Heute ist es anders. Die Menschen wollen ihr Leben öffentlich machen. Sie messen allem, was sie tun, eine so große Bedeutung zu, dass es zumindest fotografiert und geteilt werden muss.
Philosophische Gedanken allgegenwärtiger Fragestellungen: vielfältig, chaotisch, kreativ, ungeordnet, kritisch - jenseits systemisch relevanter Ideen
Dienstag, 16. Mai 2023
Konstruierte Wichtigkeit
Der Konsumismus prägt die erste globale Gesellschaftsform
Oberstes Ziel des Kommunismus ist nicht die Gleichheit aller Menschen, sondern ihre unbedingte Marktteilnahme. Jeder, wie es sein Einkommen hergibt.
Den Menschen wird ihre Zeit genommen
Das Prinzip des Konsumismus wirkt sehr demokratisch. Doch in Wirklichkeit zerstört es die Demokratie und mit all ihren Werte, die eine weitgehend friedliche Gesellschaft bisher ausgezeichnet haben. Zum Beispiel ist das ehrenamtliche Engagement stark zurückgegangen. Nur doch ungefähr ein Drittel der Menschen engagieren sich für andere oder die Belange der Gesellschaft insgesamt.
Im Konsumismus bleibt wenig Zeit neben der Optimierung seiner selbst und den eigenen materiellen Werten. Ziel ist eine 24/7 Bereitschaft zum Konsumieren. Möglich geworden ist das Erreichen dieses Ziels durch die Etablierung des Onlinehandels sowie die drastische Ausweitung der Ladenöffnungszeiten. Der Wert der Ruhezeiten wird dagegen reduziert und Schritt für Schritt abgeschafft. Es gibt kein Durchatmen mehr in der Gesellschaft, keine kollektive Pause. Selbst die Sonntage sind oft genug mit Besichtigungen oder Beratungsterminen verplant.
Das Erfolgsrezept des Konsumismus besteht darin, dass der den Menschen keine Zeit lässt, sich anders zu orientieren. Dadurch ist Zeit auch zu einer der wertvollsten Ressourcen geworden. Der Konsumismus versucht, jede Minute zu belegen. Bei genauer Betrachtung, gelingt ihm das sehr gut. Denn vieles, was Menschen heute machen, ist offener oder zumindest verdeckter Konsumismus. Wer zum Beispiel stundenlang am Computer zockt oder fernsieht, konsumiert in Wahrheit - wenn auch auf eine ganz angenehme Art und Weise.
Werte unterstützen den Konsumismus
Lässt sich also sagen, alle Werte sind abgelöst von dem einen Wert des Konsumieren? Nein, ganz so einfach ist es denn doch nicht. Auch der Konsumismus benötigt übergeordnete Regeln und Werte. Nur, solange die Gesellschaft möglichst reibungslos funktioniert, kann er erfolgreich sein. Aber durch ihn verändern sich die Werte sehr nachhaltig.
Die Ladenöffnungszeiten wurden bereits erwähnt. Darüber hinaus ist der Wert, keine Schulden zu haben, sehr in den Hintergrund getreten. Inzwischen gilt es als viel angesagter, Konsumentenkredite aufzunehmen. Das ist im Sinne des Konsumismus. Wer verschuldet ist, arbeitet härter, um sich noch mehr leisten zu können, obwohl der Kredit zurückgezahlt werden muss.
Aber auch althergebrachte Regeln unterstützen den Konsumismus. Verlässlichkeit, zum Beispiel und Ehrlichkeit. Allgemein gesagt: Es gelten die Werte, die dem Konsumismus nützen. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass es fast keine gesellschaftlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen gibt. Jede Form von Unstimmigkeit fordert Zeit zur Klärung und hindert den Konsum der beteiligten Menschen.
Der Konsumismus prägt die erste globale Gesellschaftsform, der die Menschheit sich freiwillig unterwirft. Sie scheint ihr zu entsprechen. Jagen und Sammeln in moderner Ausprägung.
Notwendigkeit wird zur Nebensächlichkeit
Gleichzeitig entwickeln sich neue Werte in der Onlinewelt. Werte, die darauf abgestimmt sind, dass sich viele Menschen anonym begegnen. Eine sogenannte Netiquette soll ihr Miteinander regeln und verträglich machen. Allerdings überwiegen in einigen Bereichen Mobbing, Hass und virtuelle Gewalt. Ohne große Gefahr der Entdeckung und Bestrafung fallen die meisten Werte aggressivem Treiben zum Opfer. Trotz aller Bemühungen gibt es einzelne Teile der Menschheit, die auf Gewalt setzen. Vielleicht ist es an der Zeit einzugestehen, dass Menschen auch diese düstere Seite haben und in absehbarer Zeit nicht überwinden werden.
Doch was, wenn die Menschen sich auf die notwendigen Lebensgrundlagen beschränken würden? Zunächst ist zu definieren, was zu den notwendigen Lebensgrundlagen zählt. Unbestritten sicherlich Nahrung, Kleidung und Wohnung. Darüber hinaus Kommunikation, Bildung, Mobilität und Kultur. Aber sind drei Autos, fünf Computer und 25 Paar Schuhe notwendig? An welchem Punkt schlägt die Notwendigkeit in bloßen Konsum um?
Abzulesen ist dies ganz gut an der Art und Weise der Nahrungsaufnahme. Die Menschheit leidet unter Übergewicht. Essen ist vielerorts von einer Notwendigkeit zu einer Beschäftigung geworden. Die Märkte sind voller verlockender Angebote - von regional bis exotisch. Die Nahrungsaufnahme wird als Kunstwerk stilisiert. Andererseits gibt es mehr und mehr Fertiggerichte, weil sich viele Menschen nicht mehr die Zeit zum Kochen nehmen und ihr Essen schnell vor dem Fernseher oder Computer herunterschlingen. Das Notwendige wird zur Nebensächlichkeit, die nichtsdestotrotz notwendig ist.
Der Einzelne ist nur als Kunde ein Individuum
Paradox? Vielleicht. Doch das Muster wiederholt sich in der Geschichte. Zum Beispiel beim Rauchen. Vor Jahrhunderten ein zeitintensives Vergnügen. Der Tabak wurde ausschließlich in Pfeifen geraucht, der Genuss aufwendig zelebriert. Die Zigarre wurde zur Zeitersparnis erfunden. Sie ist gebrauchsfertig. Das Stopfen der Pfeife entfällt. Dann kamen die industrielle Revolution und der Erste Weltkrieg. Beides ließ Arbeiter und Soldaten kaum mehr Zeit zur Muße. Deshalb kam die Zigarette in Mode. Sie ersetzte endgültig das genussvolle Ritual des Rauchens durch die hastige Aufnahme von Nikotin. Die reine Sucht setzte sich gegen die gelegentliche Freude am Rauchen durch.
Die Menschen passen sich dem Rhythmus der Gesellschaft an. Die Gesellschaft aber wird bestimmt von der Notwendigkeit des Lebens. Sie organisiert die Infrastruktur, ohne die der Menschen wieder Jagen und Sammeln würde. Dafür benötigt sie die Masse und ignoriert den Einzelnen.
Der Einzelne ist verloren. Gefangen zwischen Vorschriften, Regeln und Werten, die für die Masse geschaffen wurden, aber von ihm befolgt werden sollen. Er geht in der Masse auf und wird als Individuum ignoriert. Vorgegaukelt wird dem Einzelnen nur eine scheinbare Individualität, in der er als Kunde beachtet wird.
Montag, 15. Mai 2023
Ein Mechanismus zum Umverteilen von Geld
Konsumismus lenkt die Gedanken der Menschen
Überraschend spielt Geld nicht eine gleichwertige Rolle. Inzwischen ist bekannt, dass es für die meisten Menschen keine Motivation darstellt, immer mehr Geld anzuhäufen. Irgendwann setzt das Gefühl ein, genug Geld zu haben. Was also ist der Grund für den Glauben an Konsumismus und den Markt?
Es funktioniert. Jeder kann es leben. Beides ist fassbar, leicht zu erklären und sogar noch leichter zu erlernen. Vor allem aber verschafft es Anerkennung und Ansehen.
Seit der Mensch vor Millionen von Jahren begonnen hat, die Erde zu bevölkern, ist es innerhalb einer Gruppe von Vorteil, ein besonderer Mensch zu sein. Der beste Jäger, die beste Sammlerin, der Stärkste, der Geschickteste oder sonst ein außergewöhnliches Mitglied der Gruppe. Heute ist es nicht anders. Jeder Mensch möchte im Mittelpunkt stehen. Das ist die entscheidende Motivation für viele, sich anzustrengen: Anerkennung. Zumal Anerkennung oft mit Macht über andere Menschen einhergeht, was die Motivation zusätzlich steigert.
Der Konsumismus ist ein weltweites Phänomen. Er ist die vielleicht erste und einzige globale Bewegung, die alle Menschen hinter einer Idee vereint. Wie kommt es dazu? Weshalb setzt sich gerade diese Idee durch? Zum einen, weil der Mensch das Konsumieren im weitesten Sinne von Anbeginn gewohnt ist. Er musste sich immer um seine notwendigen Lebensgrundlagen bemühen. Deshalb haben die Menschen von Natur aus diese Gemeinsamkeit.
Doch es steckt mehr dahinter. Der Konsumismus ist keine Ideologie, die irgendeine Staatsform infrage stellt. Im Gegenteil: Er passt sich an jede Regieruns- und Lebensweise an. Sein einziges Ziel ist der Verkauf seiner Güter. Ansonsten mischt er sich in nichts ein, jedenfalls nicht direkt und offensichtlich. Er hat seine eigenen Werte, die denen von Staaten nicht widersprechen. Es geht um maximale Gewinne, bei minimalen Einsätzen. Dagegen hat kein Staat der Welt etwas einzuwenden.
Konsumismus vereinheitlicht die Welt
Unter seiner Oberfläche ist der Konsumismus allerdings weit mehr als nur ein Mechanismus zum Umverteilen von Geld. Er bindet die Menschen zum Beispiel an Arbeit, damit sie sich seine Waren leisten können. Darüber hinaus vermarktet er ihre Lebenszeit. Jed mehr sie konsumieren, desto weniger Zeit bleibt zum Nachdenken, für Protest und Revolte. Der Konsumismus lenkt die Gedanken der Menschen, ihr Handeln und Fühlen in nur eine Richtung. Sie erfüllen sich Wünsche und Träume, die der Konsumismus ihnen vorgibt. Die meisten davon sind nicht notwendig.
Der Konsumismus mischt sich in alle menschlichen Lebensbereiche ein. Er ist zu einer bestimmenden Kraft der Gesellschaft und des Lebens geworden. Äußere Zeichen seiner Macht sind die Läden und Geschäfte, die überall auf der Welt die Stadtbilder dominieren. Mehr und mehr gleich sich Städte durch den Einfluss international operierender Ketten immer weiter an. Nicht von ungefähr wurde McDonalds lange Zeit scherzhaft als amerikanische Botschaft bezeichnet.
Dennoch stellt der Konsumismus zunächst keine Gefahr für irgendeine Gesellschaftsform dar. Schließlich schafft er lediglich ein Angebot. Niemand wird von ihm gezwungen, zu konsumieren. Jedenfalls nicht über die notwenigen Lebensgrundlagen hinaus. Der Konsumismus scheint eine vollkommen demokratische und friedliche Institution zu sein. Sein einziger Zweck ist die eigene Erhaltung und Ausbreitung. Allerdings überzieht er dadurch die gesamte Erde mit einem Netz aus gut sichtbaren Handelszentren, die durch Zusammenschlüsse immer einheitlicher werden und damit landestypische Unterschiede verwischen.
Der Konsumismus vereinheitlicht die Welt. Selbst ein Land wie China, das nach eigenem Selbstverständnis kommunistisch geführt wird, ist im Grunde konsumistisch orientiert. Den meisten Bürgern kommt es weniger auf unumschränkte Freiheit, als auf unbeschränkten Konsum an. Dafür sind sie bereit, sich dem Staat unterzuordnen und darüber hinaus viel zu arbeiten. Wie auch die Menschen in kapitalistisch oder sonst wie geführten Staaten. Nur wo der Konsumismus verweigert wird oder nicht gut funktioniert, revoltiert die Masse. Solange sie aber das Gefühl hat, Teil des globalen Konsumismus zu sein, schweigt sie.
Der Wert eines Menschen lässt sich beziffern
Wie konnte sich der Konsumismus unumschränkt durchsetzen? Er folgt auf das Zeitalter der Ideologien, die sich spätestens mit dem Untergang des Kommunismus in der ehemaligen Sowjetunion und weiten Teilen der Welt bis nach Afrika und Südamerika allesamt erledigt haben. Es gibt nur noch Parteien, es werden Abgeordnete gewählt. Doch unterscheiden sie sich praktisch kaum noch voneinander. Regierungen sind nur noch Institutionen zur Verwaltung eines Landes. Themen werden von Lobbyisten und Marketingagenturen gesetzt, deren wichtigstes Hilfsmittel Umfragen sind, mit denen abgefragt wird, was die Masse bewegt und wie zufrieden sie ist. Es gibt weder Klassen, noch Klassenkämpfe. Keiner setzt sich mehr für irgendwelche politischen Theorien ein. Es gibt nur noch Marktteilnehmer, die sich nach ihrem Einkommen unterscheiden sowie nach Zufrieden- und Unzufriedenheit.
Die gute Nachricht: Auf dem Markt sind alle Menschen gleich, er unterscheidet nicht nach Rasse und Religionszugehörigkeit. Der Markt qualifiziert nach vorhandenen Mitteln. Insoweit unterscheidet er die Menschen, aber er grenzt sie nicht aus. Jeder bekommt, was er sich leisten kann. Allerdings ist ihm der Mensch auch nicht mehr wert, als sein jeweiliges Vermögen. Der Wert eines Menschen lässt sich im Konsumismus mit einer Zahl beziffern.