Mittwoch, 17. Mai 2023

Freiheiten verschwinden klammheimlich

Wie die Ritter auf diesem Bild, müssen sich Menschen für die Verteidigung ihrer Freiheiten rüsten
Das ist ein Widerspruch des gängigen Freiheitsverständnisses. Gilt der Einzelne in der westlichen Gesellschaft doch als weitgehend frei. Dabei wird allerdings vergessen, dass Freiheit immer nur im gesellschaftlichen Rahmen gewährt werden kann. Um diesen Rahmen herum wird allerdings viel getan, um die Illusion von Freiheit entstehen zu lassen und aufrecht zu erhalten. So wählt der Einzelne selbst, wieviel Zwängen er sich aussetzt und wie hoch er die Mauern um sich her aufrichten möchte. Dabei gilt: Je mehr Teilhabe an den Angeboten der Gesellschaft, desto größer die geforderte Anpassung und damit einhergehende Einengung. Denn die Leistungen der Gesellschaft, wie zum Beispiel Sicherheit, kosten die Freiheiten der Bürger.

Die Gesellschaft muss sich ständig zeigen

Der Einzelne trifft seine Wahl und verstrickt sich damit immer tiefer im Netz der Gesellschaft, das manchmal auch als bequeme Hängematte bezeichnet wird. Doch auch eine Hängematte ist bei genauerer Betrachtung ein Netz. Er fügt sich, indem er Kredite aufnimmt, ein Haus baut, Familie gründet. Von da an hat er keine Wahl mehr. Der Mensch muss in der Gesellschaft funktionieren, um seine Verpflichtungen zu erfüllen und sein Leben fortführen zu können. Ansonsten wird er schleichend herausgedrängt.

Im Gegenzug ist die Gesellschaft omnipräsent. Sie muss sich ständig zeigen, damit die Menschen an sie glauben. Denn ein Staatsgebilde ist ohne den Glauben der Masse schlichtweg nicht existent. So etwas wie eine Nation denken sich die Menschen ja nur aus. Ohne ihren Glauben an ein solches Konstrukt gibt es den Nationalstaat nicht. Deshalb müssen auf öffentlichen Gebäuden Fahnen wehen, müssen Polizisten in Uniform durch die Straßen laufen, müssen Medien ständig berichten. Wenn der Staat im Gespräch ist, versichert er sich seiner eigenen Existenz und zeigt sie vor den Leuten. Die Umwandlung von einer bloßen Idee zu einem Konstrukt, das Bestand hat, findet in den Köpfen der Menschen statt. Nur solange sie daran glauben, dass ihre Handlungen, beispielsweise das Mitführen eines Personalausweises und das Einhalten von Gesetzen, einen Nutzen haben, ist der Staat existent und Leute werden zu seinen Bürgern.

Es bleibt nur die Freiheit des Konsumierens

Die Menschen gehen einen Deal mit sich selbst ein, wie sie auch, wenn sie einen Gott anrufen, zu sich selbst beten. Der Deal lautet: Gebe Freiheit gegen Teilhabe und Schutz. Vielleicht meinen die Menschen diesen Deal, wenn sie davon sprechen, ihre Seele dem Teufel zu verkaufen, denn sie lassen sich auf einen Pakt ein, der ihnen in der Masse materiellen Wohlstand gegen geistige Armut einbringt. Natürlich gibt es Bildung und entsprechende Einrichtungen zur Vermittlung von Wissen. Aber die sollen Bürger nur lehren, was sie im Sinne des Systems wissen müssen. Nicht von ungefähr werden die Universitäten ohne viel Aufhebens - und, bemerkenswert, ohne großen Protest - von einem Hort des freien und kritischen Denkens zu mehr oder weniger weiterführenden Schulen degradiert. Obwohl die meisten Studenten schon vorher selten über den Tellerrand ihres Lernpensums geschaut haben, hätten sie aber wenigsten die Möglichkeit dazu gehabt, was den heutigen Studenten fast vollkommen verwehrt bleibt.

Freiheiten verschwinden klammheimlich im Dschungel der Bürokratie. Im Grunde bleibt nur eine Freiheit erhalten, die auch von Staat und Gesellschaft nach Kräften gefördert wird: Die Freiheit des Konsumierens. Diese Freiheit meinen Menschen auch, wenn sie davon sprechen, frei zu sein. Denn in diesem Bereich haben sie tatsächlich alle Freiheiten, vorausgesetzt, sie verfügen über ausreichend Geld. Was das Pendel in den Bereich der Scheinfreiheit ausschlagen lässt.

Die Reaktion auf gesellschaftliche Leere

Die Werte einer Gesellschaft wandeln sich mit ihrem Entwicklungsstadium. Eine Aufbauphase charakterisiert sich durch Fleiß und hohe Arbeitsmoral. Wohlstand wird geprägt von Überschuss und vermehrtem Besitz. Die Konsumgesellschaft geht über diese Abschnitte hinaus. Sie ist eine Phase der Stagnation, in der es kaum Visionen und gesellschaftliche Ziele gibt. Es bleibt nur, das zu erhalten und auszubauen, was längst da ist. Im Grunde eine Phase großer Langeweile, in der Angst vor dem Abstieg umgeht, sich aber niemand verantwortlich fühlt, den Status quo zu verändern. Schließlich geht es allen mehr als gut. 

Der Konsumismus ist die Reaktion auf gesellschaftliche Leere, in der niemand inhaltlich etwas beizutragen hat, weil keinem anderes einfällt, als stur weiterzumachen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Der Staat wir nur noch verwaltet, er ist nicht mehr zu Innovationen fähig.

Welche Werte bringt der Konsumismus hervor? Den Wert des Materialismus. Geld wohnt ein Zauber inne. Alles ist käuflich. Auch Gesundheit und Jugend. Schönheit kann per Katalog erworben werden. Kinder lassen sich planen und optimieren. Das Leben ist ein einziger Event. Selbst das Alter lässt sich hinausschieben, auch Greise dürfen noch eine jugendliche Attitüde an den Tag legen. Darüber hinaus?

Dienstag, 16. Mai 2023

Konstruierte Wichtigkeit

Fußgänger wandern durch eine Straße, aber welche, wissen sie nicht
Das Private wird in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt. Je mehr die Arbeitswelt mit dem häuslichen Umfeld verschmilzt, desto stärker wird diese Tendenz. Sie hat aber schon mit der industriellen Revolution begonnen, als die Arbeiter in die Städte strömten und ihre Heimat verloren. Damals waren die Wohnverhältnisse beengt und ein Großteil des Lebens fand auf der Straße statt.

Heute ist es anders. Die Menschen wollen ihr Leben öffentlich machen. Sie messen allem, was sie tun, eine so große Bedeutung zu, dass es zumindest fotografiert und geteilt werden muss. 

Der Konsumismus prägt die erste globale Gesellschaftsform

Hinter den Fassaden der schönen Konsumwelt sieht es düster und verkommen aus
Die Ideologien früherer Tage haben den Menschen mehr Werte ideeller Natur beigemessen. Sie brauchten die Masse beispielsweise auch im Kampf. Der Konsumismus braucht sie ausschließlich an der Ladenkasse. Dabei ist es ihm gleichgültig, wie jemand zu Geld kommt, solange er sein Augenmerk hauptsächlich darauf richtet, es auszugeben.

Oberstes Ziel des Kommunismus ist nicht die Gleichheit aller Menschen, sondern ihre unbedingte Marktteilnahme. Jeder, wie es sein Einkommen hergibt.

Den Menschen wird ihre Zeit genommen

Das Prinzip des Konsumismus wirkt sehr demokratisch. Doch in Wirklichkeit zerstört es die Demokratie und mit all ihren Werte, die eine weitgehend friedliche Gesellschaft bisher ausgezeichnet haben. Zum Beispiel ist das ehrenamtliche Engagement stark zurückgegangen. Nur doch ungefähr ein Drittel der Menschen engagieren sich für andere oder die Belange der Gesellschaft insgesamt. 

Im Konsumismus bleibt wenig Zeit neben der Optimierung seiner selbst und den eigenen materiellen Werten. Ziel ist eine 24/7 Bereitschaft zum Konsumieren. Möglich geworden ist das Erreichen dieses Ziels durch die Etablierung des Onlinehandels sowie die drastische Ausweitung der Ladenöffnungszeiten. Der Wert der Ruhezeiten wird dagegen reduziert und Schritt für Schritt abgeschafft. Es gibt kein Durchatmen mehr in der Gesellschaft, keine kollektive Pause. Selbst die Sonntage sind oft genug mit Besichtigungen oder Beratungsterminen verplant.

Das Erfolgsrezept des Konsumismus besteht darin, dass der den Menschen keine Zeit lässt, sich anders zu orientieren. Dadurch ist Zeit auch zu einer der wertvollsten Ressourcen geworden. Der Konsumismus versucht, jede Minute zu belegen. Bei genauer Betrachtung, gelingt ihm das sehr gut. Denn vieles, was Menschen heute machen, ist offener oder zumindest verdeckter Konsumismus. Wer zum Beispiel stundenlang am Computer zockt oder fernsieht, konsumiert in Wahrheit - wenn auch auf eine ganz angenehme Art und Weise.

Werte unterstützen den Konsumismus

Lässt sich also sagen, alle Werte sind abgelöst von dem einen Wert des Konsumieren? Nein, ganz so einfach ist es denn doch nicht. Auch der Konsumismus benötigt übergeordnete Regeln und Werte. Nur, solange die Gesellschaft möglichst reibungslos funktioniert, kann er erfolgreich sein. Aber durch ihn verändern sich die Werte sehr nachhaltig. 

Die Ladenöffnungszeiten wurden bereits erwähnt. Darüber hinaus ist der Wert, keine Schulden zu haben, sehr in den Hintergrund getreten. Inzwischen gilt es als viel angesagter, Konsumentenkredite aufzunehmen. Das ist im Sinne des Konsumismus. Wer verschuldet ist, arbeitet härter, um sich noch mehr leisten zu können, obwohl der Kredit zurückgezahlt werden muss. 

Aber auch althergebrachte Regeln unterstützen den Konsumismus. Verlässlichkeit, zum Beispiel und Ehrlichkeit. Allgemein gesagt: Es gelten die Werte, die dem Konsumismus nützen. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass es fast keine gesellschaftlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen gibt. Jede Form von Unstimmigkeit fordert Zeit zur Klärung und hindert den Konsum der beteiligten Menschen. 

Der Konsumismus prägt die erste globale Gesellschaftsform, der die Menschheit sich freiwillig unterwirft. Sie scheint ihr zu entsprechen. Jagen und Sammeln in moderner Ausprägung.

Notwendigkeit wird zur Nebensächlichkeit

Gleichzeitig entwickeln sich neue Werte in der Onlinewelt. Werte, die darauf abgestimmt sind, dass sich viele Menschen anonym begegnen. Eine sogenannte Netiquette soll ihr Miteinander regeln und verträglich machen. Allerdings überwiegen in einigen Bereichen Mobbing, Hass und virtuelle Gewalt. Ohne große Gefahr der Entdeckung und Bestrafung fallen die meisten Werte aggressivem Treiben zum Opfer. Trotz aller Bemühungen gibt es einzelne Teile der Menschheit, die auf Gewalt setzen. Vielleicht ist es an der Zeit einzugestehen, dass Menschen auch diese düstere Seite haben und in absehbarer Zeit nicht überwinden werden.

Doch was, wenn die Menschen sich auf die notwendigen Lebensgrundlagen beschränken würden? Zunächst ist zu definieren, was zu den notwendigen Lebensgrundlagen zählt. Unbestritten sicherlich Nahrung, Kleidung und Wohnung. Darüber hinaus Kommunikation, Bildung, Mobilität und Kultur. Aber sind drei Autos, fünf Computer und 25 Paar Schuhe notwendig? An welchem Punkt schlägt die Notwendigkeit in bloßen Konsum um?

Abzulesen ist dies ganz gut an der Art und Weise der Nahrungsaufnahme. Die Menschheit leidet unter Übergewicht. Essen ist vielerorts von einer Notwendigkeit zu einer Beschäftigung geworden. Die Märkte sind voller verlockender Angebote - von regional bis exotisch. Die Nahrungsaufnahme wird als Kunstwerk stilisiert. Andererseits gibt es mehr und mehr Fertiggerichte, weil sich viele Menschen nicht mehr die Zeit zum Kochen nehmen und ihr Essen schnell vor dem Fernseher oder Computer herunterschlingen. Das Notwendige wird zur Nebensächlichkeit, die nichtsdestotrotz notwendig ist.

Der Einzelne ist nur als Kunde ein Individuum

Paradox? Vielleicht. Doch das Muster wiederholt sich in der Geschichte. Zum Beispiel beim Rauchen. Vor Jahrhunderten ein zeitintensives Vergnügen. Der Tabak wurde ausschließlich in Pfeifen geraucht, der Genuss aufwendig zelebriert. Die Zigarre wurde zur Zeitersparnis erfunden. Sie ist gebrauchsfertig. Das Stopfen der Pfeife entfällt. Dann kamen die industrielle Revolution und der Erste Weltkrieg. Beides ließ Arbeiter und Soldaten kaum mehr Zeit zur Muße. Deshalb kam die Zigarette in Mode. Sie ersetzte endgültig das genussvolle Ritual des Rauchens durch die hastige Aufnahme von Nikotin. Die reine Sucht setzte sich gegen die gelegentliche Freude am Rauchen durch.

Die Menschen passen sich dem Rhythmus der Gesellschaft an. Die Gesellschaft aber wird bestimmt von der Notwendigkeit des Lebens. Sie organisiert die Infrastruktur, ohne die der Menschen wieder Jagen und Sammeln würde. Dafür benötigt sie die Masse und ignoriert den Einzelnen. 

Der Einzelne ist verloren. Gefangen zwischen Vorschriften, Regeln und Werten, die für die Masse geschaffen wurden, aber von ihm befolgt werden sollen. Er geht in der Masse auf und wird als Individuum ignoriert. Vorgegaukelt wird dem Einzelnen nur eine scheinbare Individualität, in der er als Kunde beachtet wird.