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Sonntag, 12. November 2023

Die Individualität der Masse

Der einzelne Mensch sucht nach Individualität, geht aber in der alles gleichmachenden Masse unter.
Die Einzelnen sind die kleinsten Bestandteile einer Masse. Ähnlich Wassermolekülen, die zusammen einen stillen See, reißenden Fluss oder Tropfen auf einem regennassen Blatt bilden. Weil diese kleinsten Bestandteile sehr zahlreich sind und sich im Grunde alle gleichen, müssen sie ihre Individualität betonen, um sich voneinander abzuheben. Deshalb lassen sie sich Tattoos stechen, die Haare zu auffälligen Frisuren zurechtmachen und ihre Körper auf weitere originelle Arten gestalten. Beliebt sind auch abgefahrene Klamotten, modische Accessoires, teure Vehikel und Luxusimmobilien. Je nach Bedarf und Kaufkraft. Bei all dem geht es darum, der Masse zu entfliehen. Doch das ist unmöglich. Wir alle kleben durch Kräfte aneinander, die sich kaum lösen lassen: Familienbanden, Freundschaften, gesellschaftliche Verpflichtungen, Erwerbstätigkeit, Freizeitaktivitäten und die Dinge, die uns umgeben. Gerade wegen dieser offensichtlichen Gleichheiten sind die einzelnen Menschen ständig auf der Suche nach Einzigartigkeit, mit der sie sich von anderen abheben. So entsteht in Kunst und Gesellschaft die Avantgarde. Seien es die Punkbewegung, Rap und Graffiti oder Modestile. Diese neuen Trends sind kurzfristig tatsächlich individuell, bevor die Masse sie für sich entdeckt. Dann werden sie gleichsam aufgesogen und adaptiert. Als massentaugliche Produkte prägen sie ein Lebensgefühl zu einer gewissen Zeit, verlieren dadurch aber nicht nur ihre Individualität, sondern auch jede inhaltliche Aussage. Die Aufbereitung für die Masse verdammt neue Trends zur Bedeutungslosigkeit durch Gleichmacherei. 

Gruppenrituale

Gibt es also so etwas wie Individualität überhaupt oder ist die Idee von der Einzigartigkeit ein bloßes Hirngespinst? Das Ich als ein in sich abgeschlossener körperlicher und geistiger Raum mit einer eigenständigen Ideen-, Gefühls- und Erlebniswelt ist im Laufe der Menschheitsgeschichte ständig angewachsen. Dabei entfernten sich die einzelnen Individuen mehr und mehr voneinander. So sehr, dass sie sich bald gegeneinander abgrenzten. Sie erkannten ihr eigenes Sein und das Ich der Anderen. Doch erkannten sie sich auch in den Anderen. Das Ich fühlte sich zum Ich hingezogen. Obwohl es ihm fremd erschien, war es ihm gleichermaßen vertraut. Es dachte ähnlich, es verhielt sich ähnlich. Und doch war es verschieden, getrennt durch eine körperliche Barriere. Weil sie getrennt waren, kamen die einzelnen Ichs sich ständig in die Quere, auch oder vielleicht gerade aufgrund ihrer Ähnlichkeiten. Sie wollten dasselbe, doch nur ein Ich konnte es haben. Das führte zur Konkurrenz und die Konkurrenz zur Abgrenzung – denn kein Ich wollte gegen ein gleiches Ich antreten. Besonders augenscheinlich ist diese Abgrenzung in den Uniformen und Fahnen verschiedener Armeen zu erkennen. Ein Ich tötet leichter ein fremdartig erscheinendes anderes Ich als ein ähnliches. Je weniger ein Ich einem anderen Ich gleicht, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer Konfrontation. Deshalb entwickeln Gruppen gemeinsame Rituale. Sie sind identitätsstiftend und geben jedem Ich, das die Rituale kennt und ausführt, ein Gefühl seiner Zugehörigkeit. 

Das Ich geht weitgehend im Wir der Gruppe auf

Werte entstehen in diesem Fall als eine Art Uniform. Nur Angehörige einer Gruppe wissen um die richtigen Werte, verinnerlichen sie und wenden sie korrekt an. Fremde gehen mit den Werten wie mit einer gelernten Sprache um: Sie verlieren selten ihren Akzent, benutzen Redewendungen in falschen Zusammenhängen und kommen kaum mit Slang oder Mundart zurecht. Unweigerlich fallen sie auf und werden als nicht zugehörig erkannt. Ein Asiat in Lederhose ist genauso exotisch, wie ein sprechender Papagei. Niemand führt mit einem Papagei eine ernsthafte Unterhaltung und der Asiat in Lederhose wird niemals ein waschechter Bayer sein. Werte verbinden und grenzen gleichzeitig aus. Sie geben jedem Ich eine Kennung, die es mit anderen Ichs teilt. Damit schränken sie Individualität ein, betonen aber einen Gruppencharakter. Werte machen den Anderen zum Freund oder Feind, indem sie sein Verhalten reglementieren und die Reaktion dokumentieren. Bezeichnend ist das Verhalten der sozialistischen Arbeiterbewegung zu Beginn des ersten Weltkriegs im Sommer 1914. Trotz eines jahrzehntelang beschworenen Internationalismus stellten sich die jeweiligen Arbeiterbewegungen der Länder nach nur kurzer Diskussion hinter die Regierungen ihrer Nationalstaaten, um gegen ihre „Klassenbrüder“ in den Krieg zu ziehen. Ein schwerer Rückschlag für die Idee einer solidarischen Arbeiterschaft. Fahnen und Hymnen der eigenen Gruppe sind im Zweifel wertvoller als gemeinsame wirtschaftliche und politische Interessen innerhalb verschiedener Gruppen. Die eigene Individualität wird dabei den Werten der Gemeinschaft untergeordnet. Die Uniformität der Werte materialisiert sich beispielsweise in dem millionenfachen Soldatenrock. Das Ich beschränkt sich auf ein Minimum seiner selbst und geht weitgehend im Wir der Gruppe auf.

Merkmale verstärken Vorurteile

Dagegen werden die Ichs außerhalb der Gruppe geradezu entmenschlicht – zum Beispiel durch schlechtes Gerede, abwertende Witze und entstellende Karikaturen. Ihnen werden die Werte der Gruppe abgesprochen und sie erhalten das Etikett „böse“. Dabei werden gewissen Verhaltensweisen, Glaubenssätze und äußerliche Merkmale als Stereotype für die gesamte Gruppe verwendet. Werden sie weit genug gefasst, treffen einige davon auf die meisten Menschen der ausgewählten Gruppe zu. Allerdings nicht nur auf sie, sondern auch auf zahlreiche Menschen anderer Gruppen – was geflissentlich übersehen wird. Keine Gruppe – und auch kein einzelner Mensch – lässt sich ausschließlich durch einzelne Merkmale beschreiben. Doch sind diese Merkmale immer Teil einer Gruppe und eines Menschen. Werden sie besonders betont, fällt das Augenmerk Anderer bald auf sie und nach einiger Zeit werden sie aus Gewohnheit der Gruppe oder dem Menschen zugeordnet. Ist der Blick durch Manipulation getrübt, lässt sich aus dem Aussehen jedes Menschen ein negatives Bild oder eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit herauslesen. Manchmal übrigens auch ohne jegliche negativen Absichten. Ist zum Beispiel der Beruf eines Menschen bekannt, sieht er plötzlich auch wie ein Arzt, Professor, Handwerker, Lehrer oder Landwirt aus. Merkmale verstärken Vorurteile. Manch einer stört sich an der typisch genannten lärmenden Lautstärke von Südländern, ohne zu bemerken, dass er aufgrund seiner eigenen Schwerhörigkeit selbst sehr laut spricht und seiner Umgebung damit auf die Nerven geht. Doch die Mitmenschen, die seiner Gruppe angehören, sehen darüber hinweg und schimpfen über die viel zu lauten Ausländer.


Samstag, 11. Februar 2023

Die verlorenen Seelen

 

Der Ich-Erzähler bei Proust ähnelt in gewisser Weise Don Quichotte, der einer eingebildeten Gesellschaft dient

Leidenschaften und Begierden

Der Mensch ist verzweifelt auf der Suche nach dem Menschen. Wo findet er ihn, wo verliert er ihn wieder? Marcel Proust sucht in der Vergangenheit. Er rekapituliert, was es mit der menschlichen Gesellschaft auf sich hat. Mit dem Blick des kranken, bettlägerigen Autors durchdringt er nach und nach die Oberfläche des Beziehungsgeflechts und stößt in den darunter liegenden Schichten auf den eigentlichen Antrieb des Menschen: seine Leidenschaften und Begierden. Es ist das Unerhörte, in dem der Mensch den Menschen findet und wieder verliert.

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kommt so monumental, so verwirrend wie die Gesellschaft selbst daher. Was sollen die überlangen Sätze und die verschachtelte Struktur? Anfangs bleibt das Werk eher unverständlich. Doch je weiter der Leser sich vorwagt, ohne Geduld und Mut zu verlieren, desto mehr begreift er den Zusammenhang zwischen Sprache und Erzählung, zwischen den Bildern der Handlung und eigenen Gedanken, die er sich über Orte und Figuren macht. Er taucht ein in die Welt, fremd und fern, doch seltsam vertraut. Die Welt der menschlichen Gesellschaft.

Die Vergangenheit beschreibt die Gegenwart

Zwar ist bei Proust die Welt in den französischen Adelskreisen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt. Doch das Buhlen um Anerkennung, Freundschaft und Förderung, die Angst vor Ausgrenzung, Ablehnung und üblem Gerede ist auch heute allgegenwärtig. Selbst wenn sein Roman inzwischen mehr als einhundert Jahre alt ist, beschreibt Proust de facto jede menschliche Gesellschaft. Denn das Spielen von Rollen, die Verleugnung des wirklichen Lebens, das Herumscharwenzeln, um sich gegenseitig doch zu erkennen und das Fallen von Masken in manchen Situationen, sind auch den Menschen im Hier und Jetzt bestens vertraut.

Wenn der Ich-Erzähler sich danach sehnt, in die adlige Gesellschaft seiner Zeit aufgenommen zu werden, wird der Leser gewahr, wie sehr er selbst darum kämpft, dazuzugehören. Es ist fast ein persönlicher Erfolg, als der Autor es endlich schafft, eine Einladung in einen bekannten Salon zu erhalten. Staunend tritt er ein und der Leser staunt mit ihm.

Es eröffnet sich eine geheimnisvolle Welt, die bisher hinter undurchdringlichen Türen fest verschlossen war. Der Erzähler wird in diese Welt eingeführt und verweilt von nun an in ihr. Es ist ihm ein großes Vergnügen und er ist stolz von den Menschen, die er bewundert, anerkannt zu sein. Eine Weile genießt er den Umgang und der Leser mit ihm.

Bald setzt jedoch Ernüchterung ein. Was sind das für Gespräche? Worum geht es eigentlich? Die Herzogin von Guermantes, die der Erzähler angehimmelt hat und deren Erscheinen auf der Straße er lange nicht hatte abwarten können, entpuppt sich als charmante, aber auch ein wenig langweilige Gastgeberin. Die Empfänge in ihrem Salon sind Rituale, die feste und erstarrte Regeln befolgen. Gespräche sind eine Aneinanderreihung leerer Floskeln. Besonders deutlich wird dies später im Roman bei der Diskussion über die Dreifuß-Affäre. Ausgetauscht werden Allgemeinplätze. Jeder vertritt eine Meinung, auf der er beharrt. Es gibt keinen großen Unterschied zu einer Stammtischdiskussion über die Politik der Gegenwart.

Die Leiden der Eifersucht

Proust entwickelt sich immer mehr vom Teilnehmer zum Beobachter der Gesellschaft. Er hat sein Ziel erreicht, bald werden seine Besuche in den Salons zur verpflichtenden Routine. Selbst am Strand in Combray holt ihn die Last seiner Bekanntschaften ein. Wobei er mit Baron de Charlus auf eine interessante Persönlichkeit trifft, die im weiteren Verlauf des Romans eine herausragende Stellung einnehmen wird. Denn dieser Charlus ist nicht das, was er vorgibt zu sein. 

Doch zunächst lernt der Ich-Erzähler die Leiden der Eifersucht kennen. Er versuchte seine Geliebte Albertine einzusperren, damit sie immer bei ihm ist. Geht sie aber aus, ist er unruhig und vergeht vor Phantasien, mit welchen anderen Männern sie sich vergnügt. Sehen sie sich wieder, macht er ihr bittere Vorwürfe. Sie hält es nicht lange mit ihm aus, während für Proust die Eifersucht ein tiefes Gefühl ist.

Wo finden wir einen Menschen, wo verlieren wir ihn wieder? Für Proust sind es die Leidenschaften, die Menschen zusammenbringen oder trennen. Wie bei Swann, der aus Eifersucht unstandesgemäß geheiratet hat und dafür von der Gesellschaft missachtet wird.

Baron de Charlus geht einen anderen Weg. Er spielt die Rolle des männlichsten Mannes. Bis er in einer Schlüsselszene des Romans einer zufälligen Bekanntschaft sein wahres Ich enthüllt. Die beiden schwulen Männer erkennen sich und verschwinden in einer Wohnung im Hinterhof.

Ein langer Weg für Autor und Leser

Es ist der Schein, den Proust nach und nach aufdeckt. Selbst langjährige Freundschaft ist in der Gesellschaft nichts als Schein. Denn als der todkranke Swann einen letzten Besuch bei seiner Freundin, der Herzogin von Guermantes, macht, wird er aus Zeitgründen hinauskomplimentiert. Allerdings hat die Herzogin genug Zeit, um die Schuhe zu wechseln, damit sie zu ihrem Kleid passen. Diese roten Schuhe der Herzogin von Guermantes sind das Symbol schlechthin für die Oberflächlichkeit in den Beziehungen der Menschen. 

Tatsächlich ist es die Zeit, die alternde Gesellschaft, die sich selbst entblößt. Als der Ich-Erzähler nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt zurückkehrt, ist er entsetzt über das greise Aussehen seiner Bekannten. Bis er zufällig in einen Spiegel blickt und sich selbst im Alter erkennt.

Vielleicht lehrt die Zeit den Menschen, dass er nie auf der Suche nach anderen ist, sondern immer nur nach sich. Die Gesellschaft mag zerfallen, wie bei Proust durch den Ersten Weltkrieg. Der Autor hat aus diesem Grund sein Werk um einen weiteren Band fortgeführt. Nur, um die von ihm beschriebene Gesellschaft endgültig zu zertrümmern. Der alternde Baron de Charlus verliert im Sado-Maso Club den letzten Rest seiner Würde. Die Unzulänglichkeiten der Gesellschaft treten in aller Brutalität zu Tage.

Es ist ein langer Weg für Proust und seine Leser vom neugierig tastenden Eintritt in die Gesellschaft über das genaue Kennenlernen und die spürbare Langeweile bis zu ihrem Untergang durch Alter, Krieg und Tod.

Der Mensch jagt auf der Suche nach Menschen an ihm vorbei. Denn es sind nur Vorstellungen, um derentwillen er sein Leben führt. Und diese Vorstellungen erweisen sich allzu oft als Chimären. Während am Wegesrand die eine oder andere Blume erblüht, an der die Menschen meist achtlos vorübergehen.

Erst im Rückblick erkennen sie, was sie hatten und was sie übersehen haben. Es sind die eigenen Unzulänglichkeiten, an denen sie scheitern und die sie in die Gesellschaft tragen, die schließlich nur das Produkt all der Menschen ist, die sie ausmacht. Allein durch die menschlichen Schwächen ist die Suche nach Menschen vergebens. Denn sie suchen nach vollkommenen Menschen und finden doch immer nur Teile, während anderes sie abstößt oder ihnen Schwierigkeiten bereitet.

Der Erste Weltkrieg ist der alles entscheidende Wendepunkt

Exemplarisch macht Proust das in der Person des Baron des Charlus deutlich. Er tritt als arroganter alles beherrschender Mann auf und ist hinter der Maske seiner Rolle doch mehr als unglücklich. Folgerichtig reißt ihm der Erzähler am Ende des Romans die Maske vom Gesicht und es bleibt nur noch ein alter, viel zu dick geschminkter Mann, der sein Leben damit verschwendet hat, sich zu verstecken und aus seinem Versteck heraus nach Menschen zu suchen, denen er sich zu erkennen geben durfte. Der Gesellschaft untergeordnet, die er selbst mitbegründet hat.

Dadurch wird deutlich, dass nicht der Mensch im Mittelpunkt steht sondern die Intuition, die Gesellschaft als solche. Oder mit anderen Worten: die Masse. Der einzelne Mensch genießt nur manchmal ihre Gunst. Für einen kurzen Moment wird er zu ihrer Inkarnation, zu der Gestalt, die von der Masse gewollt ist. Ein wenig später sind die fünf Minuten seines Ruhms auch schon wieder vorbei.

Bei Proust ist der alles entscheidende Wendepunkt der Erste Weltkrieg. Er verändert alles. Die Gesellschaft huldigt neuen Günstlingen. Der Adel geht als führende Schicht unter und verharrt in starren Ritualen und Erinnerungen. So enden nicht nur individuelle Leben. Eine ganze Epoche findet einen jähen Abschluss im Untergang des alten Europa.

Nur eines ändert sich nicht: Der Mensch ist noch immer verzweifelt auf der Suche nach Menschen.

Wo findet er ihn in der heutigen Gesellschaft? Wo verliert er ihn wieder? Die Fragestellungen bleiben dieselbe. Insoweit ist der Roman von Marcel Proust auch in unserer Zeit sehr aktuell. Er löst die Fragen natürlich nicht. Aber er gibt Hinweise. Und das auf eine sehr tiefgründige, lesenswerte Art. Hat der Leser sich erst an Prousts Stil gewöhnt, sind die rund viertausend Seiten „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ein wahrer Genuss und keine – verlorene Zeit.

Dienstag, 7. Februar 2023

Werte geben Halt und Struktur

 

Eine Gesellschaft ähnelt einer Stadt mit schiefen Häusern, haltlos ohne Werte, aber auch verbogen von Werten

Werte verlängern Krieg

In beiden Weltkriegen galten hohe Werte: Treue, Loyalität, Ehre, Vaterlandsliebe, Selbstaufopferung, Kameradschaft, Gehorsam und so weiter. Es waren Werte, die zu Kriegen gehören und sie befördern. Sie waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der Gesellschaft implementiert. Davon zeugt zum Beispiel der Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann. Der Staat war hierarchisch organisiert und auch die Zivilgesellschaft hatte eine militärische Attitüde. Die Werte wuchsen Jahrzehnte in Frieden heran und wurden nicht für einen Krieg geschaffen. Sie führten in den Krieg, weil sie langfristig dafür geeignet waren.

Auch wenn der Kriegsbeginn letztlich von Regierungen vollzogen wurde, jubelte doch auch das Volk. Die Grausamkeiten entbehrten zu Beginn jeder Vorstellung und als sie offenkundig zu Tage traten, griffen die oben genannten Werte, um den Krieg um jeden Preis fortzuführen.

Werte sind stärker als jede Vernunft

Es ist eine komische Sache mit den Werten. Fast scheint es, als seien sie der Geist, der Gutes will und Böses schafft. Sie geben den Menschen Halt und Struktur, aber sie führen sie auch in den Abgrund. Das war noch mehr im Zweiten Weltkrieg der Fall, denn er wurde als Vernichtungskrieg angelegt. Nicht nur Soldaten gingen in den Tod, sondern auch Millionen von Zivilisten, die ermordet wurden. Und auch hierfür gab es Werte, die angenommen und befolgt wurden. Einer der obersten Werte hieß Pflichterfüllung. In seinem Namen machte die Masse den Wahnsinn mit. Jeder einzelne hat in seinem Umfeld dazu beigetragen. Dieser Wert der Pflichterfüllung war so stark, dass noch Jahrzehnte nach dem Krieg Deserteure verunglimpft wurden, obwohl sie im Kleinen dazu beigetragen hatten, den Krieg ein wenig früher zu beenden. Dennoch galten sie lange als Vaterlandsverräter.

Manchmal sind Werte stärker als jede Vernunft. Das ist schwer zu ertragen, weil Werte grundsätzlich als positiv angesehen werden. Doch das ist nur die menschliche Sichtweise. Tatsächlich sind Werte, wie schon erwähnt, neutral. Sie sind Container für menschliche Vorstellungen von wünschenswertem Verhalten. Wenn die Menschheit in ihre Ansicht schwankt, so schwanken auch die Werte.

Eventuell sind die Werte eine Maßzahl für den Zustand der menschlichen Gesellschaft in einem bestimmten Augenblick ihrer Geschichte. An ihr lassen sich Denken und Handeln der Menschheit ablesen. Allerdings ist dabei Vorsicht geboten, denn was heute als schrecklich gilt, war zu seiner Zeit vielleicht eine neue Errungenschaft.

Container menschlichen Verhaltens

Werte kommen aus der Zeit und gehen in die Zeit. Selbst die beständigsten verändern zumindest ihren Habitus, selbst wenn sie vom Grundsatz bleiben. Werte sind opportunistisch und launisch. War es lange üblich, dass Männer Krawatte tragen, ist es im Moment eher die Ausnahme. Doch genauso gut kann sich dies in absehbarer Zeit auch wieder ändern. Dann wird plötzlich schief angesehen, wer keine Krawatte trägt.

Es ist schwer, den Werten zu folgen. Wer weiß schon in jedem Augenblick, was richtig oder falsch ist. Ob ein Werte gilt und falls es gilt, wie schlimm ein Verstoß gegen ihn ist. Manche Werte werden nie für einen Moment hochgehalten, um dann wieder fallengelassen zu werden. Andere dulden keinen Widerspruch. Meist ist das Vergehen nicht der Verstoß gegen einen Wert, sondern sich dabei erwischen zu lassen. Überhaupt sind diejenigen, die Werte besonders preisen, meist auch diejenigen, die sie in unbeobachteten Momenten mit Füßen treten. Aber unter Umständen macht erst die Möglichkeit des Verstoßes Werte wirklich stark.

Wenn Werte Container menschlichen Verhaltens sind, stellt sich die Frage, auf welche Weise sie bepackt, gestapelt, transportiert, umgestellt und schließlich ausgepackt werden. Wie gelangen Werte aus dem kollektiven Strom in die Container, in Umlauf und schließlich in Gebrauch? Welche Kräfte wirken, wie tragen Menschen dazu bei?

Jeder Mensch besitzt einen Container voller Werte. Er enthält eine Mischung aus allgemeinen und veränderlichen Werten, wobei es selbstverständlich Überschneidungen gibt. Alle diese Werte stammen aus dem kollektiven Strom. Der Unterschied zwischen Ihnen ist die Verinnerlichung durch die einzelnen Menschen. Es ist individuell, wer welchen Wert besonders lebt, andere akzeptiert und viele mehr oder weniger außer Acht lässt.

Erfahrung ist ein Treiber für den Wertewandel

Da der Mensch zum Träger und Übermittler seiner Werte wird, beeinflussen sich die Wertcontainer über die Menschen gegenseitig. Freunde und Familie teilen oft Werte und sind sich deshalb besonders nah. Andererseits entstehen aus unterschiedlichen Werten Zwistigkeiten und Streit.

Zurück zu den Containern. Sie sind nicht ein für alle Mal gepackt. Es findet ein ständiger Austausch zwischen ihnen statt. Das führt manchmal zum Ausspruch: „Ich erkenne dich gar nicht wieder!“, wenn Menschen sich verändert haben. Veränderung hat sehr viel mit einem persönlichen Wertewandel zu tun.

Einer der stärksten Treiber für den Wertewandel ist Erfahrung. Je mehr Einflüssen ein Mensch ausgesetzt ist, desto mehr unterschiedliche Werte lernt er kennen. Manchmal passt er seine Werte darauf hin an, ein anderes Mal lässt er sich von neuen Werten überzeugen. Vielleicht ernährt er sich nur noch vegetarisch oder engagiert sich aktiv in einer Partei. Ganz gleich was es ist, im Laufe des Lebens ändern und ergänzen sich die Werte eines Menschen immer wieder. Das führt zu neuen Freundschaften, während andere enden. Übrigens wird als Langweiler bezeichnet, wer ein gleichförmiges Leben führt. Dieser Mensch hält an denselben Werten fest und verändert unumstößlich nichts.

Manche Container werden also einmal gepackt und sind dann auf immer geordnet. Andere quellen förmlich über von einer bunten und oftmals neuen Mischung von Werten. Es ist, als hätte einer seinen Container fest verschlossen und den Schlüssel weggeworfen, während einige seiner Mitmenschen gar nicht erwarten können, immer wieder umzupacken.