Posts mit dem Label Zeit werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Zeit werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Dienstag, 16. Mai 2023

Der Konsumismus prägt die erste globale Gesellschaftsform

Hinter den Fassaden der schönen Konsumwelt sieht es düster und verkommen aus
Die Ideologien früherer Tage haben den Menschen mehr Werte ideeller Natur beigemessen. Sie brauchten die Masse beispielsweise auch im Kampf. Der Konsumismus braucht sie ausschließlich an der Ladenkasse. Dabei ist es ihm gleichgültig, wie jemand zu Geld kommt, solange er sein Augenmerk hauptsächlich darauf richtet, es auszugeben.

Oberstes Ziel des Kommunismus ist nicht die Gleichheit aller Menschen, sondern ihre unbedingte Marktteilnahme. Jeder, wie es sein Einkommen hergibt.

Den Menschen wird ihre Zeit genommen

Das Prinzip des Konsumismus wirkt sehr demokratisch. Doch in Wirklichkeit zerstört es die Demokratie und mit all ihren Werte, die eine weitgehend friedliche Gesellschaft bisher ausgezeichnet haben. Zum Beispiel ist das ehrenamtliche Engagement stark zurückgegangen. Nur doch ungefähr ein Drittel der Menschen engagieren sich für andere oder die Belange der Gesellschaft insgesamt. 

Im Konsumismus bleibt wenig Zeit neben der Optimierung seiner selbst und den eigenen materiellen Werten. Ziel ist eine 24/7 Bereitschaft zum Konsumieren. Möglich geworden ist das Erreichen dieses Ziels durch die Etablierung des Onlinehandels sowie die drastische Ausweitung der Ladenöffnungszeiten. Der Wert der Ruhezeiten wird dagegen reduziert und Schritt für Schritt abgeschafft. Es gibt kein Durchatmen mehr in der Gesellschaft, keine kollektive Pause. Selbst die Sonntage sind oft genug mit Besichtigungen oder Beratungsterminen verplant.

Das Erfolgsrezept des Konsumismus besteht darin, dass der den Menschen keine Zeit lässt, sich anders zu orientieren. Dadurch ist Zeit auch zu einer der wertvollsten Ressourcen geworden. Der Konsumismus versucht, jede Minute zu belegen. Bei genauer Betrachtung, gelingt ihm das sehr gut. Denn vieles, was Menschen heute machen, ist offener oder zumindest verdeckter Konsumismus. Wer zum Beispiel stundenlang am Computer zockt oder fernsieht, konsumiert in Wahrheit - wenn auch auf eine ganz angenehme Art und Weise.

Werte unterstützen den Konsumismus

Lässt sich also sagen, alle Werte sind abgelöst von dem einen Wert des Konsumieren? Nein, ganz so einfach ist es denn doch nicht. Auch der Konsumismus benötigt übergeordnete Regeln und Werte. Nur, solange die Gesellschaft möglichst reibungslos funktioniert, kann er erfolgreich sein. Aber durch ihn verändern sich die Werte sehr nachhaltig. 

Die Ladenöffnungszeiten wurden bereits erwähnt. Darüber hinaus ist der Wert, keine Schulden zu haben, sehr in den Hintergrund getreten. Inzwischen gilt es als viel angesagter, Konsumentenkredite aufzunehmen. Das ist im Sinne des Konsumismus. Wer verschuldet ist, arbeitet härter, um sich noch mehr leisten zu können, obwohl der Kredit zurückgezahlt werden muss. 

Aber auch althergebrachte Regeln unterstützen den Konsumismus. Verlässlichkeit, zum Beispiel und Ehrlichkeit. Allgemein gesagt: Es gelten die Werte, die dem Konsumismus nützen. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass es fast keine gesellschaftlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen gibt. Jede Form von Unstimmigkeit fordert Zeit zur Klärung und hindert den Konsum der beteiligten Menschen. 

Der Konsumismus prägt die erste globale Gesellschaftsform, der die Menschheit sich freiwillig unterwirft. Sie scheint ihr zu entsprechen. Jagen und Sammeln in moderner Ausprägung.

Notwendigkeit wird zur Nebensächlichkeit

Gleichzeitig entwickeln sich neue Werte in der Onlinewelt. Werte, die darauf abgestimmt sind, dass sich viele Menschen anonym begegnen. Eine sogenannte Netiquette soll ihr Miteinander regeln und verträglich machen. Allerdings überwiegen in einigen Bereichen Mobbing, Hass und virtuelle Gewalt. Ohne große Gefahr der Entdeckung und Bestrafung fallen die meisten Werte aggressivem Treiben zum Opfer. Trotz aller Bemühungen gibt es einzelne Teile der Menschheit, die auf Gewalt setzen. Vielleicht ist es an der Zeit einzugestehen, dass Menschen auch diese düstere Seite haben und in absehbarer Zeit nicht überwinden werden.

Doch was, wenn die Menschen sich auf die notwendigen Lebensgrundlagen beschränken würden? Zunächst ist zu definieren, was zu den notwendigen Lebensgrundlagen zählt. Unbestritten sicherlich Nahrung, Kleidung und Wohnung. Darüber hinaus Kommunikation, Bildung, Mobilität und Kultur. Aber sind drei Autos, fünf Computer und 25 Paar Schuhe notwendig? An welchem Punkt schlägt die Notwendigkeit in bloßen Konsum um?

Abzulesen ist dies ganz gut an der Art und Weise der Nahrungsaufnahme. Die Menschheit leidet unter Übergewicht. Essen ist vielerorts von einer Notwendigkeit zu einer Beschäftigung geworden. Die Märkte sind voller verlockender Angebote - von regional bis exotisch. Die Nahrungsaufnahme wird als Kunstwerk stilisiert. Andererseits gibt es mehr und mehr Fertiggerichte, weil sich viele Menschen nicht mehr die Zeit zum Kochen nehmen und ihr Essen schnell vor dem Fernseher oder Computer herunterschlingen. Das Notwendige wird zur Nebensächlichkeit, die nichtsdestotrotz notwendig ist.

Der Einzelne ist nur als Kunde ein Individuum

Paradox? Vielleicht. Doch das Muster wiederholt sich in der Geschichte. Zum Beispiel beim Rauchen. Vor Jahrhunderten ein zeitintensives Vergnügen. Der Tabak wurde ausschließlich in Pfeifen geraucht, der Genuss aufwendig zelebriert. Die Zigarre wurde zur Zeitersparnis erfunden. Sie ist gebrauchsfertig. Das Stopfen der Pfeife entfällt. Dann kamen die industrielle Revolution und der Erste Weltkrieg. Beides ließ Arbeiter und Soldaten kaum mehr Zeit zur Muße. Deshalb kam die Zigarette in Mode. Sie ersetzte endgültig das genussvolle Ritual des Rauchens durch die hastige Aufnahme von Nikotin. Die reine Sucht setzte sich gegen die gelegentliche Freude am Rauchen durch.

Die Menschen passen sich dem Rhythmus der Gesellschaft an. Die Gesellschaft aber wird bestimmt von der Notwendigkeit des Lebens. Sie organisiert die Infrastruktur, ohne die der Menschen wieder Jagen und Sammeln würde. Dafür benötigt sie die Masse und ignoriert den Einzelnen. 

Der Einzelne ist verloren. Gefangen zwischen Vorschriften, Regeln und Werten, die für die Masse geschaffen wurden, aber von ihm befolgt werden sollen. Er geht in der Masse auf und wird als Individuum ignoriert. Vorgegaukelt wird dem Einzelnen nur eine scheinbare Individualität, in der er als Kunde beachtet wird.

Samstag, 11. Februar 2023

Die verlorenen Seelen

 

Der Ich-Erzähler bei Proust ähnelt in gewisser Weise Don Quichotte, der einer eingebildeten Gesellschaft dient

Leidenschaften und Begierden

Der Mensch ist verzweifelt auf der Suche nach dem Menschen. Wo findet er ihn, wo verliert er ihn wieder? Marcel Proust sucht in der Vergangenheit. Er rekapituliert, was es mit der menschlichen Gesellschaft auf sich hat. Mit dem Blick des kranken, bettlägerigen Autors durchdringt er nach und nach die Oberfläche des Beziehungsgeflechts und stößt in den darunter liegenden Schichten auf den eigentlichen Antrieb des Menschen: seine Leidenschaften und Begierden. Es ist das Unerhörte, in dem der Mensch den Menschen findet und wieder verliert.

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kommt so monumental, so verwirrend wie die Gesellschaft selbst daher. Was sollen die überlangen Sätze und die verschachtelte Struktur? Anfangs bleibt das Werk eher unverständlich. Doch je weiter der Leser sich vorwagt, ohne Geduld und Mut zu verlieren, desto mehr begreift er den Zusammenhang zwischen Sprache und Erzählung, zwischen den Bildern der Handlung und eigenen Gedanken, die er sich über Orte und Figuren macht. Er taucht ein in die Welt, fremd und fern, doch seltsam vertraut. Die Welt der menschlichen Gesellschaft.

Die Vergangenheit beschreibt die Gegenwart

Zwar ist bei Proust die Welt in den französischen Adelskreisen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt. Doch das Buhlen um Anerkennung, Freundschaft und Förderung, die Angst vor Ausgrenzung, Ablehnung und üblem Gerede ist auch heute allgegenwärtig. Selbst wenn sein Roman inzwischen mehr als einhundert Jahre alt ist, beschreibt Proust de facto jede menschliche Gesellschaft. Denn das Spielen von Rollen, die Verleugnung des wirklichen Lebens, das Herumscharwenzeln, um sich gegenseitig doch zu erkennen und das Fallen von Masken in manchen Situationen, sind auch den Menschen im Hier und Jetzt bestens vertraut.

Wenn der Ich-Erzähler sich danach sehnt, in die adlige Gesellschaft seiner Zeit aufgenommen zu werden, wird der Leser gewahr, wie sehr er selbst darum kämpft, dazuzugehören. Es ist fast ein persönlicher Erfolg, als der Autor es endlich schafft, eine Einladung in einen bekannten Salon zu erhalten. Staunend tritt er ein und der Leser staunt mit ihm.

Es eröffnet sich eine geheimnisvolle Welt, die bisher hinter undurchdringlichen Türen fest verschlossen war. Der Erzähler wird in diese Welt eingeführt und verweilt von nun an in ihr. Es ist ihm ein großes Vergnügen und er ist stolz von den Menschen, die er bewundert, anerkannt zu sein. Eine Weile genießt er den Umgang und der Leser mit ihm.

Bald setzt jedoch Ernüchterung ein. Was sind das für Gespräche? Worum geht es eigentlich? Die Herzogin von Guermantes, die der Erzähler angehimmelt hat und deren Erscheinen auf der Straße er lange nicht hatte abwarten können, entpuppt sich als charmante, aber auch ein wenig langweilige Gastgeberin. Die Empfänge in ihrem Salon sind Rituale, die feste und erstarrte Regeln befolgen. Gespräche sind eine Aneinanderreihung leerer Floskeln. Besonders deutlich wird dies später im Roman bei der Diskussion über die Dreifuß-Affäre. Ausgetauscht werden Allgemeinplätze. Jeder vertritt eine Meinung, auf der er beharrt. Es gibt keinen großen Unterschied zu einer Stammtischdiskussion über die Politik der Gegenwart.

Die Leiden der Eifersucht

Proust entwickelt sich immer mehr vom Teilnehmer zum Beobachter der Gesellschaft. Er hat sein Ziel erreicht, bald werden seine Besuche in den Salons zur verpflichtenden Routine. Selbst am Strand in Combray holt ihn die Last seiner Bekanntschaften ein. Wobei er mit Baron de Charlus auf eine interessante Persönlichkeit trifft, die im weiteren Verlauf des Romans eine herausragende Stellung einnehmen wird. Denn dieser Charlus ist nicht das, was er vorgibt zu sein. 

Doch zunächst lernt der Ich-Erzähler die Leiden der Eifersucht kennen. Er versuchte seine Geliebte Albertine einzusperren, damit sie immer bei ihm ist. Geht sie aber aus, ist er unruhig und vergeht vor Phantasien, mit welchen anderen Männern sie sich vergnügt. Sehen sie sich wieder, macht er ihr bittere Vorwürfe. Sie hält es nicht lange mit ihm aus, während für Proust die Eifersucht ein tiefes Gefühl ist.

Wo finden wir einen Menschen, wo verlieren wir ihn wieder? Für Proust sind es die Leidenschaften, die Menschen zusammenbringen oder trennen. Wie bei Swann, der aus Eifersucht unstandesgemäß geheiratet hat und dafür von der Gesellschaft missachtet wird.

Baron de Charlus geht einen anderen Weg. Er spielt die Rolle des männlichsten Mannes. Bis er in einer Schlüsselszene des Romans einer zufälligen Bekanntschaft sein wahres Ich enthüllt. Die beiden schwulen Männer erkennen sich und verschwinden in einer Wohnung im Hinterhof.

Ein langer Weg für Autor und Leser

Es ist der Schein, den Proust nach und nach aufdeckt. Selbst langjährige Freundschaft ist in der Gesellschaft nichts als Schein. Denn als der todkranke Swann einen letzten Besuch bei seiner Freundin, der Herzogin von Guermantes, macht, wird er aus Zeitgründen hinauskomplimentiert. Allerdings hat die Herzogin genug Zeit, um die Schuhe zu wechseln, damit sie zu ihrem Kleid passen. Diese roten Schuhe der Herzogin von Guermantes sind das Symbol schlechthin für die Oberflächlichkeit in den Beziehungen der Menschen. 

Tatsächlich ist es die Zeit, die alternde Gesellschaft, die sich selbst entblößt. Als der Ich-Erzähler nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt zurückkehrt, ist er entsetzt über das greise Aussehen seiner Bekannten. Bis er zufällig in einen Spiegel blickt und sich selbst im Alter erkennt.

Vielleicht lehrt die Zeit den Menschen, dass er nie auf der Suche nach anderen ist, sondern immer nur nach sich. Die Gesellschaft mag zerfallen, wie bei Proust durch den Ersten Weltkrieg. Der Autor hat aus diesem Grund sein Werk um einen weiteren Band fortgeführt. Nur, um die von ihm beschriebene Gesellschaft endgültig zu zertrümmern. Der alternde Baron de Charlus verliert im Sado-Maso Club den letzten Rest seiner Würde. Die Unzulänglichkeiten der Gesellschaft treten in aller Brutalität zu Tage.

Es ist ein langer Weg für Proust und seine Leser vom neugierig tastenden Eintritt in die Gesellschaft über das genaue Kennenlernen und die spürbare Langeweile bis zu ihrem Untergang durch Alter, Krieg und Tod.

Der Mensch jagt auf der Suche nach Menschen an ihm vorbei. Denn es sind nur Vorstellungen, um derentwillen er sein Leben führt. Und diese Vorstellungen erweisen sich allzu oft als Chimären. Während am Wegesrand die eine oder andere Blume erblüht, an der die Menschen meist achtlos vorübergehen.

Erst im Rückblick erkennen sie, was sie hatten und was sie übersehen haben. Es sind die eigenen Unzulänglichkeiten, an denen sie scheitern und die sie in die Gesellschaft tragen, die schließlich nur das Produkt all der Menschen ist, die sie ausmacht. Allein durch die menschlichen Schwächen ist die Suche nach Menschen vergebens. Denn sie suchen nach vollkommenen Menschen und finden doch immer nur Teile, während anderes sie abstößt oder ihnen Schwierigkeiten bereitet.

Der Erste Weltkrieg ist der alles entscheidende Wendepunkt

Exemplarisch macht Proust das in der Person des Baron des Charlus deutlich. Er tritt als arroganter alles beherrschender Mann auf und ist hinter der Maske seiner Rolle doch mehr als unglücklich. Folgerichtig reißt ihm der Erzähler am Ende des Romans die Maske vom Gesicht und es bleibt nur noch ein alter, viel zu dick geschminkter Mann, der sein Leben damit verschwendet hat, sich zu verstecken und aus seinem Versteck heraus nach Menschen zu suchen, denen er sich zu erkennen geben durfte. Der Gesellschaft untergeordnet, die er selbst mitbegründet hat.

Dadurch wird deutlich, dass nicht der Mensch im Mittelpunkt steht sondern die Intuition, die Gesellschaft als solche. Oder mit anderen Worten: die Masse. Der einzelne Mensch genießt nur manchmal ihre Gunst. Für einen kurzen Moment wird er zu ihrer Inkarnation, zu der Gestalt, die von der Masse gewollt ist. Ein wenig später sind die fünf Minuten seines Ruhms auch schon wieder vorbei.

Bei Proust ist der alles entscheidende Wendepunkt der Erste Weltkrieg. Er verändert alles. Die Gesellschaft huldigt neuen Günstlingen. Der Adel geht als führende Schicht unter und verharrt in starren Ritualen und Erinnerungen. So enden nicht nur individuelle Leben. Eine ganze Epoche findet einen jähen Abschluss im Untergang des alten Europa.

Nur eines ändert sich nicht: Der Mensch ist noch immer verzweifelt auf der Suche nach Menschen.

Wo findet er ihn in der heutigen Gesellschaft? Wo verliert er ihn wieder? Die Fragestellungen bleiben dieselbe. Insoweit ist der Roman von Marcel Proust auch in unserer Zeit sehr aktuell. Er löst die Fragen natürlich nicht. Aber er gibt Hinweise. Und das auf eine sehr tiefgründige, lesenswerte Art. Hat der Leser sich erst an Prousts Stil gewöhnt, sind die rund viertausend Seiten „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ein wahrer Genuss und keine – verlorene Zeit.

Dienstag, 7. Februar 2023

Werte geben Halt und Struktur

 

Eine Gesellschaft ähnelt einer Stadt mit schiefen Häusern, haltlos ohne Werte, aber auch verbogen von Werten

Werte verlängern Krieg

In beiden Weltkriegen galten hohe Werte: Treue, Loyalität, Ehre, Vaterlandsliebe, Selbstaufopferung, Kameradschaft, Gehorsam und so weiter. Es waren Werte, die zu Kriegen gehören und sie befördern. Sie waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der Gesellschaft implementiert. Davon zeugt zum Beispiel der Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann. Der Staat war hierarchisch organisiert und auch die Zivilgesellschaft hatte eine militärische Attitüde. Die Werte wuchsen Jahrzehnte in Frieden heran und wurden nicht für einen Krieg geschaffen. Sie führten in den Krieg, weil sie langfristig dafür geeignet waren.

Auch wenn der Kriegsbeginn letztlich von Regierungen vollzogen wurde, jubelte doch auch das Volk. Die Grausamkeiten entbehrten zu Beginn jeder Vorstellung und als sie offenkundig zu Tage traten, griffen die oben genannten Werte, um den Krieg um jeden Preis fortzuführen.

Werte sind stärker als jede Vernunft

Es ist eine komische Sache mit den Werten. Fast scheint es, als seien sie der Geist, der Gutes will und Böses schafft. Sie geben den Menschen Halt und Struktur, aber sie führen sie auch in den Abgrund. Das war noch mehr im Zweiten Weltkrieg der Fall, denn er wurde als Vernichtungskrieg angelegt. Nicht nur Soldaten gingen in den Tod, sondern auch Millionen von Zivilisten, die ermordet wurden. Und auch hierfür gab es Werte, die angenommen und befolgt wurden. Einer der obersten Werte hieß Pflichterfüllung. In seinem Namen machte die Masse den Wahnsinn mit. Jeder einzelne hat in seinem Umfeld dazu beigetragen. Dieser Wert der Pflichterfüllung war so stark, dass noch Jahrzehnte nach dem Krieg Deserteure verunglimpft wurden, obwohl sie im Kleinen dazu beigetragen hatten, den Krieg ein wenig früher zu beenden. Dennoch galten sie lange als Vaterlandsverräter.

Manchmal sind Werte stärker als jede Vernunft. Das ist schwer zu ertragen, weil Werte grundsätzlich als positiv angesehen werden. Doch das ist nur die menschliche Sichtweise. Tatsächlich sind Werte, wie schon erwähnt, neutral. Sie sind Container für menschliche Vorstellungen von wünschenswertem Verhalten. Wenn die Menschheit in ihre Ansicht schwankt, so schwanken auch die Werte.

Eventuell sind die Werte eine Maßzahl für den Zustand der menschlichen Gesellschaft in einem bestimmten Augenblick ihrer Geschichte. An ihr lassen sich Denken und Handeln der Menschheit ablesen. Allerdings ist dabei Vorsicht geboten, denn was heute als schrecklich gilt, war zu seiner Zeit vielleicht eine neue Errungenschaft.

Container menschlichen Verhaltens

Werte kommen aus der Zeit und gehen in die Zeit. Selbst die beständigsten verändern zumindest ihren Habitus, selbst wenn sie vom Grundsatz bleiben. Werte sind opportunistisch und launisch. War es lange üblich, dass Männer Krawatte tragen, ist es im Moment eher die Ausnahme. Doch genauso gut kann sich dies in absehbarer Zeit auch wieder ändern. Dann wird plötzlich schief angesehen, wer keine Krawatte trägt.

Es ist schwer, den Werten zu folgen. Wer weiß schon in jedem Augenblick, was richtig oder falsch ist. Ob ein Werte gilt und falls es gilt, wie schlimm ein Verstoß gegen ihn ist. Manche Werte werden nie für einen Moment hochgehalten, um dann wieder fallengelassen zu werden. Andere dulden keinen Widerspruch. Meist ist das Vergehen nicht der Verstoß gegen einen Wert, sondern sich dabei erwischen zu lassen. Überhaupt sind diejenigen, die Werte besonders preisen, meist auch diejenigen, die sie in unbeobachteten Momenten mit Füßen treten. Aber unter Umständen macht erst die Möglichkeit des Verstoßes Werte wirklich stark.

Wenn Werte Container menschlichen Verhaltens sind, stellt sich die Frage, auf welche Weise sie bepackt, gestapelt, transportiert, umgestellt und schließlich ausgepackt werden. Wie gelangen Werte aus dem kollektiven Strom in die Container, in Umlauf und schließlich in Gebrauch? Welche Kräfte wirken, wie tragen Menschen dazu bei?

Jeder Mensch besitzt einen Container voller Werte. Er enthält eine Mischung aus allgemeinen und veränderlichen Werten, wobei es selbstverständlich Überschneidungen gibt. Alle diese Werte stammen aus dem kollektiven Strom. Der Unterschied zwischen Ihnen ist die Verinnerlichung durch die einzelnen Menschen. Es ist individuell, wer welchen Wert besonders lebt, andere akzeptiert und viele mehr oder weniger außer Acht lässt.

Erfahrung ist ein Treiber für den Wertewandel

Da der Mensch zum Träger und Übermittler seiner Werte wird, beeinflussen sich die Wertcontainer über die Menschen gegenseitig. Freunde und Familie teilen oft Werte und sind sich deshalb besonders nah. Andererseits entstehen aus unterschiedlichen Werten Zwistigkeiten und Streit.

Zurück zu den Containern. Sie sind nicht ein für alle Mal gepackt. Es findet ein ständiger Austausch zwischen ihnen statt. Das führt manchmal zum Ausspruch: „Ich erkenne dich gar nicht wieder!“, wenn Menschen sich verändert haben. Veränderung hat sehr viel mit einem persönlichen Wertewandel zu tun.

Einer der stärksten Treiber für den Wertewandel ist Erfahrung. Je mehr Einflüssen ein Mensch ausgesetzt ist, desto mehr unterschiedliche Werte lernt er kennen. Manchmal passt er seine Werte darauf hin an, ein anderes Mal lässt er sich von neuen Werten überzeugen. Vielleicht ernährt er sich nur noch vegetarisch oder engagiert sich aktiv in einer Partei. Ganz gleich was es ist, im Laufe des Lebens ändern und ergänzen sich die Werte eines Menschen immer wieder. Das führt zu neuen Freundschaften, während andere enden. Übrigens wird als Langweiler bezeichnet, wer ein gleichförmiges Leben führt. Dieser Mensch hält an denselben Werten fest und verändert unumstößlich nichts.

Manche Container werden also einmal gepackt und sind dann auf immer geordnet. Andere quellen förmlich über von einer bunten und oftmals neuen Mischung von Werten. Es ist, als hätte einer seinen Container fest verschlossen und den Schlüssel weggeworfen, während einige seiner Mitmenschen gar nicht erwarten können, immer wieder umzupacken.

Sonntag, 20. November 2022

Sonntag

 

Menschen hetzen mit Einkaufstaschen eine Straße entlang, vermutlich an einem Sonntag
Der Existenzialismus hat über Aprikosen-Cocktails philosophiert. Weshalb also nicht über den Sonntag nachdenken? 

Was macht diesen Wochentag besonders? Abgesehen von seiner religiösen Bedeutung, die für die meisten Menschen sowieso keine Rolle mehr spielt. Ist es nur die Abwesenheit von Arbeit?

Nein, es ist die Abwesenheit von fast allem. Das Leben reduziert sich auf die Frage, welche Brötchen zum Frühstück die richtigen sind. Es gibt keine Post, weniger Anrufe und kaum Anforderungen. Keine Entscheidungen sind zu treffen. Jedenfalls keine von Bedeutung. 

Das genau macht den Sonntag zu einem besonderen Tag in der Woche. Er bremst das Gehirn.

Zeit zum Konsumieren

Umso bedenklicher die gesellschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre. Geöffnete Läden, ausgedehnte Arbeit, keine Ruhe. Wirtschaft und Gesellschaft zwingen die Menschen, auch  am Sonntag folgenschwere Entscheidungen zu treffen. Davon ausgehend, dass sie an diesem Tag besonders viel Zeit haben.

Die Frage ist: Zeit wofür? Bestimmt nicht für die Werbeanrufe eines Call Centers. Die nerven. Für Familie, für Hobbys? Nein, Zeit für das Lagerfeuer. Hinein starren und im Widerschein das eigene Leben finden. Kein Witz. Über Jahrtausende hat das funktioniert. Lagerfeuer und Geschichten. Inspirierend.

Heute löst das eher ein schlechtes Gewissen aus. Es ist nicht produktiv. Kein Kümmern um Kinder und Enkel. Kein Haushalt. Keine Gartenarbeit. Keine sozialen Beziehungen.

Halt, stop! Natürlich ist das Starren ins Lagerfeuer ein sozialer Akt. Schließlich starrt niemand allein. Jeder ist zwangsläufig ein soziales Wesen, der nicht im Umkreis von mindestens einem Kilometer allein lebt.

Allerdings entspricht das nicht dem dem Denken der heutigen Zeit. Ein sozialer Mensch ist nur derjenige, der nützlich ist, der produziert und konsumiert. Und sei es das Backen und Kochen für die Familie. 

Genau das ist das gesellschaftliche Problem von Sonntagen: Es wird zu wenig produziert und konsumiert. Weshalb es die verkaufsoffenen Sonntage gibt sowie die offenen Geschäfte an Bahnhöfen, Flughäfen und in Orten des Tourismus. Ausnahmen über Ausnahmen.

Der Sonntag ist heilig. Ha! Der Sonntag steht zur Disposition.

Die Menschen wollen mehr Möglichkeiten zum Konsum

Das entspricht der Entwicklung der Gesellschaft. Schließlich kann jeder auch an Sonntagen shoppen gehen. Weshalb dann nicht in Einkaufszentren und Ladenzeilen?

Der Sonntag löst sich als Ruhetag, als Tag der Entscheidungsfreiheit auf. Das ist bedauerlich. 

Was also bleibt vom Sonntag? Nichts, außer einem für viele arbeitsfreien Tag, der sich perfekt eignet, um zu konsumieren. 

Ist es wirklich das, was die Menschen wollen? Anscheinend, ja. Es steckt ihnen sozusagen im Blut: Früher war das Konsumieren in Form von Sammeln und Jagen lebensnotwendig - und das ist es für die Masse der Menschen noch immer. Im übertragenen Sinn, natürlich.

Wobei ein kleiner Prozentsatz tatsächlich erforderlich ist - unter anderem der Einkauf von Lebensmittel und Hygieneartikeln sowie die Grundausstattung zum Wohnen und Kleiden. Das meiste darüber hinaus dient der Befriedigung imaginärer Bedürfnisse, die von Marketingabteilungen erzeugt werden.

Zurück zum Sonntag. Wäre es nicht großartig, auch das Konsumieren ruhen zu lassen? Einen Tag in der Woche kein Geld auszugeben und vom Marktteilnehmer, vom Konsumenten zum einfachen Menschen zu werden?

Doch genau das wird nicht geschehen. Im Gegenteil. Die Menschen werden gerne annehmen, wenn noch mehr Möglichkeiten zum Konsum am Sonntag geschaffen werden.

Sogar orthodoxe Juden suchen nach Schlupflöchern im biblischen Verbot, am Sabbat zu arbeiten. In der Nähe von Jerusalem wurde schon vor Jahrzehnte das Zomet-Institut gegründet, das Arbeitsleistungen von technischen Geräten und die Auslegung des Talmud zusammenbringt. Damit auch am Sabbat zum Beispiel telefoniert werden darf.