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Sonntag, 19. November 2023

Die Herrschaft des Verwaltungsstabes

Im Verwaltungsapparat dient der einzelne Menschn als Zahnrad im Getriebe des Systems, das die Demokratie unterläuft.
Es sind Abwehrmechanismen gegen Eindringlinge, die in eine ihnen fremde und nicht zugestandene Gruppe streben, denen sich die Mitglieder dieser aus ihrer Sicht in Gefahr befindlichen Gruppe bedienen. Vorurteile und Beschuldigungen machen Stimmung gegen alles Fremde und schließen die eigenen Reihen fester zusammen. Die Menschen sehen sich als Bewahrer ihrer Werte und Kultur, die plötzlich wichtiger werden, als sie über lange Zeit waren. „Wer unsere Werte nicht einhält und unsere Kultur nicht lebt, gehört nicht zu uns“, sagen sie und verschanzen sich hinter Regeln, die ihnen nur vor kurzem lästig waren. Nun gelten sie als Zugehörigkeitsnachweis, mit dem die Menschen Besitz schützen und Bestand wahren. 

Der Bürokrat funktioniert im Sinnes des Systems

An diesem Punkt kommt die Bürokratie wieder ins Spiel. Sie ist die Instanz, mit der größten Kontinuität innerhalb einer Gesellschaft. Wahlen gehen spurlos an ihr vorüber und Umbrüche prallen meist an ihr ab. Selbst nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes blieb die Bürokratie weitgehend intakt. Jede Herrschaft äußert sich als Verwaltungsapparat. Schon der deutsche Soziologe Max Weber sah die Keimzelle des Staates in der Bürokratie, auf die der moderne Großstaat „technisch schlechthin angewiesen ist“. Sie überführe Gemeinschaftshandeln in rational geordnetes Gesellschaftshandeln. Dabei erkennt Weber bereits die Gefahr ihrer Verselbständigung zum „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“. Er warnte explizit vor der „Herrschaft des Verwaltungsstabes“, sah aber in der Bürokratie dennoch die einzige Form, langfristig Überleben sicherzustellen. Die gnadenlose Effizienz von Bürokratie erlebte Max Weber, der im Juni 1920 starb, nicht mehr. Es blieb der Philosophin Hannah Arendt vorbehalten, darin die „Banalität des Bösen“ zu erkennen. Mit Adolf Eichmann beobachtete sie einen exemplarischen Vertreter der Bürokratie während seines Prozesses 1961 in Jerusalem, der sich darauf berief, mit der logistischen Durchführung von Judentransporten im Sinne des nationalsozialistischen Staates und der damals geltenden Gesetze nichts Unrechts getan zu haben. Nach Hannah Arendt war Eichmann ein ganz und gar durchschnittlicher Mensch, der seiner Aufgabe höchst gewissenhaft nachkam und sich über die Auswirkungen seines beruflichen Handelns keinerlei Gedanken machte, da er sich in Übereinstimmung mit Recht und Ordnung sah. Der Bürokrat hinterfragte nicht Staat und Gesellschaft, sondern funktionierte im Sinne des Systems. Schlimmer noch: Als Teil des Verwaltungsapparates ermöglichte er überhaupt erst - Hand in Hand mit tausenden anderen Bürokraten - einen funktionstüchtigen Staat. Dabei spielt es keine Rolle, wieviel Eigeninitiative Eichmann an den Tag legte, denn er arbeitete als Teil einer Maschinerie, die Kraft ihrer Existenz Ergebnisse produzierte. Sobald sich ein Mensch in vorgegebene Strukturen begibt und sich fest mit ihnen verbindet, verliert er seine Eigenständigkeit. Ihm bleibt nur die Wahl, sich zu arrangieren oder auszutreten. Wer vom System überzeugt ist, wird sich darin engagieren, kritischer eingestellte Mitarbeiter gehen vielleicht dazu über, Dienst nach Vorschrift zu leisten. Doch jeder trägt auf seine Weise zur Funktion sowie zum Erhalt und Ausbau der Maschinerie bei. Das „Böse“ eines Systems wird genährt von den kleinsten Zahnrädchen, die funktionierend ineinandergreifen. 

Natürlich stellt sich an dieser Stelle die Fragen: Weshalb das „Böse“ und nicht das „Gute“? 

Freitag, 30. Juni 2023

Alle zielen auf die Masse

Die Macht liegt nicht bei der Masse, sie steht der Masse vor
Als nächstes muss das Verhältnis zwischen Macht und Masse näher beleuchtet werden. Die Masse hat keine Macht. Sie verleiht auch nicht Macht. Aber Macht beruft sich auf Masse und dadurch fällt der Masse die Aufgabe zu, Macht zu legitimieren. Zum Beispiel mittels Wahlen. Die Entscheidung zwischen verschiedenen Parteien hält den Anschein von Demokratie aufrecht, auch wenn die eigentliche Macht längst bei Bürokratie, Lobbyisten und Marketingabteilungen liegt. Die Masse erhält die Möglichkeit als Masse zu wirken. Bei den Wahlergebnissen werden die individuellen Entscheidungen der Einzelnen – denen oft komplizierte, langwierige Überlegungen zugrunde liegen – auf massetaugliche Prozentzahlen reduziert, die wiederum in Sieg und Niederlage Einzelner aufgelöst werden. Doch geht nach einer Wahl wirklich Macht von einer Partei auf die andere über, von Person zu Person?

Die wirkliche Macht ist dezentral

Nein. Macht ist ein Kontinuum, bis sie vollkommen zusammenbricht und neu definiert werden muss. Sie wird von Generation zu Generation weitergegeben – in Familien, Unternehmen und Staaten. Präsidenten kommen und gehen, sie repräsentieren lediglich einen Abschnitt gewisser Machtlenkung. Die Macht selbst bleibt davon unberührt. Gesichert in den Strukturen von Organisationen gibt sie Oberhäuptern das Gefühl, sie in Händen zu halten. Doch dürfen die Anführer der Menschen Macht nur repräsentieren. 

Die wirkliche Macht ist dezentral. Sie verteilt sich auf Amtsstuben und Büros. Geleitet werden die Menschen, die dort Macht ausüben, von Werten, die von der Gesellschaft anerkannt sind oder sich gerade dort entwickeln. Da die Masse Werte setzt, lenkt sie in gewissem Sinn die Ausübung von Macht, ohne selbst ein Machtfaktor zu sein. Vielmehr ist sie ein Orientierungspunkt, der umso wichtiger wird, je mehr das „Denken“ der Masse durch Umfragen und ähnliche Analysen sichtbar gemacht werden kann. Es kommt in Politik, Wirtschaft und im Internet darauf an, mit den richtigen Keywords zu arbeiten, um die Masse zu erreichen. Auf diese Weise bestimmt sie die Agenda einer Gesellschaft.

Kräftemessen um Akzeptanz

Hierin findet sich auch der Grund, weshalb Bürokratie selbst radikalste Wertewandel fast augenblicklich vollziehen kann. Da ihre Angehörigen Teil der Masse sind, spürt sie Veränderungen bereits vor ihrer Verwirklichung und kann sich daher schon während der Entwicklungsphase auf sie einstellen. Das betrifft die Besetzung von Stellen genauso, wie Verwaltungsrichtlinien und die Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen. Die Bürokratie ist vorbereitet, wenn der Wertewandel Fuß fasst. Der öffentlichkeitswirksame Auftritt von Politikern ist nur noch Show.

Wertewandel bestimmt die Richtung, in die sich eine Gesellschaft bewegt. Oft vollzieht er sich schleichend, manchmal auch rasant. Immer bringt er Veränderungen für die Menschen mit sich. Deshalb löst er Ängste und Abwehr aus, die auf alternativen Werten basieren. Die Masse liefert sich ein Kräftemessen um Akzeptanz. Dadurch verschiebt sich die Balance einer Gesellschaft im politischen Spektrum. Wenn die Masse unzufrieden ist, werden Werte neu gewichtet. 

Über den Einzelnen die Vielen erreichen

Natürlich vollzieht sich diese Neugewichtung nicht als plötzliche Revolution, sondern als kontinuierlicher Prozess. Dabei wird die Masse fortwährend von gesellschaftlichen Kräften manipuliert. Medien, Werbung, Internetformate, Parteien (um nur einige zu nennen): Sie alle zielen auf die Masse. Es geht um Legitimation, Überzeugungen, Aufmerksamkeit, Umsatz und Loyalität. Vor allem Politik und Wirtschaft wollen sich für ihre Interessen der Masse versichern. Dabei wenden sie sich mit ihren Botschaften an den Einzelnen, um die Vielen zu erreichen. Ein Widerspruch?

Samstag, 13. Mai 2023

Die Macht der Bürokratie

Die Bürokratie erschafft gleichförmige Menschen, weil sie komformistisch und damit leicht zu manipulieren sind
Was genau heißt das? Das Spiel wird fortwährend manipuliert. Denn zum einen tritt der Staat als Schiedsrichter auf, in anderen Fällen aber auch als Mitspieler. Je diktatorischer sich ein Staat dabei verhält, desto mehr greift er in das Leben einzelner ein.

Die Macht der Bürokratie

Doch der eigentliche Spieler unter dem Begriff „Staat“ ist die Bürokratie. Sie besteht gleichförmig, während Regierungen wechseln. Staat, die praktisch nur von Bürokratie gelenkt werden, verfügen dadurch einerseits über große Kontinuität, erstarren aber in ihren Strukturen und sind nur eingeschränkt zu Erneuerung in der Lage.

Hannah Arendt nannte die Bürokratie ein „Nichts und Niemand“, weil sie ein gesichtsloses Räderwerk ist. Sie funktioniert durch Regeln, die sie sich weitgehend selbst gibt. Zwar in einem gesetzlichen Rahmen, vor allem aber durch praktischen Gebrauch.

Bürokratie durchdringt jede Gesellschaft und jeder einzelne Mensch hat mit ihr zu tun. Jede kleinste Einrichtung und Unternehmung muss einen Teil ihrer Zeit auf Verwaltung verwenden. Darin liegt die Macht der Bürokratie. Von der Anmeldung nach der Geburt bis zur Abmeldung nach dem Tod bestimmt sie einen gewissen Teil des Lebens. Es gibt kein Entrinnen. Sie erfasst nicht nur die Menschen, sondern fordert auch bestimmtes Verhalten ein. Die Bürokratie verlangt Nachweise, Qualifikationen und Berechtigungen, damit Menschen überhaupt an der Gesellschaft teilhaben dürfen. Einen Schulabschluss zum Beispiel und einen Personalausweis. Alles für sich genommen, nachvollziehbar und durchaus sinnvoll. Doch in der Summe ist der übergeordnete Sinn der Bürokratie, die Menschen zu beschäftigen und damit nicht zu sich selbst kommen zu lassen. 

Ähnlich der Kulturindustrie schafft die Bürokratie keinen Raum, sondern engt den gesellschaftlichen Raum ein. Doch wo die Kulturindustrie als Verführerin auftritt, arbeitet die Bürokratie mittels Zwang. Ihre Werte werden zu Regeln, die jeder zu befolgen hat. Nichteingliederung in diesen Regelapparat ist mit Sanktionen belegt. Bußgelder, Strafzahlungen und sogar Haft. Sich der Bürokratie entgegenzustellen wird strenger geahndet, als einen Mord zu begehen. Das allein zeigt, wer über die Gesellschaft herrscht. Regierungen und Machthaber sind nur Symbole, an denen die Menschen ihren Unmut über manche Entscheidungen abarbeiten und die Medien Hintergründe analysieren können. Doch das eigentliche Zentrum der Macht erreichen sie damit nicht. Es liegt - wie schon Franz Kafka in seinem „Der Prozeß“ beschrieben hat - in einem unfassbaren Niemandsland, von dem keiner je erfährt, weil es nicht real ist.

Um einen Eindruck von der weltweiten Präsenz der Bürokratie zu erhalten, genügt eine einzige Zahl: 2,99 Millionen Menschen arbeiten allein für das indische Verteidigungsministerium, das damit zum größten Arbeitgeber überhaupt avanciert. Eine Verwaltungseinheit. Die Macht der Bürokratie könnte kaum umfassender sein.

Werte sind für Menschen verbale Waffen

Dabei die Bürokratie nur ein Synonym. Es steht für das Eigenleben einer Gesellschaft, die sich selbst organisiert, ohne dass es dazu eines einzelnen Machtzentrums bedürfte. Werte und Regeln überziehen Gesellschaften dermaßen engmaschig, dass sie die Menschen, ähnlich wie ein Korsett den von ihm umschlossenen Körper zusammenpresst, in eine Ordnung zwingen. Dabei sind es die Bürger selbst, die dieses Gebilde erschaffen, um sich ihm auszuliefern. 

Wie funktioniert das? Es beginnt harmlos wie zum Beispiel bei einer Gruppe neuer Nachbarn, die zufällig zum selben Zeitpunkt auf einer Fläche ihre Häuser bauen. Zunächst helfen sie sich gegenseitig, ziehen keine Zäune und laden sich gegenseitig zum Essen ein. Dann bittet irgendwann einer, ihn doch nicht in seiner Mittagsruhe zu stören. Das führt dazu, dass Kinder leise sein müssen und kein Rasen gemäht werden darf, woraufhin ein anderer verkündet, es sollen doch bitte laute Gartenpartys vermieden werden. Dieses Ansinnen führt zu Unmut und die gegenseitigen Hilfeleistungen nehmen ab. Schließich zieht der erste doch einen Zaun um sein Grundstück, was nach und nach eine große Zaun Bauaktion in der Siedlung auslöst. Nach einigen Jahren trauen sich die Kinder nicht mehr den Ball zurückzuholen, der ihnen auf das Nachbargrundstück gefallen ist, denn sie wissen genau, der grantige Mann lauert schon hinter dem Vorhang seines Fensters. Nicht mehr Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit bestimmen das Leben in der Siedlung, sondern Regeln, die den anderen gegenüber durchgesetzt werden. Werte werden zur Abgrenzung genutzt und dazu, Mitmenschen Schwierigkeiten zu bereiten. Nicht unbedingt aus Boshaftigkeit, sondern weil sehr viele Menschen eine Orientierung benötigen, die ihnen Freiheit nicht geben kann. So übernehmen Werte und Regeln die Herrschaft, über die Menschen, die sie selbst aufstellen, wie den Zaun an ihrem Grundstück, um sich zu schützen und dabei nicht bemerken, dass sie sich selbst einengen. Der stützende Halt ist ihnen wichtiger, als der weite Raum, der sie eher ängstigt.

Einmal installiert, sind Werte und Regeln nicht mehr zu stoppen. Besonders aus einem Grund: Es ist einfacher, sich auf sie zu berufen und jede Diskussion mit ihnen im Keim zu ersticken. Ihre Macht besteht darin, dass sie für Menschen verbale Waffen sind, die sie gegeneinander richten können.

Werte werden auch über äußere Merkmale vermittelt

Sollten Werte nicht etwas gutes sein? Wie schon beschrieben, sind sie neutral. Es sind die Menschen, die sie in Kategorien einteilen. Und nicht nur das: Sie benutzen Werte und Regeln auch für ihre Ziele. Beispielsweise lassen sich Menschen mit bestimmten Werten, wie Nationalstolz, Ehr- und Pflichtgefühl leichter manipulieren. Doch daraus folgt direkt: Des Einen Heldentat ist des Anderen Tod.

Manche Werte werden durch Symbole versinnbildlicht. Uniformen sind ein solches Symbol. Wer sie trägt, vertritt bestimmte Werte. Wer sie freiwillig trägt, vertritt diese Werte sicher auch außerhalb irgendeines Dienstes. Uniformen binden das Individuum enger an die Gesellschaft, für die spezifische Uniformen stehen. Das Individuum fühlte sich zugehörig, passt sich an und verändert sich. Nicht von ungefähr werden Angehörige bestimmter Berufsgruppen durch ihren Sprachgebrauch und ihr Verhalten als solche erkannt. So gesehen gibt es auch eine Uniformierung in Gruppen, für die es keine offizielle Uniform gibt. Ihre Mitglieder uniformieren sich bewusst oder unbewusst durch Anpassung. Es wird von der Gruppe vielleicht nicht unbedingt erwartet, sondern erfolgt durch Umgang und dem Wunsch nach Anerkennung.

Werte werden also auch über äußere Merkmale vermittelt. Dadurch sind sie in gewissem Rahmen auch optisch erlebbar: Ähnlich Plakaten und anderen visuelle Mittler. In diesem Sinn spiegeln auch Umzüge manche regionalen Werte, wie Bergmannstradition, Schützengemeinschaft und historisches Brauchtum.

Samstag, 12. November 2022

Unser Leben im Kommunismus

Menschen mit roten Bannern und Transparenten marschieren demonstrierend eine Straße entlang
Mit dem Untergang der Sowjetunion hat der Kommunismus endgültig ausgedient. Die Utopie von Marx, Engels und Lenin hat gegen den Kapitalismus verloren. So wird behauptet. Aber leben wir nicht trotz aller Lobgesänge auf unsere soziale Marktwirtschaft in einem kommunistischem System - in gewisser Art und Weise jedenfalls?

Durchdringt eine kommunistischen Ordnung die Gesellschaft?

Gewöhnlich wird der Kommunismus als eine Wirtschaftsform und damit als der direkte Gegenspieler zum Kapitalismus behandelt. Doch wie ist er anzusehen, wenn man ihn als Gesellschaftsordnung versteht? Können dann nicht Kapitalismus und Kommunismus nebeneinander bestehen, sich sogar ergänzen?

Der Kommunismus soll wie ein Schmetterling sein, der sich über seine Larvenform des Sozialismus entwickelt. Deshalb wurde er auch noch nirgendwo verwirklicht. Allerdings scheint die Larve sehr lebendig. Ganz besonders in der kapitalistischen Welt frisst sie sich satt. Könnte das ihre eigentliche Aufgabe sein: Die Wirtschaftsform des Kapitalismus mit einer kommunistischen Gesellschaftsordnung zu flankieren?

Um das beantworten zu können, muss natürlich zuerst untersucht werden, wie eine kommunistische Gesellschaftsform funktioniert. Ihr hervorragendstes Merkmal ist der Anspruch aller Beteiligten auf den gleichen Anteil an gengemeinsam erzeugten Gütern. Das setzt die Zufriedenheit aller an dieser Form der Verteilung voraus. Dies wiederum bedingt eine Konformität der Gesellschaft.

Die Bürokratie macht die Menschen vergleichbar

Heute existieren die Menschen in einer Massengesellschaft, deren Charakteristikum das Zusammenleben vieler Menschen auf engem Raum ist. Dazu bedarf es einer Vielzahl von Regeln, die dazu bestimmt sind, die Menschen für die Masse gesellschaftsfähig zu machen. Spontanes Handeln und hervorragende Leistungen werden auf diese Weise zugunsten der großen Vielzahl durchschnittlicher Menschen unterdrückt. "In der Massengesellschaft hat das Gesellschaftliche nach einer jahrhundertelangen Entwicklung schließlich den Punkt erreicht, wo es jeweils alle Glieder einer Gemeinschaft gleichermaßen erfasst und mit gleicher Macht kontrolliert", schreibt Hannah Arendt in ihrem Buch "Vita active oder Vom tätigen Leben". Die Massengesellschaft sei das Stadium, in der es außerhalb der Gesellschaft stehende Gruppen schlechthin nicht mehr gebe. 

Karl Marx zog aus seinen Erkenntnissen den Schluss, "dass eine Vergesellschaftung des Menschen automatisch zu einer Harmonisierung der Interessen führen würde". Sein Vorschlag, die sowieso allen ökonomischen Ideen zugrundeliegende "kommunistische Fiktion" in der Wirklichkeit zu etablieren, war daher nur konsequent. Selbst wenn Adam Smith von der "unsichtbaren Hand" des Marktes spricht, beschreibt er damit, von ihm selbst unbemerkt, das kommunistische Prinzip.

Eine "unsichtbare Hand" regiert auch die Gesellschaft. Ein "Niemand", wie Hannah Arendt es nennt, der die Menschen reglementiert und seine Regeln erbarmungslos durchsetzt: Die Bürokratie. Sie etabliert soziales Verhalten als Maßstab für das gesamte Leben des Einzelnen. Und macht die Menschen vergleichbar - wenn nicht sogar gleich.

Planbares Verhalten

Diese Vergleichbarkeit ist Voraussetzung für den Erfolg der Wirtschaftswissenschaften. Denn ihre Methode ist vor allem die Statistik. Deren Grundbedingung ist aber die Auswertung einer Vielzahl von Daten, die einheitlich zu systematisieren sind. Als Konsequenz werden nach Hannah Arendt "alle Unstimmigkeiten als Abweichungen von einer in der Gesellschaft geltenden Norm und daher als asozial oder anormal verbucht". 

In der Massengesellschaft sind keine Individuen erwünscht, sondern Marktteilnehmer, die ein vorhersagbares Verhalten zeigen. Denn darauf basieren alle Annahmen und Berechnungen, baut jede Form von Prognose und Produktion auf, bis hin zu Logistik und Personalplanungen.

Das Instrument zur Anpassung der Menschen an die Marktbedingungen sind die Medien. Ein Heer von Journalisten und Redakteuren, Marketingexperten und Öffentlichkeitsarbeitern, Werbern und auch sogenannten Influencern arbeitet ununterbrochen an der Beeinflussung und damit dem Aufbau gleicher Denkmuster bei der Masse der Menschen. Das gelingt erstaunlich gut.

Nochmals Hannah Arendt: "So ist die Realität unter den Bedingungen einer gemeinsamen Welt nicht durch eine allen Menschen gemeinsame "Natur" garantiert, sondern ergibt sich vielmehr daraus, dass ungeachtet aller Unterschiede der Position und der daraus resultierenden Vielfalt der Aspekte es doch offenkundig ist, dass alle mit demselben Gegenstand befasst sind."

Ist nicht ein wichtiges Merkmal der kommunistischen Gesellschaftsordnung die Konformität der Gesellschaft? 

Die Menschen nicht zur Ruhe kommen lassen

Alles Denken wird beeinflusst von Meinungsumfragen, Posts und Kommentaren. Auch Keywords steuern die öffentliche Meinung. Das Verhalten der Bürger ist durch Arbeit, Konsum und Freizeitmöglichkeiten reglementiert. Bürokratie und Kulturindustrie leiten die Menschen Hand in Hand durch ihr Leben. Die anscheinend unüberschaubare Vielfalt der Angebote schrumpft bei näherer Betrachtung schnell zusammen. Meist werden nur dieselben Themen unendlich variiert. Eine Avantgarde wird in die gesellschaftliche Ordnung integriert, sobald sie genügend Aufmerksamkeit erregt. Wer sich nicht vereinnahmen lassen will, fällt der Vergessenheit anheim. 

Die Mitglieder der Gesellschaft hetzen von Aufgabe zu Aufgabe, von Termin zu Termin und kommen kaum dazu, Luft zu holen. Zwar erledigen sie alles offensichtlich freiwillig, aber die große Kunst einer kommunistischen Gesellschaftsordnung besteht eben gerade darin, diese Freiwilligkeit glaubhaft vorzugaukeln. Schon Mao Zedong war davon überzeugt, die Revolution müsse immer weitergehen, um die Menschen nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Der Gedanke dahinter: Wer Zeit für sich hat, denkt nach und wer nachdenkt, strebt unliebsame Veränderungen an.

Besser sollen die Gedanken der Menschen um Konsum kreisen. Im weitesten Sinne. Denn heutzutage konsumiert auch, wer eine Nachricht an seine Familie schreibt. Die übertragenen Daten werden ausgewertet und dazu benutzt, die Gesellschaft gezielt zu lenken. Shoshana Zuboff prägte dafür den Begriff "Überwachungskapitalismus". Doch erinnert das Ausspionieren der Gesellschaft auch an Gepflogenheiten in kommunistisch regierten Ländern.

Ein soziales Experiment

Das untermauert die Eingangsthese, jede kapitalistische Wirtschaftsform wird von einer Gesellschaftsordnung flankiert, die mit ihrer Reglementierung und Gleichmacherei kommunistische Züge trägt. 

Bestes Beispiel dafür ist derzeit vielleicht die Volksrepublik China. Sie geht den Weg andersherum und hat erst ein kommunistisches System errichtet, das jetzt von einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung gestützt wird. Sehr erfolgreich, wie es aussieht. Nicht umsonst überwacht der Staat seine Bürger fast lückenlos. Ziel ist nicht nur die bedingungslose Konformität der Bevölkerung, um jede Opposition auszuschließen, sondern vor allem eine umfangreiche Sammlung perfekter Daten über die Marktteilnehmer und ihr Verhalten.

In dieser Hinsicht ist China mit seiner radikalen Datengewinnung ein soziales Experiment, auf das die kapitalistische Welt interessiert schaut. Es bleibt abzuwarten, inwieweit der kompromisslose chinesische Überwachungskapitalismus Nachahmer in den westlichen Ländern findet. 

Perfekte Harmonie

Zum Teil sind sie schon auf dem Weg dorthin. Die Konformität der Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Es gibt nicht einmal mehr Debatten, um den Schein demokratischer Auseinandersetzungen zu wahren. Die Verwaltung hat Wirtschaft und Politik fest im Griff. Themen werden von Lobbygruppen und Werbeagenturen gesetzt. Daten stammen aus Umfragen und dem Internet. Suchmaschinenoptimierung ist für die Meinungsbildung wichtiger, als stichhaltige Argumente. 

Über allem steht die perfekte Harmonie zwischen kapitalistischer Wirtschaftsform und kommunistischer Gesellschaftsordnung. Sie erst verwandelt die Menschen in planbare und willfährige Marktteilnehmer. Was natürlich im Nachhinein den sogenannten Kalten Krieg ad absurdum führt. Es ging dabei nie um einen Kampf der Systeme, sondern um die Verteilung von Ressourcen. Nebenbei war er die perfekte Ablenkung der Menschen von Affären und Skandalen im eigenen Land. Er gab ihnen das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen und für eine gerechte Sache einzustehen. Auf beiden Seiten selbstverständlich, was keine Ironie ist, sondern veranschaulicht, wie die Menschen von ihren Regierungen hinters Licht geführt und für die Interessen der Massengesellschaft benutzt werden.

Die Stärke der kapitalistisch-kommunistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist ihre Subtilität, mit der Marktteilnehmer überwacht und ausgebeutet werden. Denn die Menschen glauben in Freiheit zu leben und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, während sie von den Regeln der Bürokratie und den Themen der Meinungsmacher geschickt gelenkt werden. Wer dagegen rebelliert, gilt nach den Worten von Hannah Arendt als asozial und abnormal. In der Massengesellschaft gehe es nicht um Handeln, sondern um ein sich-verhalten. Das oberste Ziel ist Konformität. Genau dies ist das kommunistische Prinzip in unserer Gesellschaftsordnung.