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Dienstag, 7. Februar 2023

Werte geben Halt und Struktur

 

Eine Gesellschaft ähnelt einer Stadt mit schiefen Häusern, haltlos ohne Werte, aber auch verbogen von Werten

Werte verlängern Krieg

In beiden Weltkriegen galten hohe Werte: Treue, Loyalität, Ehre, Vaterlandsliebe, Selbstaufopferung, Kameradschaft, Gehorsam und so weiter. Es waren Werte, die zu Kriegen gehören und sie befördern. Sie waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der Gesellschaft implementiert. Davon zeugt zum Beispiel der Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann. Der Staat war hierarchisch organisiert und auch die Zivilgesellschaft hatte eine militärische Attitüde. Die Werte wuchsen Jahrzehnte in Frieden heran und wurden nicht für einen Krieg geschaffen. Sie führten in den Krieg, weil sie langfristig dafür geeignet waren.

Auch wenn der Kriegsbeginn letztlich von Regierungen vollzogen wurde, jubelte doch auch das Volk. Die Grausamkeiten entbehrten zu Beginn jeder Vorstellung und als sie offenkundig zu Tage traten, griffen die oben genannten Werte, um den Krieg um jeden Preis fortzuführen.

Werte sind stärker als jede Vernunft

Es ist eine komische Sache mit den Werten. Fast scheint es, als seien sie der Geist, der Gutes will und Böses schafft. Sie geben den Menschen Halt und Struktur, aber sie führen sie auch in den Abgrund. Das war noch mehr im Zweiten Weltkrieg der Fall, denn er wurde als Vernichtungskrieg angelegt. Nicht nur Soldaten gingen in den Tod, sondern auch Millionen von Zivilisten, die ermordet wurden. Und auch hierfür gab es Werte, die angenommen und befolgt wurden. Einer der obersten Werte hieß Pflichterfüllung. In seinem Namen machte die Masse den Wahnsinn mit. Jeder einzelne hat in seinem Umfeld dazu beigetragen. Dieser Wert der Pflichterfüllung war so stark, dass noch Jahrzehnte nach dem Krieg Deserteure verunglimpft wurden, obwohl sie im Kleinen dazu beigetragen hatten, den Krieg ein wenig früher zu beenden. Dennoch galten sie lange als Vaterlandsverräter.

Manchmal sind Werte stärker als jede Vernunft. Das ist schwer zu ertragen, weil Werte grundsätzlich als positiv angesehen werden. Doch das ist nur die menschliche Sichtweise. Tatsächlich sind Werte, wie schon erwähnt, neutral. Sie sind Container für menschliche Vorstellungen von wünschenswertem Verhalten. Wenn die Menschheit in ihre Ansicht schwankt, so schwanken auch die Werte.

Eventuell sind die Werte eine Maßzahl für den Zustand der menschlichen Gesellschaft in einem bestimmten Augenblick ihrer Geschichte. An ihr lassen sich Denken und Handeln der Menschheit ablesen. Allerdings ist dabei Vorsicht geboten, denn was heute als schrecklich gilt, war zu seiner Zeit vielleicht eine neue Errungenschaft.

Container menschlichen Verhaltens

Werte kommen aus der Zeit und gehen in die Zeit. Selbst die beständigsten verändern zumindest ihren Habitus, selbst wenn sie vom Grundsatz bleiben. Werte sind opportunistisch und launisch. War es lange üblich, dass Männer Krawatte tragen, ist es im Moment eher die Ausnahme. Doch genauso gut kann sich dies in absehbarer Zeit auch wieder ändern. Dann wird plötzlich schief angesehen, wer keine Krawatte trägt.

Es ist schwer, den Werten zu folgen. Wer weiß schon in jedem Augenblick, was richtig oder falsch ist. Ob ein Werte gilt und falls es gilt, wie schlimm ein Verstoß gegen ihn ist. Manche Werte werden nie für einen Moment hochgehalten, um dann wieder fallengelassen zu werden. Andere dulden keinen Widerspruch. Meist ist das Vergehen nicht der Verstoß gegen einen Wert, sondern sich dabei erwischen zu lassen. Überhaupt sind diejenigen, die Werte besonders preisen, meist auch diejenigen, die sie in unbeobachteten Momenten mit Füßen treten. Aber unter Umständen macht erst die Möglichkeit des Verstoßes Werte wirklich stark.

Wenn Werte Container menschlichen Verhaltens sind, stellt sich die Frage, auf welche Weise sie bepackt, gestapelt, transportiert, umgestellt und schließlich ausgepackt werden. Wie gelangen Werte aus dem kollektiven Strom in die Container, in Umlauf und schließlich in Gebrauch? Welche Kräfte wirken, wie tragen Menschen dazu bei?

Jeder Mensch besitzt einen Container voller Werte. Er enthält eine Mischung aus allgemeinen und veränderlichen Werten, wobei es selbstverständlich Überschneidungen gibt. Alle diese Werte stammen aus dem kollektiven Strom. Der Unterschied zwischen Ihnen ist die Verinnerlichung durch die einzelnen Menschen. Es ist individuell, wer welchen Wert besonders lebt, andere akzeptiert und viele mehr oder weniger außer Acht lässt.

Erfahrung ist ein Treiber für den Wertewandel

Da der Mensch zum Träger und Übermittler seiner Werte wird, beeinflussen sich die Wertcontainer über die Menschen gegenseitig. Freunde und Familie teilen oft Werte und sind sich deshalb besonders nah. Andererseits entstehen aus unterschiedlichen Werten Zwistigkeiten und Streit.

Zurück zu den Containern. Sie sind nicht ein für alle Mal gepackt. Es findet ein ständiger Austausch zwischen ihnen statt. Das führt manchmal zum Ausspruch: „Ich erkenne dich gar nicht wieder!“, wenn Menschen sich verändert haben. Veränderung hat sehr viel mit einem persönlichen Wertewandel zu tun.

Einer der stärksten Treiber für den Wertewandel ist Erfahrung. Je mehr Einflüssen ein Mensch ausgesetzt ist, desto mehr unterschiedliche Werte lernt er kennen. Manchmal passt er seine Werte darauf hin an, ein anderes Mal lässt er sich von neuen Werten überzeugen. Vielleicht ernährt er sich nur noch vegetarisch oder engagiert sich aktiv in einer Partei. Ganz gleich was es ist, im Laufe des Lebens ändern und ergänzen sich die Werte eines Menschen immer wieder. Das führt zu neuen Freundschaften, während andere enden. Übrigens wird als Langweiler bezeichnet, wer ein gleichförmiges Leben führt. Dieser Mensch hält an denselben Werten fest und verändert unumstößlich nichts.

Manche Container werden also einmal gepackt und sind dann auf immer geordnet. Andere quellen förmlich über von einer bunten und oftmals neuen Mischung von Werten. Es ist, als hätte einer seinen Container fest verschlossen und den Schlüssel weggeworfen, während einige seiner Mitmenschen gar nicht erwarten können, immer wieder umzupacken.

Dienstag, 27. Dezember 2022

Die göttliche Macht ist die Menschheit selbst

 

Offenbart sich Gott durch einen Sonnenstrahl in einem Wald am Fluss oder bilden wir uns das nur ein
Ein wichtiger Mittler zwischen dem Ich und den Anderen sind die Geschichten, die sich die Menschen seit Urzeiten erzählen. Sie verbinden die gesellschaftlichen Bruchstücke des kollektiven Stroms zu sinnvollen Einheiten, die beispielhaft fiktive Menschen in Situationen beschreiben, die mit dem Gedankengut des kollektiven Stroms experimentieren. Mal verstoßen sie gegen Werte, mal leben sie nach ihnen. Dem Publikum werden alternative Möglichkeiten angeboten, die sich durch die Wahl der Masse verwirklichen oder verschwinden. Dabei haben manche gesellschaftliche Gruppen größeren Einfluss auf die Gestaltung von Werten. Politische und wirtschaftliche Eliten zum Beispiel.

Der Mensch betet den Menschen an

In diesem Zusammenhang fällt Religion eine tragende Rolle bei der Auswahl gesellschaftlicher Werte aus dem kollektiven Strom zu. Ihre Bedeutung erwächst aus der Fähigkeit, das Bewusstsein des kollektiven Stroms zu einer übernatürlichen Erscheinung abseits jeder menschlichen Erfahrung zu verklären, die sich nicht nur dem menschlichen Einfluss entzieht, sondern auch mystische Eigenschaften besitzt.

Doch die beschworene göttliche Macht ist die Menschheit selbst. Sie ist die Instanz, die über jedem einzelnen Menschen steht. Nichts geschieht ohne Wissen und Zustimmung der Menschheit. Das Individuum verwirklicht sich durch seinen Beitrag zum gemeinschaftlichen Bewusstsein.

"Die Hölle, das sind die anderen", hat Sartre geschrieben. Er hätte genauso schreiben können: "Der Himmel, das sind die anderen." Es sind immer die anderen. Alles sind die anderen. Was das Individuum betrifft, kommt von außerhalb seiner selbst. Es kann nur verarbeiten und reagieren. Die Informationen erreichen das Bewusstsein von außerhalb. Selbst der eigene Körper steht in diesem Sinne außerhalb.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Menschen Götter benötigen, die dieses Außen, die das Andere symbolisieren und die Stelle einnehmen, für die es ansonsten keinen Namen gibt. Religion ist die Essenz des Blicks der Anderen. Die Menschen erkennen dadurch ihr Sein im Verhältnis zum Anderen und ihre eingeschränkte Freiheit durch den Anderen. Vielleicht ist es erträglicher, dafür ein Göttliches anzunehmen, als den anderen Menschen in Form seiner Massenerscheinung als Menschheit.

Religion ist also das übergeordnet Menschliche in mystischem Gewandt. Der Mensch betet, ohne es zu wissen, den Menschen an - und zwar in Form des Anderen, der ihn dabei erwischt, wie er durch ein Schlüsselloch späht. Der Mensch ist nicht allein, da ist jemand, der ihm auf die Finger schaut.

Die Werte sind göttlichen Ursprungs. Sie stehen über dem Menschen. Das bedarf keiner weiteren Erklärung. Religion verlangt nur einen Glauben und hat für Ungläubige keinen Platz. Das ist sehr simpel. Religion ist die Vereinfachung der menschlichen Lebensumstände auf ein paar Gebote.

Doch warum wenden sich dann immer mehr Menschen von Religion ab? Sie wenden sich nur von Kirchen ab, suchen aber nach Geborgenheit in einem Glauben, der ihnen Sicherheit im Anderen verspricht. Denn das ist Religion für den Einzelnen: Ein Mittel gegen das Alleinsein durch einen liebenden Anderen.

Sklaverei zieht sich durch die Geschichte der Menschheit

Brauchen wir den Anderen so sehr, dass wir auch bereit sind, ein mystisches Wesen an unserer Seite als Begleiter durch unser Leben zu akzeptieren?

Der Mensch muss arbeiten, um zu leben. Selbst wenn alles für ihn gemacht würde, müsste er doch eigenständig essen, schlafen, ausscheiden und seinen Körper pflegen. Schon aus dieser Notwendigkeit ergibt sich ein Lebensrhythmus, der zumindest vom Wert der Selbsterhaltung geprägt ist. Ein Wert, der uns vom Leben aufgedrängt ist und dem wir nur durch den Tod entfliehen können.

Dieser Grundwert ist der Ausgangspunkt aller menschlichen Existenz und jedes gesellschaftlichen Zusammenlebens. Denn ausgehend von der Notwendigkeit der Selbsterhaltung und damit auch der Fortpflanzung, besteht für Menschen die unüberwindliche Unausweichlichkeit des Zusammenkommens, der Kooperation und damit der Koexistenz zum Erhalt des Einzelnen und der Art.

Alle menschlichen Werte - von der frühesten Urzeit über die Antike und das Mittelalter bis in die moderne, von digitalen Technologien geprägte Zeit - entstanden und entstehen aus den Erfordernissen des arterhaltenden Zusammenschlusses der Spezies Mensch. 

Interessant dabei ist die Kopplung zwischen der Entwicklung der Menschheit und ihren jeweiligen Werten. Gut zu beobachten am Umgang mit Minderheiten und anderen Rassen. So zieht sich zum Beispiel Sklaverei durch die Geschichte der Menschheit. Zu allen Zeiten gab es unterdrücke Völker und Gruppen. Zuerst waren es die Unterlegenen eines Krieges, doch bald schon erkannten vor allem arabische, europäische und später auch amerikanische Mächte den wirtschaftlichen Wert von Sklavenarbeit. Sie erschufen ein System, in dem die Wissenschaft eine Begründung für die Ausbeutung von Menschen nach rassischen Merkmalen lieferte. Aus den durch Messung körperlicher Gegebenheiten entstandenen Rassetheorien leiteten sie Werte ab, die eine Versklavung oder andersartige Erniedrigung gewisser Menschentypen rechtfertigten und sogar als humanen Akt einstuften, weil bestimmte Rassen angeblich der Führung höher entwickelter Menschen bedurften. Der Öffentlichkeit wurden diese Ansichten mit Ausstellungen in sogenannten Menschenzoos nahe gebracht, die Ansichten manipulierten und damit Vorurteile schürten.

Auch die Religionen haben Sklaverei immer zu begründen gewusst. Meist dadurch, dass die Menschen, die zur Ware geworden waren, nicht den rechten Glauben hatten und zu ihrem Besten bekehrt werden mussten. Erst in der Sklaverei und durch den guten Einfluss ihrer Herren könnten sie zu vollwertigen Menschen werden. Zu allen Zeiten war Sklaverei mit religiösen und gesellschaftlichen Werten vereinbar. Wie kommt das?

Der oberste Wert der Menschen ist ihr Wohlergehen

Durch den Handel, den die Menschen mit ihren Werten treiben. Wie schon erwähnt, unterliegen Werte denselben Marktprinzipien wie alle menschlichen Produkte. Natürlich werden sie nicht in Geschäften oder an der Börse gelistet. Auch haben sie keine regulären Preise. Doch folgen Werte ebenso einem Lebenszyklus wie auch andere Waren.

Ja, Werte sind Waren. Selbst wenn nicht direkt mit ihnen gehandelt wird, so doch zumindest in untergeordneten Teilbereichen. Der Wert Klimaschutz ist im Moment vielleicht unverhandelbar, nicht jedoch CO2 Zertifikate sowie die Laufzeit von Kohlekraftwerken. Es gibt Erfordernisse, die mehr gewichtet werden. Die sichere und möglichst günstige Energieversorgung zum Beispiel.

Der oberste Wert der Menschen ist ihr Wohlergehen. Dazu gehören ausreichend materielle Ressourcen sowie die Sicherheit ihrer dauerhaften Verfügbarkeit. Alle anderen Werte gruppieren sich um diesen Zentralwert herum.

Selbstverständlich gilt das für den Durchschnitt der Menschheit, die Masse der Menschen. Extreme finden sich in beiden Richtungen: Personen ohne gesellschaftliche Werte und Personen, die Werte über ihr eigenes Leben stellen. Ein Beispiel für letzteren Typus ist die französische Philosophin Simone Weil. Sie hat für ihr „Fabrik Tagebuch“, in dem sie die Arbeitsbedingungen von Frauen in einem Industriebetrieb detailreich beschreibt, lange selbst unter schwierigsten Umständen in einer Fabrik gearbeitet. Darüber hinaus lebte sie in selbst gewählter Armut, kämpfte im spanischen Bürgerkrieg und emigrierte später als Jüdin nach England, wo sie im Alter von nur 34 Jahren an Tuberkulose starb. Ihr Weg war der politisch engagierte, spirituell geprägte Pfad der Erkenntnis zu einer höheren Einsicht. Werk und Leben sind bei ihr eins. Diese Authentizität verleiht ihr eine hohe Glaubwürdigkeit.

Dagegen gibt es keine Person ohne Werte. Da alle Menschen sich in Gruppen organisieren und diese Gruppen sich zwangsläufig Werte des Zusammenhalts geben. Allerdings mögen einige Gruppen unter Umständen außerhalb aller anderen einzelnen und gesellschaftlichen Gruppen stehen und nur ihre eigenen Werte akzeptieren. Sie gelten den anderen dann als „wertlos“, also ohne Werte, weil die Werte nicht übereinstimmen. Ein Zusammensein ist unmöglich. Übrigens auch mit Menschen, die gesellschaftliche Werte zwar akzeptieren, sie aber übersteigern. Sie sind zumindest anstrengend, oft unverständlich in ihrem rigorosen Verhalten. Denn jemand wie Simon Weil beharrt auf der bedingungslosen Einhaltung von Werten. Doch das führt eine Gesellschaft genauso in die Katastrophe, wie die Ablehnung ihrer Werte.


Sonntag, 18. Dezember 2022

Werte werden auf dem Markt gehandelt

 

Menschen finden sich zusammen, um bildlich mit Werten auf einem Markt zu handeln
Die Werte einer Gesellschaft sind festgelegte Regeln in Form von Gesetzen oder auch ungeschrieben, die jedes Mitglied kennen und befolgten sollte. Sie sind die rechtliche und ethische Grundlage des Zusammenlebens. Doch sie befinden sich in ständigem Wandel. Was heute gilt, kann morgen schon vergessen sein. Zum Beispiel: Die Jüngeren grüßen die Älteren und die Älteren bieten das "Du" an. Wer kennt das noch? Na, jedenfalls hält sich niemand mehr daran.

Wie kommt das? Welche Werte gehen und welche bleiben bestehen? Wer bestimmt darüber und warum?

Anscheinend gibt es eine Macht, die genügend Einfluss hat, mit der Zeit gewisse Anpassungen vorzunehmen. Adam Smith nannte sie die "unsichtbare Hand des Marktes". Für Karl Marx war es die Arbeitskraft. Hannah Arendt wies darauf hin, dass es wohl immer irgendeiner mystischen Erscheinung bedürfe, um alle Entwicklungen der Menschheit zu erklären. Ist das so oder gibt es bisher einfach kein schlüssiges Wort dafür?

Kollektive Strömung

Die "unsichtbare Hand" oder die „mystische Erscheinung“ sind sind nichts anderes als die Menschheit in ihrer Gesamtheit als sehr große Gruppe und möglicherweise auch regional unterteilt. Heute gibt es den Begriff „Schwarmintelligenz", wenn das Verhalten vieler zu einem sichtbaren Ergebnis in einem speziellen Bereich führt. Doch er trifft nicht den Kern der Veränderungen, die ständig in einer Gesellschaft vorgehen. 

Vielmehr ist es das gemeinsame Resultat jeder Arbeit, allen Handelns und jedes Gedankens, das sich in einer Tätigkeit äußert. Mit anderen Worten: Jedes Wirken eines Menschen führt im Zusammenspiel mit dem Wirken jedes anderen Menschen zu einem Impuls innerhalb der Gesellschaft. Die Vielzahl der Impulse steuern und formen nicht nur die Regeln des menschlichen Miteinanders, sondern sind auch Smith's "unsichtbare Hand des Marktes", Marx's "Arbeitskraft" und Arendt's „mystische Erscheinung“. Sie sind eine kollektive Strömung. Ihr verdanken die Menschen jede Entdeckung und Erkenntnis, jeden Fortschritt und Wagemut, leider auch jede Eroberung und jeden Krieg. Die kollektive Strömung - einer Rückkopplung gleich - beeinflusst umgekehrt auch wiederum ihrerseits das menschliche Denken und Handeln.

Doch bezieht sie auch die von der Menschheit erschaffene Dingwelt sowie die ungezähmte Natur mit ein. Alles und Jedes, bis zum Haustier, einem kleinen Insekt und der Blume auf einer Wiese, üben Einfluss auf Menschen und damit auf die kollektive Strömung aus.

Die Menschheit als kollektives Wesen

Sie unterteilt sich in Ästelungen und Verzweigungen. Zahlreiche Pfade enden bald und verlieren ihren Einfluss. Andere verstärken sich im Laufe der Zeit und bestimmen mit die Richtung, in die die Menschheit voranschreitet. Später nimmt ihre Bedeutung ab und neue Vorstellungen treten an ihre Stelle. Ein ständiges Aufflackern, Leuchten und Abdunkeln. Vielleicht lässt es sich vergleichen mit den vielen Lichtpunkten auf der Erde bei Nacht vom Weltraum aus betrachtet. Netzlinien aus Licht, eine fortwährende Veränderung. Mal schneller, mal langsamer, aber immer im Wandel.

Sollte es so einfach sein - die Menschheit steuert sich selbst durch ihr Tun und setzt dabei ihre Werte ganz nebenbei? Sie wären dann sozusagen ein Abfallprodukt. 

Oder funktioniert es genau umgekehrt: Die Werte entstehen im kollektiven Strom und daraus resultieren Arbeit und Handeln, Herstellung und überhaupt das ganze Sein der Menschen. Ist die Menschheit gar ein kollektives Wesen, ohne sich selbst als solches zu empfinden? Gerade die Menschheit, die sich viel darauf zugute hält, aus selbständigen Individuen zu bestehen.

Nun, es ist nicht auszuschließen, dass die Spezies analog zum digitalen System existiert. Statt An oder Aus, Null oder Eins, ordnet sie ihre menschlichen "Bits" und "Bytes" nach der Prämisse "Richtig" oder "Falsch". Wobei beides keine Konstanten, sondern Variablen sind, die durch den kollektiven Strom definiert werden. Er hat also nicht die Aufgabe, Ideen und Vorstellungen zu generieren, sondern Ideen und Vorstellungen, das Arbeiten, Handeln und Herstellen der menschlichen Individuen als "Richtig" oder "Falsch" zu bewerten. Das erklärt, weshalb nichts in der Gesellschaft je endgültig feststeht, sondern einem fortwährenden Wandel unterworfen ist. Jede kleinste Regung eines einzelnen Menschen wird begutachtet und bewertet. Ein Werden und Vergehen, das nur den einen Zweck hat: Die Menschheit sich alle Möglichkeiten aneignen zu lassen, die ihr Heimatplanet und später vielleicht das Universum ihr bieten. Niemand ist bisher in der Lage, dahinter einen Sinn zu erkennen, ohne auf einen mystischen Glauben zurückzugreifen. Es ist keinem Menschen möglich, sinnvoll über die Grenzbeziehung von Möglichkeiten und Sinn zu sprechen. Oder, wie Ludwig Wittgenstein schrieb: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."

Doch über den kollektiven Strom zu sprechen, ist durchaus möglich. weil er vor aller Augen existiert. Er gibt der Menschheit durch Ausschlussverfahren eine Richtung. Das erklärt auch, weshalb sich Gut und Böse nicht eindeutig definieren lassen. Die Begriffe sind nur eine Hilfsbewertung menschlichen Verhaltens, um ein Wertesystem implementieren zu können. Gut ist, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer festgelegten menschlichen Gruppe als gut angesehen wird. Das gleiche gilt für den Begriff Böse. Aus diesem Grund kann das Töten von Menschen einerseits unter Strafe stehen, zum anderen aber hoch angesehen sein und belohnt werden, wenn beispielsweise Staaten Krieg führen.

Gemeinsamkeiten bilden den Wertekanon

Das menschliche Verhalten passiert in einem Koordinatensystem der Gesetze, Regeln und Werte. Hält er sich daran, ist der Mensch geachtet. Verstößt er dagegen, wird er bestraft. Moral ist die Instanz, die über die Einhaltung der Werte wacht. Sie stellt keine eigenen Regeln auf, sondern wendet sie auf Individuen und Gruppen an.

Wie werden Werte in der Gesellschaft ausgehandelt? Wie jedes menschliche Produkt: Durch Nachfrage und Vergleich der Wertigkeit mit anderen Gütern. So war zum Beispiel der Missbrauch von Kindern im kirchlichen Umfeld nur deshalb über Jahrzehnte möglich, weil der Kirche ein hoher Wert zugemessen wurde und sie deshalb nahezu unantastbar war. Das übertrug sich auch auf ihre Mitarbeiter. Erst als Religion in der Gesellschaft eine geringere Rolle zu spielen begann und ihr Stellenwert allgemein abnahm, bröckelte die Unantastbarkeit und die Diskussion über Missbrauchsfälle begann. Jedoch nur zaghaft, was noch immer auf einen relativ hohen Wert von Kirche hinweist.

Es sind die Gemeinsamkeiten der Menschen, die den Wertekanon der Gesellschaft bilden. Weshalb das Konsumieren den höchsten Wert einnimmt. Denn das ist die Tätigkeit, die über Generationen, Geschlechter, Rassen und Nationalitäten hinweg die größte Gemeinsamkeit der menschlichen Spezies darstellt. Shoppen bereitet den meisten Menschen Freude, nur die Vorlieben für verschiedene Produkte unterscheiden sich.

Zurück zu den Werten. Im Grunde werden sie gehandelt, wie Aktien an der Börse. Genauso sind sie Trends unterworfen. Eine deutliche Schwankung ist beispielsweise bei der Bewertung von Homosexualität zu beobachten. Lange strafrechtlich verfolgt, mit vielen Versuchen, Betroffene medizinisch zu "heilen", gilt es heute als geradezu schick, schwul zu sein. Die Werte haben sich diesbezüglich fast in die entgegengesetzte Richtung verschoben. Die Minderheit von Homosexuellen und Transgender ist in der öffentlichen Wahrnehmung eine bedeutende Gruppierung, weil Gleichberechtigung heutzutage einen hohen Wert verkörpert. Deshalb setzen Unternehmen auf diese Zielgruppe und greifen sie in ihrer Werbung auf. Auch in Büchern und Filmen kommt sie verstärkt vor. Sie hat einen Wert, auch weil sie als einkommensstark mit hoher Kaufkraft gilt. Gesellschaftlich ging dieser Akzeptanz ein langer Kampf um Anerkennung voraus.

Der Blick der Anderen

Der Wertewandel ist ein Zusammenspiel gesellschaftlicher Kräfte. Ausgelöst durch Notwendigkeit. Die Emanzipation der Frau wurde von der Tabakindustrie gefördert, weil sie die selbstbewusste Frau als Kundin für sich entdeckt hast, was die Größte des Marktes auf einen Schlag verdoppelte. Sie schuf mit ihren Werbekampagnen neue Werte für Frauen, die sich bald darauf auch in Filmen und Magazinen niederschlugen. Eine frühe Parallele zum heutigen Aufstieg von Homosexuellen und Transgender zu gesellschaftlichen Ikonen.

Doch die Zeit muss reif für einen solchen Wandel sein. Was heißt das? Die kollektive Strömung transportiert bereits länger entsprechende gedankliche Fragmente. Der Blick der Anderen darauf ist der entscheidende Schlüssel für die Entwicklung einfachen Gedankenguts, das wie Treibholz zufällig dahin schwimmt, zu einer relevanten und schließlich gesellschaftsverändernden Idee. Denn bereits Sartre beschreibt eindringlich, dass ein Mensch, der durch ein Schlüsselloch blickt, vollkommen frei und nur er selbst ist. Doch sobald er sich durch den Blick eines anderen beobachtet fühlt, nimmt er sich selbst anders wahr, nämlich im Blick des anderen und beginnt vielleicht seine Schuhe zuzubinden, um diesem anderen nicht als Voyeur zu gelten.

So sondert der Blick der Anderen auch aus dem gedanklichen Treibholz des kollektiven Stroms allein durch seine Aufmerksamkeit einige Bruchstücke aus, die dadurch an Kraft gewinnen und im gesellschaftlichen Umfeld relevant werden. Wobei der Blick der Anderen der Blick jedes einzelnen Menschen ist, der nur im Verhältnis zu einem selbst nicht ein fremder ist. Der Blick eines anderen ist auch immer der eigene, der sich vom Sein des Selbst ab- und dem Außen zuwendet. Deshalb ist jedes Sein sowohl ein Ich als auch ein Anderer.

Dienstag, 29. November 2022

Das Volk der hängenden Köpfe

 

Menschen blicken plastisch aus Bildschirmen und symbolisieren so die Abhängigkeit von der modernen vor allem mobilen Technologie
Der Mensch entwickelte den aufrechten Gang vermutlich, um Gefahren und Beute frühzeitig sehen zu können. Heute verkrümmt er den Hals, damit er den Blick ständig auf sein Mobiltelefon richten kann. Die Chinesen nennen diese Menschen treffend "Volk der hängenden Köpfe".

Der Mensch fügt sich den Dingen, die er erschafft

Ist das die nächste evolutionäre Stufe der Menschheit? Auch wenn man das mit einem Schmunzeln meinen könnte: Natürlich nicht. Es zeigt nur, wie sehr sich der Mensch der von ihm geschaffenen Technik anpasst. Andere Erfindungen werden folgen. Implementierte Chips zum Beispiel, Kontaktlinsen mit Datenübertragung oder auch Geräte, die sich heute noch niemand vorstellen kann.

Eines steht allerdings fest: Je mehr sich der Mensch seiner Technik anpasst, desto schneller wird er sich verändern. In welche Richtung? Wer weiß. Darüber können wir heute nur spekulieren.

Ein Naturvolk sind wir jedenfalls längst nicht mehr. Körperliche Voraussetzungen und Wissen sind vielfach verloren gegangen. Inzwischen sind wir Menschen, die in einer selbst erschaffenen Welt leben, einer Welt, in der uns viele Dinge umgeben, deren Anforderungen wir uns fügen. Ein Fahrstuhl, zum Beispiel. Die meisten Menschen benutzen ihn, selbst wenn sie nur zwei Stockwerke zu gehen hätten und die Wartezeit, bis der Fahrstuhl bereitsteht, länger ist als der Fußweg über die Treppe. Dafür setzen wir uns dann auf stationäre Fahrräder, um zu trainieren.

Das Mobiltelefon verspricht den Menschen ein Mehr

Wir erschaffen Dinge, die erfordern, dass wir mehr Dinge erschaffen, die den negativen Einfluss der ersten Dinge auf uns ausgleichen. So entsteht ständig Neues, das noch mehr Neues bedingt. Ein Kreislauf, auf den wir sogar unsere Wirtschaft abstimmen und den wir durch Wirtschaftstheorien sehr einfallsreich erklären und bestätigen.

Doch im Grunde ist es sehr einfach: Wir brauchen immer mehr. Die Mobiltelefone sind die Mittler zu diesem Mehr. Ganz gleich, um was für ein Mehr es dabei geht: Mehr Gespräche, mehr Dinge, mehr Nachrichten. 

Der Mensch veraltet mehr und mehr sein gesamtes Leben über den kleinen Taschencomputer, der sich als harmloses Telefon tarnt und doch jeden Schritt seines Nutzers dokumentiert. Von zurückgelegten Reisestrecken über Kontobewegungen bis zu Gesundheitsdaten. Nebenbei animiert es die Menschen genau zu dem Mehr, das sie so gerne haben möchten und das jetzt sehr einfach für sie zu bekommen ist. Nur ein paar Klicks und das Mehr wird postwendend zu ihnen nach Hause geliefert.

Deshalb verkrümmt der Mensch seinen Hals und wird zum "Volk der hängenden Köpfe". Es ist dieses Mehr, welches das Mobiltelefon ihm verspricht und vor dem er seinen Kopf neigt.

Vielleicht verbirgt sich dahinter doch die nächste evolutionäre Stufe in der Entwicklung der Menschheit. Nur wird sie anders aussehen, als wir es erwarten.