Samstag, 13. Mai 2023

Die Macht der Bürokratie

Die Bürokratie erschafft gleichförmige Menschen, weil sie komformistisch und damit leicht zu manipulieren sind
Was genau heißt das? Das Spiel wird fortwährend manipuliert. Denn zum einen tritt der Staat als Schiedsrichter auf, in anderen Fällen aber auch als Mitspieler. Je diktatorischer sich ein Staat dabei verhält, desto mehr greift er in das Leben einzelner ein.

Die Macht der Bürokratie

Doch der eigentliche Spieler unter dem Begriff „Staat“ ist die Bürokratie. Sie besteht gleichförmig, während Regierungen wechseln. Staat, die praktisch nur von Bürokratie gelenkt werden, verfügen dadurch einerseits über große Kontinuität, erstarren aber in ihren Strukturen und sind nur eingeschränkt zu Erneuerung in der Lage.

Hannah Arendt nannte die Bürokratie ein „Nichts und Niemand“, weil sie ein gesichtsloses Räderwerk ist. Sie funktioniert durch Regeln, die sie sich weitgehend selbst gibt. Zwar in einem gesetzlichen Rahmen, vor allem aber durch praktischen Gebrauch.

Bürokratie durchdringt jede Gesellschaft und jeder einzelne Mensch hat mit ihr zu tun. Jede kleinste Einrichtung und Unternehmung muss einen Teil ihrer Zeit auf Verwaltung verwenden. Darin liegt die Macht der Bürokratie. Von der Anmeldung nach der Geburt bis zur Abmeldung nach dem Tod bestimmt sie einen gewissen Teil des Lebens. Es gibt kein Entrinnen. Sie erfasst nicht nur die Menschen, sondern fordert auch bestimmtes Verhalten ein. Die Bürokratie verlangt Nachweise, Qualifikationen und Berechtigungen, damit Menschen überhaupt an der Gesellschaft teilhaben dürfen. Einen Schulabschluss zum Beispiel und einen Personalausweis. Alles für sich genommen, nachvollziehbar und durchaus sinnvoll. Doch in der Summe ist der übergeordnete Sinn der Bürokratie, die Menschen zu beschäftigen und damit nicht zu sich selbst kommen zu lassen. 

Ähnlich der Kulturindustrie schafft die Bürokratie keinen Raum, sondern engt den gesellschaftlichen Raum ein. Doch wo die Kulturindustrie als Verführerin auftritt, arbeitet die Bürokratie mittels Zwang. Ihre Werte werden zu Regeln, die jeder zu befolgen hat. Nichteingliederung in diesen Regelapparat ist mit Sanktionen belegt. Bußgelder, Strafzahlungen und sogar Haft. Sich der Bürokratie entgegenzustellen wird strenger geahndet, als einen Mord zu begehen. Das allein zeigt, wer über die Gesellschaft herrscht. Regierungen und Machthaber sind nur Symbole, an denen die Menschen ihren Unmut über manche Entscheidungen abarbeiten und die Medien Hintergründe analysieren können. Doch das eigentliche Zentrum der Macht erreichen sie damit nicht. Es liegt - wie schon Franz Kafka in seinem „Der Prozeß“ beschrieben hat - in einem unfassbaren Niemandsland, von dem keiner je erfährt, weil es nicht real ist.

Um einen Eindruck von der weltweiten Präsenz der Bürokratie zu erhalten, genügt eine einzige Zahl: 2,99 Millionen Menschen arbeiten allein für das indische Verteidigungsministerium, das damit zum größten Arbeitgeber überhaupt avanciert. Eine Verwaltungseinheit. Die Macht der Bürokratie könnte kaum umfassender sein.

Werte sind für Menschen verbale Waffen

Dabei die Bürokratie nur ein Synonym. Es steht für das Eigenleben einer Gesellschaft, die sich selbst organisiert, ohne dass es dazu eines einzelnen Machtzentrums bedürfte. Werte und Regeln überziehen Gesellschaften dermaßen engmaschig, dass sie die Menschen, ähnlich wie ein Korsett den von ihm umschlossenen Körper zusammenpresst, in eine Ordnung zwingen. Dabei sind es die Bürger selbst, die dieses Gebilde erschaffen, um sich ihm auszuliefern. 

Wie funktioniert das? Es beginnt harmlos wie zum Beispiel bei einer Gruppe neuer Nachbarn, die zufällig zum selben Zeitpunkt auf einer Fläche ihre Häuser bauen. Zunächst helfen sie sich gegenseitig, ziehen keine Zäune und laden sich gegenseitig zum Essen ein. Dann bittet irgendwann einer, ihn doch nicht in seiner Mittagsruhe zu stören. Das führt dazu, dass Kinder leise sein müssen und kein Rasen gemäht werden darf, woraufhin ein anderer verkündet, es sollen doch bitte laute Gartenpartys vermieden werden. Dieses Ansinnen führt zu Unmut und die gegenseitigen Hilfeleistungen nehmen ab. Schließich zieht der erste doch einen Zaun um sein Grundstück, was nach und nach eine große Zaun Bauaktion in der Siedlung auslöst. Nach einigen Jahren trauen sich die Kinder nicht mehr den Ball zurückzuholen, der ihnen auf das Nachbargrundstück gefallen ist, denn sie wissen genau, der grantige Mann lauert schon hinter dem Vorhang seines Fensters. Nicht mehr Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit bestimmen das Leben in der Siedlung, sondern Regeln, die den anderen gegenüber durchgesetzt werden. Werte werden zur Abgrenzung genutzt und dazu, Mitmenschen Schwierigkeiten zu bereiten. Nicht unbedingt aus Boshaftigkeit, sondern weil sehr viele Menschen eine Orientierung benötigen, die ihnen Freiheit nicht geben kann. So übernehmen Werte und Regeln die Herrschaft, über die Menschen, die sie selbst aufstellen, wie den Zaun an ihrem Grundstück, um sich zu schützen und dabei nicht bemerken, dass sie sich selbst einengen. Der stützende Halt ist ihnen wichtiger, als der weite Raum, der sie eher ängstigt.

Einmal installiert, sind Werte und Regeln nicht mehr zu stoppen. Besonders aus einem Grund: Es ist einfacher, sich auf sie zu berufen und jede Diskussion mit ihnen im Keim zu ersticken. Ihre Macht besteht darin, dass sie für Menschen verbale Waffen sind, die sie gegeneinander richten können.

Werte werden auch über äußere Merkmale vermittelt

Sollten Werte nicht etwas gutes sein? Wie schon beschrieben, sind sie neutral. Es sind die Menschen, die sie in Kategorien einteilen. Und nicht nur das: Sie benutzen Werte und Regeln auch für ihre Ziele. Beispielsweise lassen sich Menschen mit bestimmten Werten, wie Nationalstolz, Ehr- und Pflichtgefühl leichter manipulieren. Doch daraus folgt direkt: Des Einen Heldentat ist des Anderen Tod.

Manche Werte werden durch Symbole versinnbildlicht. Uniformen sind ein solches Symbol. Wer sie trägt, vertritt bestimmte Werte. Wer sie freiwillig trägt, vertritt diese Werte sicher auch außerhalb irgendeines Dienstes. Uniformen binden das Individuum enger an die Gesellschaft, für die spezifische Uniformen stehen. Das Individuum fühlte sich zugehörig, passt sich an und verändert sich. Nicht von ungefähr werden Angehörige bestimmter Berufsgruppen durch ihren Sprachgebrauch und ihr Verhalten als solche erkannt. So gesehen gibt es auch eine Uniformierung in Gruppen, für die es keine offizielle Uniform gibt. Ihre Mitglieder uniformieren sich bewusst oder unbewusst durch Anpassung. Es wird von der Gruppe vielleicht nicht unbedingt erwartet, sondern erfolgt durch Umgang und dem Wunsch nach Anerkennung.

Werte werden also auch über äußere Merkmale vermittelt. Dadurch sind sie in gewissem Rahmen auch optisch erlebbar: Ähnlich Plakaten und anderen visuelle Mittler. In diesem Sinn spiegeln auch Umzüge manche regionalen Werte, wie Bergmannstradition, Schützengemeinschaft und historisches Brauchtum.

Sonntag, 30. April 2023

Der Prozess der Anpassung wird durch die Gesellschaft ermittelt

Heftige Demonstrationen werden durch Veränderungen ausgelöst, die angepassten Menschen Angst bereiten
Jeder einzelne Mensch wird von den Werten einer Gesellschaft eingefangen. Sei er noch so anders in seinem Denken und Handeln. Die Notwendigkeiten des Lebens sind dabei die Nabelschnur, die das Individuum immer und zu jeder Zeit mit der Gesellschaft verbindet. Ganz gleich, wie sehr ein Mensch rebelliert – diese Nabelschnur darf er nicht zerreißen, ohne augenblicklich zu Grunde zu gehen. Selbst Rebellion kann deshalb nur in den Grenzen von Werten ablaufen, die von einer Masse akzeptiert werden und die menschliche Gesellschaft nicht grundsätzlich infrage stellen. Die Menschheit ist nicht zu neuen Formen des Zusammenlebens in der Lage, weil sie in die Notwendigkeit ihres eigenen Lebens verhaftet ist. Jede gesellschaftliche Utopie ist nur eine scheinbar neue Lebensweise.

Menschen synchronisieren Werte

Ein besonderer Wesenszug der Spezies Mensch ist die Anpassung. Vielleicht ist sie sogar ein eigener Wert. Seine Flexibilität, sich allen möglichen Situationen anzupassen, macht den Menschen so erfolgreich. Wir haben nie aufgehört uns anzupassen und werden es wohl auch niemals tun. Aber was genau ist diese Anpassung? Was geschieht, wenn wir unseren stärksten Trumpf ausspielen?

Technisch gesehen synchronisieren wir Werte. Wer sich anpasst, übernimmt Werte. Zugleich gibt er einen Teil seiner eigenen Werte auf. Wird ein Mensch zum Beispiel Soldat oder Polizist, muss er damit einverstanden sein, dass der Wert „Du sollst nicht töten“ nicht mehr uneingeschränkt für ihn gilt. Vielmehr lebt er fort an nach dem Wert: „Du darfst töten, wenn Staat und Gesellschaft es Dir erlauben“. Eine Anpassung an den Beruf und die Möglichkeit, die Werte von Staat und Gesellschaft wenn nötig mit Gewalt durchzusetzen. Wer dazu bereit ist, muss ich sehr mit diesen Werten verbunden fühlen.

Die Anpassung der Menschen ist das Fundament einer Gesellschaft. Es ist eine Symbiose zwischen ihr und den einzelnen Menschen. Für die Unterordnung gibt sie Sicherheit und Möglichkeiten der Entfaltung im Rahmen ihrer Werte. Natürlich nicht darüber hinaus. Wie sollte das auch gehen?

Lohn ist Anerkennung

Interessanterweise funktioniert die Anpassung auch bei den nicht Angepassten. Irgendwann jedenfalls. Sobald sie etwas zu verlieren haben. Wenn sich also ihre nicht Anpassung auszuzahlen beginnt. Dann ist die Anpassung Ein Vorteil für die nicht angepassten. Ein Ausgleich für die Langeweile.

Es sind vorwiegend die nicht Angepassten, die neue Werte aus dem kollektiven Strom picken und der Gesellschaft auf diese Weise eine Chance auf Entwicklung geben. Doch sobald sie ihre Aufgabe in Kunst, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik erledigt haben, werden sie von der Masse geschluckt und gliedern sich in das große Heer der Angepassten ein. Ihr Lohn ist Anerkennung, Geld und ewiger Ruhm. Doch die Gefahr, die von ihnen ausgeht, ist zu groß, als dass sie ein Leben lang Andersdenkende sein dürften. Entweder passen auch sie sich nach einer einiger Zeit an oder werden vernichtet. Die Gesellschaft verteidigt ihre Werte. Nur wenigen ist es erlaubt, sie zeitweise mit Füßen zu treten und so einen Prozess der Erneuerung oder Veränderung auszulösen. Diese wenigen wir sind zumeist keine besonders glücklichen Menschen.

Da die Masse sich anpasst, braucht sie diese unglücklichen Menschen, die für eine Vision oder Utopie kämpfen. Der eine oder andere von ihnen wird die Masse auf seinem Gebiet schließlich überzeugen und mitreißen. Doch selbst Individualisten sind letztlich angepasst im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung. Vielleicht nehmen sie sich ein wenig mehr Freiheit heraus. Die aber auch nur im gesellschaftlichen Umfeld existiert.

Der Staat darf jederzeit in das Betriebssystem eingreifen

Die Frage, ob die Menschen irgendwann in einer Zeit der besonderen gesellschaftlichen Anpassung leben oder sich aus der Notwendigkeit des Lebens überdurchschnittlich anpassen müssen, stellt sich nicht. Denn der Prozess der Anpassung, der Anpassungsgrund sozusagen, wird permanent durch die Gesellschaft ermittelt. Er ergibt sich aus dem Wohlstand einer Gesellschaft, der Bedrohung, die ihm von innen und außen droht und dem daraus abgeleiteten Potenzial an Freiheit, das jedem einzelnen zugestanden werden darf. Die größte Einengung erleben die Menschen im Krieg, denn sie haben rund um die Uhr im Sinne der Masse zu funktionieren. Ihre größte Freiheit genießen sie dagegen in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs und eines weltweiten Bemühens um Verständigung.

Freiheit oder erzwungene Anpassung gehen mit Erfolg und Misserfolg einer Gesellschaft einher. Fliehen Menschen aus einer Gesellschaft, wird sie Mauern errichten. Leisten sie Widerstand, wird sie ihre Bürger überwachen. Die Grenzen der Staatsgewalt verschieben sich je nach politischer und wirtschaftlicher Ausrichtung. Doch Grenzen gibt es in jeder Gesellschaft sowie auch erzwungene Anpassung. Werden Werte, die eine Gesellschaft ausmachen, nicht freiwillig eingehalten, wendet jeder Staat Gewalt an. Dabei greift er zu Mitteln, die seine eigenen Werte widerspiegeln: Einsatz von Provokateuren, Polizeigewalt, Aushebelung von Rechten. All das, um übergeordnete Werte zu schützen, die eine Gesellschaft willkürlich definiert. Manchmal geht es auch einfach nur um das Ansehen des Staates und seiner Repräsentanten auf der Weltbühne.

Damit öffnet sich eine neue Ebene von Werten: Sie sind der Repräsentanz einer Gesellschaft, dem Staat, zugeordnet und überstrahlen alle anderen Werte. Das Individuum muss zurückstehen und sogar die Masse verliert ihre Macht. Der Staat hat sozusagen Administratoren Gewalt und darf jederzeit in das Betriebssystem eingreifen. Das bedeutet, er verändert die Spielregeln.

Freitag, 10. März 2023

Die Menschen brechen gerne Regeln

 

Wie ein hübscher Vogel wachen die Werte über den Zusammenhalt einer Gesellschaft und ersticken jedes Aufbegehren
Deshalb wird es nicht vorkommen, dass zwei Schachspieler nur die Schönheit der Balance in der Anfangsstellung bewundern. Weiß wird immer den ersten Zug machen und Schwarz folgen, weil beide es als notwendig erachten, sich sich zu messen. Denn der Mensch ist es gewohnt, seine Umgebung für die Erhaltung seines Lebens zu bezwingen. Alle Werte leiten sich von dieser Notwendigkeit ab. Sie verändern sich erst mit dem Wandel der Arbeitsbedingungen, durch die der Mensch seinen Lebensunterhalt bestreitet.

Wert bemisst sich an Besitz

Ist das nicht bereits der Fall? Nun, die Menschen hetzen weiterhin umher, als seien sie täglich auf der Jagd. Dabei geht es für die meisten nicht mehr um die notwendigen Lebensgrundlagen. Die Grundbedürfnisse sind bei Ihnen durch relativ wenig Arbeit abgedeckt. Es kommt Ihnen vor allem auf die Erfüllung gesellschaftlicher und selbst definierten Werte an.

Die Werte einer modernen Gesellschaft entwickeln sich aus dem Überschuss ihrer wirtschaftlichen Produktion. Gerade, weil die notwendige Arbeitsleistung einen geringen Anteil ausmacht, kann ein Großteil der vergüteten Leistung auf neue Werte gerichtet werden. Diese neuen Werte sind entsprechend vorwiegend materieller Natur. Die Arbeit dient inzwischen dazu, sich alles kaufen zu können, nicht nur notwendige Produkte, sondern besonders begehrenswerte. Der gesellschaftliche Wert eines Menschen bemisst sich an seinem Besitz. Ansehen wird gekauft. Dadurch verschieben sich andere Werte um den Faktor Geld.

Geld wird zum Akkumulator für Werte. Sie werden noch immer aus dem kollektiven Strom entnommen. Doch die Masse blickt anders in den Strom. Es ist der Blick des Geldes. In dem Moment, in dem die Masse wohlhabend ist, verändert sich ihr Fokus. Damit setzt sie die Mechanismen des Wandels in Gang. Denn es ist immer die Masse, durch die sich die Welt verändert.

Werte sind also für die Masse. Sie muss sie akzeptieren. Ihr gefallen offensichtlich leicht verständliche Vorzeigewerte. Deshalb funktionieren zum Beispiel die zehn Gebote. Die Masse braucht einen Rahmen, aus dem heraus sie auf andere mit dem Finger zeigen kann.

Werte polarisieren

Menschen haben im Umgang mit Werten zwei Gesichter: das freundliche, umgängliche, das sich bemüht, Werte zu befolgen und Ihnen gerecht zu werden sowie das düstere, hämische, das sich erfreut, andere daran scheitern zu sehen und es ihnen vorzuwerfen. Werte werden dementsprechend gelebt und benutzt. Vor allem aber dienen sie dazu, die Masse zu beruhigen. Sie geben ihr eine Aufgabe: Werte zu befolgen und all diejenigen zu verachten, die nicht in der Lage oder willens sind, sie zu befolgen. Dabei beneidet sie heimlich die Abtrünnigen, die es wagen, entgegen allen Anfeindungen einen eigenen Weg einzuschlagen.

Werte erfüllen eine wichtige gesellschaftliche Funktion – sie polarisieren. Damit lösen Sie Debatten und Diskussionen aus. Manche verpuffen schnell, andere entzünden einen Sturm. Diese Werte sind Ursache und Anlass von Entwicklungen und Umbrüchen.

Deshalb brechen die Menschen gerne Regeln. Weil sie damit ihre Werte auf die Probe stellen. Kommen Sie mit dem Regelbruch durch oder sind die Werte stärker? Im kleinen oder im großen: die Masse entscheidet auch hier.

Nicht von ungefähr begehrt in jeder Gesellschaft gerade die Jugend auf. Sie hat wenig gefestigt Werte und ist frei, zu experimentieren. Doch die Zeitspanne ist kurz dafür. Werte engen die jungen Menschen von Jahr zu Jahr mehr ein. Bald müssen sie für ihren notwendigen Lebensunterhalt sorgen und dann für den einer eigenen Familie. Der Wert, der am unbarmherzigsten zuschlägt, heißt Verantwortung. Die Verantwortung wird von anderen Werten flankiert: Leistungsbereitschaft, Verzicht, Härte gegen sich selbst. Verbrämt wird sie durch ergänzende Werte wie Nationalstolz, Liebe zur Familie und den eigenen Kindern, Stolz auf das Erreichte und Anerkennung von außen. Wer Verantwortung übernimmt, steht gut da – zumindest, wenn es gut läuft. Falls nicht, greifen andere Werte: sich dem Unvermeidlichen stellen, nicht aufgeben, einstecken können, weitermachen, neu anfangen, nicht klagen und so weiter.

Werte werden zu einer moralischen Instanz

Passend zu jeder Situation im Leben, gibt es mindestens einen brauchbaren Wert. Oft eingebettet in weise Sprüche. Der Mensch wird eingekreist von Werten, die ihn wie ein engmaschiges Sieb umhüllen und nur für opportunes Verhalten durchlässig sind.

Das führt immer wieder zu Protest. An den Werten wird gerüttelt. Die Menschen wollen ausbrechen. Manche schaffen es. Doch Werte sind tückisch. Wer einem von ihnen entflieht, wird von anderen eingefangen. Das funktioniert vor allem deshalb, weil Werte emotional verankert sind. Wer könnte sich entziehen, wenn Menschen in Not geraten oder an nationales Gefühl appelliert wird? Die Frage: „Liebst du mich denn gar nicht?“ mit „Nein!“ zu beantworten, fällt den meisten schwer.

Emotional aufgeladene Werte werden zu einer moralischen Instanz. Sie werden benutzt, Menschen zu Handlungen zu bewegen. Beispielsweise regelmäßig zur Arbeit zu gehen. Allein mit Geldzahlungen und Androhung von Kündigung bei Faulheit funktioniert die Arbeitswelt nicht. Es kommt noch ein übergeordnetes Prinzip hinzu. Die Idee des gesellschaftlichen Wertes und der Freude an der Arbeit. Erst die Gewissheit, von Nutzen zu sein, stellt die Menschen zufrieden und veranlasst sie zu regelmäßig wiederkehrenden Leistungen. Natürlich müssen die Werte geglaubt werden. Doch dafür sorgen die Werte mit ihrem verschachtelten Wesen selbst, indem sie den Menschen das Gefühl geben, es lohne sich, die Werte der Gesellschaft zu befolgen.

Jeder Mensch wird in Werte hineingeboren

Das funktioniert mit einem bizarren Trick: Die Menschen belügen sich selbst um ihren Erfolg und ihr Wohlbehagen in ihrem Leben. Es ist ein gesellschaftliches Ritual, dass ihnen abverlangt, einen guten Platz für sich im Getriebe der Welt zu finden. Keiner wird zugeben, wie hoch der Preis dafür ist. Nur Außenseiter denken laut darüber nach – und werden dafür verlacht. Zumal auch sie nicht darum herumkommen, sich irgendwelchen Werten zu beugen. Das ist der Handel: „Siehst du, auch du hältst dich an Regeln!“ heißt es lapidar. Es stimmt: Flucht vor Regeln ist nicht möglich. Sie sind überall. Schon weil der menschliche Körper nach Regeln funktioniert und die Welt ihre Naturgesetze hat. Jeder Mensch wird in Werte hineingeboren. Nur welche es genau sind, ist eine Laune des Zufalls.

Das Problem ist auch nicht, dass es überhaupt Werte gibt. Vielmehr besteht das Problem darin, dass nicht alle Werte zu jedem Menschen passen und wir trotzdem nicht vor ihnen fliehen können. Wir müssen essen, uns kleiden, wohnen und schlafen. Doch schon dafür gibt es in jeder menschlichen Gesellschaft Regeln und Werte. Der absolute Wert lautet überall: Wer für die Gesellschaft nichts leistet, ist auch nichts wert. Wobei die Gesellschaft selbst entscheidet, was Leistung für sie bedeutet.