wir Anzug oder Kleid kaufen, um auf einer Veranstaltung gut auszusehen oder uns vor der Kamera inszenieren. Doch das täuscht. Neu ist der alltägliche Blick - von uns selbst und von anderen. Wir haben kaum noch unbeobachtete Momente. Die unheimliche Dimension der Selfie-Kultur ist der Zwang zur Mitteilung, um das Gefühl eines wertvollen Lebens in den Augen anderer zu haben. Sie entzieht uns die Auseinandersetzung mit uns selbst im Alleinsein. Damit erliegen wir mehr und mehr der Kontrolle der Masse.

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