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Dienstag, 7. Februar 2023

Werte geben Halt und Struktur

 

Eine Gesellschaft ähnelt einer Stadt mit schiefen Häusern, haltlos ohne Werte, aber auch verbogen von Werten

Werte verlängern Krieg

In beiden Weltkriegen galten hohe Werte: Treue, Loyalität, Ehre, Vaterlandsliebe, Selbstaufopferung, Kameradschaft, Gehorsam und so weiter. Es waren Werte, die zu Kriegen gehören und sie befördern. Sie waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der Gesellschaft implementiert. Davon zeugt zum Beispiel der Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann. Der Staat war hierarchisch organisiert und auch die Zivilgesellschaft hatte eine militärische Attitüde. Die Werte wuchsen Jahrzehnte in Frieden heran und wurden nicht für einen Krieg geschaffen. Sie führten in den Krieg, weil sie langfristig dafür geeignet waren.

Auch wenn der Kriegsbeginn letztlich von Regierungen vollzogen wurde, jubelte doch auch das Volk. Die Grausamkeiten entbehrten zu Beginn jeder Vorstellung und als sie offenkundig zu Tage traten, griffen die oben genannten Werte, um den Krieg um jeden Preis fortzuführen.

Werte sind stärker als jede Vernunft

Es ist eine komische Sache mit den Werten. Fast scheint es, als seien sie der Geist, der Gutes will und Böses schafft. Sie geben den Menschen Halt und Struktur, aber sie führen sie auch in den Abgrund. Das war noch mehr im Zweiten Weltkrieg der Fall, denn er wurde als Vernichtungskrieg angelegt. Nicht nur Soldaten gingen in den Tod, sondern auch Millionen von Zivilisten, die ermordet wurden. Und auch hierfür gab es Werte, die angenommen und befolgt wurden. Einer der obersten Werte hieß Pflichterfüllung. In seinem Namen machte die Masse den Wahnsinn mit. Jeder einzelne hat in seinem Umfeld dazu beigetragen. Dieser Wert der Pflichterfüllung war so stark, dass noch Jahrzehnte nach dem Krieg Deserteure verunglimpft wurden, obwohl sie im Kleinen dazu beigetragen hatten, den Krieg ein wenig früher zu beenden. Dennoch galten sie lange als Vaterlandsverräter.

Manchmal sind Werte stärker als jede Vernunft. Das ist schwer zu ertragen, weil Werte grundsätzlich als positiv angesehen werden. Doch das ist nur die menschliche Sichtweise. Tatsächlich sind Werte, wie schon erwähnt, neutral. Sie sind Container für menschliche Vorstellungen von wünschenswertem Verhalten. Wenn die Menschheit in ihre Ansicht schwankt, so schwanken auch die Werte.

Eventuell sind die Werte eine Maßzahl für den Zustand der menschlichen Gesellschaft in einem bestimmten Augenblick ihrer Geschichte. An ihr lassen sich Denken und Handeln der Menschheit ablesen. Allerdings ist dabei Vorsicht geboten, denn was heute als schrecklich gilt, war zu seiner Zeit vielleicht eine neue Errungenschaft.

Container menschlichen Verhaltens

Werte kommen aus der Zeit und gehen in die Zeit. Selbst die beständigsten verändern zumindest ihren Habitus, selbst wenn sie vom Grundsatz bleiben. Werte sind opportunistisch und launisch. War es lange üblich, dass Männer Krawatte tragen, ist es im Moment eher die Ausnahme. Doch genauso gut kann sich dies in absehbarer Zeit auch wieder ändern. Dann wird plötzlich schief angesehen, wer keine Krawatte trägt.

Es ist schwer, den Werten zu folgen. Wer weiß schon in jedem Augenblick, was richtig oder falsch ist. Ob ein Werte gilt und falls es gilt, wie schlimm ein Verstoß gegen ihn ist. Manche Werte werden nie für einen Moment hochgehalten, um dann wieder fallengelassen zu werden. Andere dulden keinen Widerspruch. Meist ist das Vergehen nicht der Verstoß gegen einen Wert, sondern sich dabei erwischen zu lassen. Überhaupt sind diejenigen, die Werte besonders preisen, meist auch diejenigen, die sie in unbeobachteten Momenten mit Füßen treten. Aber unter Umständen macht erst die Möglichkeit des Verstoßes Werte wirklich stark.

Wenn Werte Container menschlichen Verhaltens sind, stellt sich die Frage, auf welche Weise sie bepackt, gestapelt, transportiert, umgestellt und schließlich ausgepackt werden. Wie gelangen Werte aus dem kollektiven Strom in die Container, in Umlauf und schließlich in Gebrauch? Welche Kräfte wirken, wie tragen Menschen dazu bei?

Jeder Mensch besitzt einen Container voller Werte. Er enthält eine Mischung aus allgemeinen und veränderlichen Werten, wobei es selbstverständlich Überschneidungen gibt. Alle diese Werte stammen aus dem kollektiven Strom. Der Unterschied zwischen Ihnen ist die Verinnerlichung durch die einzelnen Menschen. Es ist individuell, wer welchen Wert besonders lebt, andere akzeptiert und viele mehr oder weniger außer Acht lässt.

Erfahrung ist ein Treiber für den Wertewandel

Da der Mensch zum Träger und Übermittler seiner Werte wird, beeinflussen sich die Wertcontainer über die Menschen gegenseitig. Freunde und Familie teilen oft Werte und sind sich deshalb besonders nah. Andererseits entstehen aus unterschiedlichen Werten Zwistigkeiten und Streit.

Zurück zu den Containern. Sie sind nicht ein für alle Mal gepackt. Es findet ein ständiger Austausch zwischen ihnen statt. Das führt manchmal zum Ausspruch: „Ich erkenne dich gar nicht wieder!“, wenn Menschen sich verändert haben. Veränderung hat sehr viel mit einem persönlichen Wertewandel zu tun.

Einer der stärksten Treiber für den Wertewandel ist Erfahrung. Je mehr Einflüssen ein Mensch ausgesetzt ist, desto mehr unterschiedliche Werte lernt er kennen. Manchmal passt er seine Werte darauf hin an, ein anderes Mal lässt er sich von neuen Werten überzeugen. Vielleicht ernährt er sich nur noch vegetarisch oder engagiert sich aktiv in einer Partei. Ganz gleich was es ist, im Laufe des Lebens ändern und ergänzen sich die Werte eines Menschen immer wieder. Das führt zu neuen Freundschaften, während andere enden. Übrigens wird als Langweiler bezeichnet, wer ein gleichförmiges Leben führt. Dieser Mensch hält an denselben Werten fest und verändert unumstößlich nichts.

Manche Container werden also einmal gepackt und sind dann auf immer geordnet. Andere quellen förmlich über von einer bunten und oftmals neuen Mischung von Werten. Es ist, als hätte einer seinen Container fest verschlossen und den Schlüssel weggeworfen, während einige seiner Mitmenschen gar nicht erwarten können, immer wieder umzupacken.

Sonntag, 30. Oktober 2022

Das Fließband im Privaten

Ein fliegender Bot gleitet durch die Luft - er erinnert an eine Mücke oder ein ähnliches Insekt
Das Fließband ist eine Errungenschaft der Produktivität. In großem Stil vor mehr als einhundert Jahren eingeführt, vergrößert es bis heute den Ausstoß an Waren enorm. Gleichzeitig macht es die Arbeiter zu willfährigen Handlangern, die ihr berufliches Dasein bei immer denselben Handgriffen fristen. Humorvoll dargestellt im Film Moderne Zeiten von Charles Chaplin.

Natürlich gibt es für die Menschen am Fließband auch Vorteile. Zumeist vergleichsweise gute Bezahlung, Sicherheit im Umgang mit den an sie gestellten Anforderungen und keine Notwendigkeit, eigenständig zu denken. Viele Arbeiter sind mit diesen Bedingungen mehr als zufrieden. 

Die digitale Technik verlagert nun die Reflexe der Fließbandarbeit in das Private. Ein "Pling!" und einstudierte Handgriffe werden zur Anwendung gebracht: Greifen, Wischen, Tippen. Ein "lol" hier, ein Emoji dort. Ein Selfie, ein Foto vom Essen, eine kurze Sprachnachricht. Millionenfache Wiederholungen weltweit. Zufällig und austauschbar die Menschen, denen die verkümmerte Aufmerksamkeit gilt.

Nachrichten werden abgearbeitet. Oder vielleicht sogar: Das Leben wird abgearbeitet in den Nachrichten. Gibt es überhaupt ein Leben, ohne die Mitteilungen darüber? Die Frage ist wichtig: Inwieweit formt das Fließband des gewaltigen Stroms an Worten unser Leben? Ist es eventuell ein Malstrom, in dem die Menschen zerrieben werden?

Die Ressource Mensch wird ausgebeutet

Die Transparenz eines jeden Lebens für die Öffentlichkeit ist ein neues Phänomen. Noch vor einem Jahrzehnt blieb das Private auch privat. Die wenigsten Menschen waren in den Medien präsent. Der Austausch von Neuigkeiten beschränkte sich auf das Festnetztelefon und persönliche Kontakte. Selbst Familie und Freunde bekamen nicht alles von einem Menschen mit, weil vieles in Vergessenheit geriet, bis es hätte geteilt werden können. Jeder hatte eine wirkliche Privatsphäre. Deshalb war auch die Volksbefragung 1987 ein großer Streitpunkt. Die Bürger befürchteten damals, zu viel von sich preisgeben zu müssen.

Heute geben die Menschen freiwillig weitaus mehr Informationen heraus. Im Akkord. Die Digitalindustrie hat einen Weg gefunden, die Ressource Menschen auszubeuten, ohne dass es zu Protesten kommt. Im Gegenteil: Die Nutzer sind glücklich, sich der Welt mitteilen zu dürfen. (Nachzulesen bei Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus Verlag 2018)

Kaum eine Zeit, in der nicht nach dem mobilen Gerät gegriffen wird, um zu tippen. Gleich nach dem Aufwachen, beim Frühstück, mitten in Gesprächen, während der Arbeit und beim Sport. Alles ist wichtig, muss sofort gelesen und beantwortet werden. Der Computer ist das Mittel zum Tratschen.

Das verwundert nicht. Schließlich haben die Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach die Sprache entwickelt, um sich darüber auszutauschen, wer mit wem befreundet oder verfeindet ist. Ob gerade ein wildes Tier die Gruppe angriff, war weniger entscheidend, als die sozialen Kontakte untereinander. (Siehe dazu Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, Deutsche Verlags-Anstalt 2013, Seite 35 ff.)

Die Angst, ausgeschlossen zu sein

Das Bedenkliche ist also nicht der Klatsch und Tratsch via Internet. Es ist die Banalität der groben Fließbandarbeit, zu der ein Austausch zunehmend verkommt. Jemand steht vor der Tür und postet: "Ich bin gleich da." Die Antwort erfolgt prompt: "Wie schön!" Da schellt auch schon die Klingel. Beim Essen dann: "Das muss ich mal kurz lesen." Es geht um den Sport am Abend, eine Zutat zum Kochen, den Kommentar zum neuesten Foto. Das alles würde einen Aufschub dulden. Aber nicht im Kopf des Empfängers, der wie ein Pawlowscher Hund reagiert, sobald das "Pling!" ertönt.

Es gibt keine ruhige Minute mehr am Tag. In der Bahn, auf öffentlichen Plätzen, selbst in Geschäften werden pausenlos Mitteilungen ausgetauscht. Eine permanente Inanspruchnahme, zumal der Absender eine baldige Reaktion erwartet. Deshalb sofort der Griff zum mobilen Gerät. Die Angst, Entscheidendes zu verpassen - schlimmer noch: ausgeschlossen zu sein.

Die Welt des mobilen chattens - so wird suggeriert - ist eine große Gemeinschaft. Wer nicht dabei ist, bleibt allein. Das möchte niemand. Jeder will am Leben der anderen teilhaben. Von der Geburt bis zum Tod wird alles digital erfasst. 

Doch Stück für Stück entgleitet uns dabei das Leben. Schon, weil die ständige Onlineverfügbarkeit sehr viel Zeit kostet. Sie zieht die Aufmerksamkeit auf sich und damit von anderen Beschäftigungen ab. Ein schnelles Telefonat, eine kurze Nachricht - kein Problem. Doch vervielfacht auf zahlreiche Menschen, ergibt das Stunden der Ablenkung. Das Leben wird vom digitalen Fließband diktiert. Vieles findet nur wegen oder durch den mobilen Computer statt. Mittlerweile ist es die Inszenierung für andere, die zählt, weniger ein Erlebnis an sich.

Abgrenzungen verwischen

Ziehen wir allerdings in Betracht, die Nutzer möchten diese digitale Fließbandarbeit, dann ist dagegen nichts einzuwenden. Oder muss man die Menschen vor sich selbst schützen? Vielleicht schon. Doch keiner wird das in diesem Fall wagen. Zu groß sind die wirtschaftlichen Interessen. Vor allem: Wer so mit sich selbst beschäftigt ist, wie der digitalisierte Mensch, stellt die Interessen von Politik und Wirtschaft nicht infrage. Ebensowenig, wie die Arbeiter nie den Akkord am Fließband grundsätzlich infrage gestellt haben.

Es bleibt das ungute Gefühl, dem gesellschaftlichen Fließband, das mehr und mehr ins Private greift, nicht entkommen zu können. Denn auf den mobilen Computer zu verzichten, ist kaum möglich. Beruflich wird die Verfügbarkeit rund um die Uhr stillschweigend erwartet. Die Abgrenzungen verwischen. Noch abends auf dem Fußballplatz wird gearbeitet, während im Büro schnell die Familienzeit in Planung ist.

Das Fließband läuft 24 Stunden auf Hochtouren, 365 Tage im Jahr. Selbst im Schlafen schrecken die Menschen auf. Den es macht "Pling!" Und es könnte wichtig sein.

Nachtrag zum vorliegenden Text Maschine mit Charakter