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Freitag, 29. Dezember 2023

Tolerenz bekommt Regeln

Toleranz ist zum "Goldenen Kalb" der Gesellschaft geworden, aber nur als vorgegebenes Ritual, was wiederum zur Intoleranz führt.
Werte erfüllen heutzutage auch einen Zweck als Ablenkung. Sie beschäftigen die Menschen, die darüber debattieren und streiten. Aber diese Auseinandersetzungen sind Scheindiskussionen, die den Kern der Gesellschaft kaum berühren. Oft geht es dabei um das Verhalten sogenannter Prominenter, deren öffentliches Leben genau beobachtet und bewertet wird. Sie sind Stellvertreter, Vorbilder, abschreckende Beispiele, Marionetten einer Scheinwelt, die den Menschen tagtäglich eine Seifenoper vorspielt, um sie zu beschäftigen und von den wahren Fragen ihres Lebens abzulenken. Von diesen Figuren, die ihre Rolle spielen, werden Werte vorgelebt, hochgehalten, mit Füßen getreten, ignoriert, in Frage gestellt, neu ausgerichtet und auch vorgegeben. Je mehr sich eine Gesellschaft im Niedergang befindet, je weiter sie sich von den Idealen einer demokratischen Ordnung entfernt, desto prominenter stehen Nebensächlichkeiten wie sogenannte Stars im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Sie erfüllen den Zweck, den die Römer vor mehr als zweitausend Jahren „Brot und Spiele“ nannten und unterhalten die Bevölkerung mit ihren Eskapaden, um sie vom eigentlichen Geschehen fernzuhalten.

Zu Beginn stellte die Genderbewegung die Ordnung der Dinge in Frage

Zugleich werden Werte umgruppiert und ihre Bedeutung verschiebt sich im Spektrum ihrer Auslegungsmöglichkeiten. Die sogenannten Prominenten dienen dabei als Testimonials, um die neue Auslegung von Werte vorzuleben und zu empfehlen. Dabei überschreiten sie regelmäßig Grenzen der Peinlichkeit sowie der gesellschaftlichen Akzeptanz, die dadurch nach und nach ausgeweitet werden. Zum Beispiel Toleranz: Vor noch nicht allzu langer Zeit verstanden die Menschen schlicht darunter, jemanden einfach zu lassen, wie er ist. Heute geht es vielmehr darum, gesellschaftlich anerkannt tolerant zu sein. Die Toleranz hat Regeln bekommen, die vorgeben, wer Toleranz in Anspruch nehmen darf. Entsprechend gibt es unter anderem religiöse, queere, rassische, politische, kulturelle Toleranz. Sie etabliert Rechte von Minderheiten. Fühlt sich beispielsweise ein Mädchen eher als Junge und nutzt beim Sport die Jungenumkleide, sind die Proteste der verunsicherten Jungen vergebens. Es ist den Menschen nicht mehr erlaubt, untereinander tolerant zu sein, sondern es gilt verordnete Toleranz. So verstand die österreichische Philosophin Gudrun Perko den Ausdruck queer noch 2005 als eine politische und gesellschaftliche Bewegung „im Sinne eines offenen Projekts, das die angeblich natürliche Ordnung der Dinge in Frage stellt“. Ausdrücklich sowohl in den Bereichen der Sexualität als auch in Debatten wie Multikulturalismus, Interkulturalität, postkolonialer Kritik, Menschenrechte und Demokratie. Daraus geworden ist die verordnete Toleranz gegenüber sexueller Orientierung. Ein Wert, der derzeit besonders hochgehalten wird. Diese „natürliche Ordnung“ darf in Frage gestellt werden. Darüber hinaus wurde die umfassendere Bedeutung von „queer“ durch die übermäßige Betonung nur einer Auslegung „entschärft“. 

Was wäre, wenn...?

Werte werden gelenkt. So wie in den 1950er Jahren der Hass auf den Kommunismus in den Vereinigten Staaten und die Wut auf die weltweiten Studentenproteste in den 1960er und 1970er Jahren.  Stärkste Triebfeder für Menschen ist dabei ihre Angst vor Veränderung der eigenen Lebenssituation. Was wäre gewesen, wenn der Kommunismus tatsächlich Amerika erobert hätte oder die linksgerichteten Vorstellungen der jungen Generation in Europa Wirklichkeit geworden wären? Vor diesem „Was wäre, wenn…?“ fürchten sich die meisten Menschen grenzenlos.

Montag, 5. Juni 2023

Manchmal ist Freiheit mit Händen zu greifen

Das abstrakte Bild nähert sich dem Begriff der Freiheit durch das Undefinierbare seines Ausdrucks
Es lassen sich kaum verlässliche Aussagen über Freiheit treffen. Sicher ist lediglich, dass fast jeder etwas anderes darunter versteht und sich das Verständnis von Freiheit je nach gesellschaftlichem Milieu, Kultur und Region unterscheidet. Heutzutage müssen natürlich auch Onlinewelten mitgedacht werden, in denen sich Freiheit wieder anders darstellt.

Die einfachste Definition wäre sicherlich: Freiheit heißt, ohne jede Einschränkung alles tun zu dürfen. Doch die Frage stellt sich: Ist das Freiheit oder Anarchie? 

Freiheit kann auch bedeuten, freiwilligen Verzicht aus Rücksichtnahme zu üben. Also geht es eher um den freien Willen? Ist Freiheit gar eine virtuelle Fantasie?

Der Geist kann nachklingen

Nicht ganz, aber möglicherweise auch. Die körperliche Freiheit ist fest in der physischen Welt des Hier und Jetzt verankert. Entsprechend kann sie auch in dieser Welt, zu dieser Zeit genommen werden – durch Krankheit, Alter oder bewusste Einengung, zum Beispiel in Form einer Haftstrafe. Aber eben nur in dieser Welt und nur in einem sehr kleinen Abschnitt der Geschichte – der Lebensspanne des betroffenen Menschen. Nicht vorher und auch nicht darüber hinaus.

Der Geist ist dagegen ein anderes Kaliber. Er kann aus dem Körper, der ihn beherbergt, nährt und transportiert, heraus wirken. In räumlichen, wie auch zeitlichen Dimensionen. Wenn der Körper längst begraben ist, kann der Geist noch nachklingen und dadurch Einfluss auf eine spätere Gegenwart nehmen. Er schlüpft dazu in andere Körper, die ihn zwar nicht im eigentlichen Sinn am Leben erhalten, aber als Container seiner einstigen Gedanken dienen. Bücher sind so ein Ersatzkörper, Videos und zukünftig wahrscheinlich auch Avatare. 

Geistige Freiheit ist Überschreitung von Grenzen

Zwar haben diese Abbilder des früheren Geistes kein Bewusstsein, aber sie bewahren die Erinnerungen. So können die Menschen auch heute noch Bekanntschaft mit Johann Wolfgang Goethe und Franz Kafka machen oder von den Vorlesungen des extravaganten Physikers Richard Feynman lernen. Auch die Gedanken in persönlichen Tagebüchern machen oft eine Zeitreise und werden erst nach Jahrzehnten wiederentdeckt. Fotos haben einen deutlich geringeren Effekt. Sie teilen die Lebensumstände, Mode und Beziehungen mit, aber kaum die Gedanken und Ideen der abgebildeten Menschen. Es ist der Geist, der über Grenzen hinweg berührt.

Ist also auch der Geist der Ort der Freiheit? In gewisser Weise. Es gibt Menschen, die sich unglaublich frei fühlen, wenn sie ihren Körper bis zur Erschöpfung verausgaben. Aber diese Freiheit scheint darin zu bestehen, den Körper sozusagen auszuschalten, indem er überanstrengt wird. Geistige Freiheit ist etwas anderes. Sie besteht gerade in der Überschreitung von Grenzen und dem Weiterdenken hinter scheinbar unüberwindlichen Barrieren. Der Geist kann müde werden, doch ist er nie dermaßen erledigt, wie der Körper nach großer Anstrengung.

Der Körper ist der Pragmatiker, der Geist ein Träumer

Wenn der Körper versagt, aber der Geist hellwach ist, können sich einem Menschen trotzdem große Welten quer durch Raum und Zeit erschließen. Umgekehrt leistet ein athletischer Körper mit eingeschränktem Geist kaum alltäglichen Aufgaben. Außerdem ist es der Geist, der von Freiheit träumt. Der Körper träumt von regelmäßigem Essen als Teil der notwendigen Lebensgrundlagen, über die sich der Geist zumindest eine Zeitlang hinwegsetzen kann.

In der Beziehung zwischen Geist und Körper ist der Geist ein Träumer, während dem Körper die Rolle des Pragmatikers zufällt, der sich um die Energie für beide kümmert. Ein undankbarer Job. Am Ende fällt er dem Vergessen anheim, während der Geist manchmal sogar erst nach seinem physischen Tod in Aufzeichnungen, Einträgen oder anderen Datensammlungen entdeckt wird. Seit der Erfindung der Schrift ist dem Geist, der sich zu Lebzeiten mitteilt, nahezu Unsterblichkeit beschieden.

Körperlose Onlinewelten

Kein Wunder also, dass er nach Freiheit strebt. Nach der Freiheit, sich mitzuteilen: Redefreiheit, Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit, Versammlungsfreiheit, die Freiheit, sich jederzeit mit anderen Menschen auszutauschen. 

Es ist die Freiheit, den eigenen Körper zu verlassen. Das Joch alles Lebendigen hinter sich zu lassen, auch oder vielleicht vor allem die notwendigen Lebensgrundlagen und sich auf das rein Geistige zu fokussieren: Träume, Fantasien, Ideen, Visionen, Utopien oder einfach ein neues Leben in den körperlosen Onlinewelten, die nur aus Geist bestehen, der sich in Nullen und Einsen, in Bits und Bytes manifestiert (allerdings nicht ganz frei von Materie, denn er braucht dazu eine Menge Elektrizität).

Freiheit wird missverstanden

Die Frage stellt sich allerdings: Ist umfassende Freiheit nicht zu unbestimmt? Von was oder wem soll Freiheit gewährt werden, wohin strebt sie, auf was wird sie gerichtet, wen schließt die Freiheit ein, wen schließt sie aus? Es ist relativ leicht, gemeinsam eine Mauer einzureißen und damit körperliche Freiheit zu erringen. Dagegen musste ein Künstler wie Vincent van Gogh für die Freiheit malen zu dürfen, wie er die Welt sah und empfand, einen hohen Preis in Form von Armut, Einsamkeit und gesellschaftlicher Verachtung bezahlen. Er war vielleicht geistig frei in seinen eigenen Vorstellungen, körperlich und psychisch aber in der Welt der Bürger größten Strapazen ausgesetzt. Er war nicht richtig in dieser Welt und seine Freiheit wurde missverstanden.

Was also ist diese Freiheit, die so schwer zu finden und noch schwerer zu erringen ist? Sie ist nichts. Nichts, bevor sie sich nicht als Idee im Geist eines Menschen manifestiert. Damit ist sie ein ganz persönlicher Wert – aber manchmal wird aus einer freiheitlichen Idee eine Massenbewegung, aus dem persönlichen Wert das Ideal einer Generation. Dann können Mauern stürzen, Nationen wanken, Grenzen verschoben werden und neue Gesellschaftsformen entstehen. Für einen Moment gerinnt Freiheit durch Masse und ist mit Händen zu greifen – bevor sie wie Sand durch die Finger der Menschen rieselt und klanglos vergeht.