Dienstag, 3. Januar 2023

Die modernen Medien verändern den Wertekanon der menschlichen Gesellschaft

 
Ein Fußgänger geht an einem großen Gebäude entlang, aber darf er links oder rechts gehen, welche Werte gelten gerade
Werte werden ständig neu verhandelt

Grundsätzlich sind Werte weder gut noch böse. Sie sind neutral. „Du sollst nicht töten“ ist tatsächlich kein wertvollerer Wert als: „Du sollst jeden Menschen töten, der dir begegnet“. Erst ist die Ausrichtung einer Gruppe oder Gesellschaft lädt Werte mit Wert auf. In vielen Wohlstandsgesellschaften ist beispielsweise der Leistungsgedanke ein hoher Wert. Wer hart und erfolgreich arbeitet, ist meist gut angesehen. Passend dazu stellt auch Geld einen hohen Wert dar, dessen Erwerb alles untergeordnet wird. Oft sogar die eigene Gesundheit. Der von außen sichtbare Wohlstand ist der höchste Wert.

Andererseits werden Werte ständig neu verhandelt. In einer Gesellschaft, in der jeder Mensch über ausreichend Geld verfügt, wird vermutlich der Wert von Freizeit höher gewichtet. Gleiches gilt, wenn es nicht genug Arbeit für alle gibt. Wenn sehr viele Menschen alleine leben, wird der Wert von Familie sinken. Je mehr Menschen ein hohes Alter erreichen, desto wertvoller werden Gesundheits- und Pflegeleistungen. In einer Wissensgesellschaft genießt Bildung einen hohen Wert.

Werte altern und sterben

Andere Werte wie Glaubwürdigkeit und Vertrauen werden ständig untergraben, solange es einer Gesellschaft hauptsächlich um den wirtschaftlichen Aspekt geht. „Krumme Geschäfte“ auf allen Ebenen führen den Menschen tagtäglich die Absurdität eines Staatswesens vor Augen. Schlimmer noch: Es macht sie zu Komplizen, die mehr und mehr auf die ursprünglichen Werte einer Gesellschaft pfeifen. Denn sie werden von Politik und Wirtschaft durch Werbung und Öffentlichkeitsarbeit belogen. So beginnen auch sie zu lügen und zu betrügen, weil sie der Gesellschaft, in der sie leben, keinen großen Wert beimessen.

Es scheint sogar, dass ein Staatswesen mit zunehmendem Alter an Wert verliert, wenn es nicht grundlegend erneuert wird. Seine Strukturen verkrustet, seine Regeln verwirren und es ist nur noch eine leere Hülle, die einer ausufernden Bürokratie als Rechtfertigung ihrer Existenz dient. Mit ihr verblassen seine einst strahlenden und alles verbindenden Werte. Das ist eine überraschende Erkenntnis: Werte altern und sterben. Wieso auch nicht? Sie haben einen Lebenszyklus von ihrem Entstehen bis zum Vergehen. Denn sie sind von Menschen gemacht und unterliegen damit dem menschlichen Werden. Oft über Generationen. Manchmal werden sie sogar neu belebt. Einige sind universell und passen in jedes Zeitalter, auch wenn sie gelegentlich andere Namen bekommen. Gehorsam ist ein solcher Wert. Heute sagt man eher, du musst dich anpassen oder deinen Teil zum Team beitragen. Doch gemeint ist Gehorsam, nur ist das Wort nicht mehr opportun.

Andere Werte werden bei Bedarf hervorgeholt, wie Vaterlandsliebe für das Opfer des eigenen Lebens in Kriegszeiten und das Ehrenwort für die eigene Glaubwürdigkeit, dass aber durch Missbrauch ziemlich in Verruf geraten ist.

Die Macht, Werte zu setzen

Es gibt also Werte für jeden Bedarf. Sie dienen dazu, Menschen zu bestimmten wünschenswerten Verhaltensweisen zu veranlassen. Wer die Macht hat, Werte zu setzen, kann die Menschen in seinem Sinne manipulieren. Doch wer hat die Macht dazu?

Die erste Erfahrung eines jeden Menschen mit dieser Macht geschieht in der Familie. Denn Eltern haben die Macht, ihre Kinder zu einem Benehmen zu erziehen, dass ihnen geboten erscheint oder mit anderen Worten: dass ihre Werte umsetzt. Meistens lauten sie: höflich, strebsam, fleißig, folgsam und ähnliche Adjektive. Doch in der Familie geschieht auch etwas anderes. Die Kinder lernen, wie subjektiv Werte ausgelegt werden, dass es darauf ankommt, wer die Werte einfordert und wer sie leben soll. Eltern sind nicht unbedingt das beste Vorbild. Ehrlichkeit? Wenn da nur die Geschichte mit dem Weihnachtsmann wäre. Doch dass sich alle in der Familie lieb haben, stimmt leider auch nicht. Was sind das für komische Anrufe, die Mama immer erhält und von denen Papa nichts wissen darf? Warum kommt Papa aus der Firma kaputt und verärgert nach Hause, wenn doch Feiß und Strebsamkeit zum Erfolg führen, der angeblich so viel Spaß bringt? Die Ungereimtheiten sähen schon früh Zweifel.

Ein Entkommen gibt es nicht. Kindergarten, Schule: alle Institutionen setzen Werte und wachen über ihre Einhaltung. Sie sind unentrinnbar, weil alle Beschäftigten selbst an diese Werte glauben und nach ihnen leben, auch wenn sie ihnen nicht immer gerecht werden. Sie verinnerlichen sie als Orientierungspunkte und Halt, damit sie wissen, wonach sie streben und wogegen sie verstoßen.

Die Kinder werden hineingeworfen in diese Welt der Werte mit ihrer Strenge, ihren Ausnahmen und all dem schlechten Gewissen, wenn den Werten nicht genügt wird. 

Ausnahmen haben ihren eigenen Wertekanon. Welche Ausnahmen sind wie und weshalb erlaubt? Wer darf sich wann darauf berufen und wer nicht? Es ist alles furchtbar kompliziert. Und warum? Man könnte es als eine Art Eingangstest bezeichnen. Nur wer in einer Gesellschaft zu Hause ist, versteht die Unterscheidungen und Feinheiten. So schaffen Werte ein Gefühl der Zugehörigkeit und geben andererseits unmissverständlich zu verstehen, bis zu welchem Punkt eine Gesellschaft bereit ist, Fremde und Außenseiter zu tolerieren.

Werte erfinden sich neu

Doch die Ausnahmen haben auch eine negative Wirkung, denn wo überhaupt Ausnahmen möglich sind, da wird es Menschen geben, die zu ihrem Nutzen oder dem ihrer Gruppe nach weiteren Ausnahmen suchen – und sie entweder finden oder selbst kreieren. Das setzt eine Spirale in Gang, die zwischen Werten und Ausnahmen einen unbeschreiblichen Wust an Regeln produziert, der in letzter Konsequenz alle Werte ad absurdum führt. Ein Sieg der Bürokratie und ihres obersten Wertes: der Intransparenz, um die Verwaltung dauerhaft wachsen zu lassen.

In diesem Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung werden Werte frenetisch beschworen, an die sich nur noch Bürger halten, denen es ein Anliegen ist, treu dem Staat zu dienen. Alle anderen machen die Ausnahmen von den Werten zur Regel und nutzen die Inkompetenz, die durch die Intransparenz der Bürokratie entsteht, zu ihrem Vorteil.

Dabei zeigt sich eine neue, überraschende Eigenschaft von Werten: Sie passen sich nicht nur den Umständen an, sondern erfinden sich neu.

Wie bereits erwähnt, gibt es keine Person, keine Gruppierung, kein Volk ohne Werte. Deshalb ist es ohne Belang, wie sich eine Gesellschaft entwickelt. Auf jeden Fall wird sie über Werte verfügen. Selbst in den online Welten des Internets wird über Werte im digitalen Zeitalter diskutiert und es gibt an vielen virtuellen Orten so genannte Nettiketten, also Benimmregeln für das Verhalten im Cyberspace. Die Menschen beginnen ganz von selbst, nach Werten zu suchen. Ob sie auch eingehalten werden, steht letztendlich auf einem anderen Blatt.

Die sozialen Medien haben den Wertekanon der menschlichen Gesellschaft sowieso nachhaltig verändert. Telefonate sind beispielsweise nicht länger privat. Sie werden in der Öffentlichkeit geführt. Unter anderem laut und deutlich in der Bahn und alle hören zwangsläufig mit, welche Tabletten die Freundin nimmt. Selbst Wohnungen sind nicht mehr geschützt, weil Gäste Fotos vom Essen machen und posten. Es ist inzwischen wichtiger, Follower zu informieren, als persönlich zusammen zu sein. Hinzu kommen Hasskommentare, Cybermobbing und ähnliche Erscheinungsformen der modernen Kommunikationswelt.

Dienstag, 27. Dezember 2022

Die göttliche Macht ist die Menschheit selbst

 

Offenbart sich Gott durch einen Sonnenstrahl in einem Wald am Fluss oder bilden wir uns das nur ein
Ein wichtiger Mittler zwischen dem Ich und den Anderen sind die Geschichten, die sich die Menschen seit Urzeiten erzählen. Sie verbinden die gesellschaftlichen Bruchstücke des kollektiven Stroms zu sinnvollen Einheiten, die beispielhaft fiktive Menschen in Situationen beschreiben, die mit dem Gedankengut des kollektiven Stroms experimentieren. Mal verstoßen sie gegen Werte, mal leben sie nach ihnen. Dem Publikum werden alternative Möglichkeiten angeboten, die sich durch die Wahl der Masse verwirklichen oder verschwinden. Dabei haben manche gesellschaftliche Gruppen größeren Einfluss auf die Gestaltung von Werten. Politische und wirtschaftliche Eliten zum Beispiel.

Der Mensch betet den Menschen an

In diesem Zusammenhang fällt Religion eine tragende Rolle bei der Auswahl gesellschaftlicher Werte aus dem kollektiven Strom zu. Ihre Bedeutung erwächst aus der Fähigkeit, das Bewusstsein des kollektiven Stroms zu einer übernatürlichen Erscheinung abseits jeder menschlichen Erfahrung zu verklären, die sich nicht nur dem menschlichen Einfluss entzieht, sondern auch mystische Eigenschaften besitzt.

Doch die beschworene göttliche Macht ist die Menschheit selbst. Sie ist die Instanz, die über jedem einzelnen Menschen steht. Nichts geschieht ohne Wissen und Zustimmung der Menschheit. Das Individuum verwirklicht sich durch seinen Beitrag zum gemeinschaftlichen Bewusstsein.

"Die Hölle, das sind die anderen", hat Sartre geschrieben. Er hätte genauso schreiben können: "Der Himmel, das sind die anderen." Es sind immer die anderen. Alles sind die anderen. Was das Individuum betrifft, kommt von außerhalb seiner selbst. Es kann nur verarbeiten und reagieren. Die Informationen erreichen das Bewusstsein von außerhalb. Selbst der eigene Körper steht in diesem Sinne außerhalb.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Menschen Götter benötigen, die dieses Außen, die das Andere symbolisieren und die Stelle einnehmen, für die es ansonsten keinen Namen gibt. Religion ist die Essenz des Blicks der Anderen. Die Menschen erkennen dadurch ihr Sein im Verhältnis zum Anderen und ihre eingeschränkte Freiheit durch den Anderen. Vielleicht ist es erträglicher, dafür ein Göttliches anzunehmen, als den anderen Menschen in Form seiner Massenerscheinung als Menschheit.

Religion ist also das übergeordnet Menschliche in mystischem Gewandt. Der Mensch betet, ohne es zu wissen, den Menschen an - und zwar in Form des Anderen, der ihn dabei erwischt, wie er durch ein Schlüsselloch späht. Der Mensch ist nicht allein, da ist jemand, der ihm auf die Finger schaut.

Die Werte sind göttlichen Ursprungs. Sie stehen über dem Menschen. Das bedarf keiner weiteren Erklärung. Religion verlangt nur einen Glauben und hat für Ungläubige keinen Platz. Das ist sehr simpel. Religion ist die Vereinfachung der menschlichen Lebensumstände auf ein paar Gebote.

Doch warum wenden sich dann immer mehr Menschen von Religion ab? Sie wenden sich nur von Kirchen ab, suchen aber nach Geborgenheit in einem Glauben, der ihnen Sicherheit im Anderen verspricht. Denn das ist Religion für den Einzelnen: Ein Mittel gegen das Alleinsein durch einen liebenden Anderen.

Sklaverei zieht sich durch die Geschichte der Menschheit

Brauchen wir den Anderen so sehr, dass wir auch bereit sind, ein mystisches Wesen an unserer Seite als Begleiter durch unser Leben zu akzeptieren?

Der Mensch muss arbeiten, um zu leben. Selbst wenn alles für ihn gemacht würde, müsste er doch eigenständig essen, schlafen, ausscheiden und seinen Körper pflegen. Schon aus dieser Notwendigkeit ergibt sich ein Lebensrhythmus, der zumindest vom Wert der Selbsterhaltung geprägt ist. Ein Wert, der uns vom Leben aufgedrängt ist und dem wir nur durch den Tod entfliehen können.

Dieser Grundwert ist der Ausgangspunkt aller menschlichen Existenz und jedes gesellschaftlichen Zusammenlebens. Denn ausgehend von der Notwendigkeit der Selbsterhaltung und damit auch der Fortpflanzung, besteht für Menschen die unüberwindliche Unausweichlichkeit des Zusammenkommens, der Kooperation und damit der Koexistenz zum Erhalt des Einzelnen und der Art.

Alle menschlichen Werte - von der frühesten Urzeit über die Antike und das Mittelalter bis in die moderne, von digitalen Technologien geprägte Zeit - entstanden und entstehen aus den Erfordernissen des arterhaltenden Zusammenschlusses der Spezies Mensch. 

Interessant dabei ist die Kopplung zwischen der Entwicklung der Menschheit und ihren jeweiligen Werten. Gut zu beobachten am Umgang mit Minderheiten und anderen Rassen. So zieht sich zum Beispiel Sklaverei durch die Geschichte der Menschheit. Zu allen Zeiten gab es unterdrücke Völker und Gruppen. Zuerst waren es die Unterlegenen eines Krieges, doch bald schon erkannten vor allem arabische, europäische und später auch amerikanische Mächte den wirtschaftlichen Wert von Sklavenarbeit. Sie erschufen ein System, in dem die Wissenschaft eine Begründung für die Ausbeutung von Menschen nach rassischen Merkmalen lieferte. Aus den durch Messung körperlicher Gegebenheiten entstandenen Rassetheorien leiteten sie Werte ab, die eine Versklavung oder andersartige Erniedrigung gewisser Menschentypen rechtfertigten und sogar als humanen Akt einstuften, weil bestimmte Rassen angeblich der Führung höher entwickelter Menschen bedurften. Der Öffentlichkeit wurden diese Ansichten mit Ausstellungen in sogenannten Menschenzoos nahe gebracht, die Ansichten manipulierten und damit Vorurteile schürten.

Auch die Religionen haben Sklaverei immer zu begründen gewusst. Meist dadurch, dass die Menschen, die zur Ware geworden waren, nicht den rechten Glauben hatten und zu ihrem Besten bekehrt werden mussten. Erst in der Sklaverei und durch den guten Einfluss ihrer Herren könnten sie zu vollwertigen Menschen werden. Zu allen Zeiten war Sklaverei mit religiösen und gesellschaftlichen Werten vereinbar. Wie kommt das?

Der oberste Wert der Menschen ist ihr Wohlergehen

Durch den Handel, den die Menschen mit ihren Werten treiben. Wie schon erwähnt, unterliegen Werte denselben Marktprinzipien wie alle menschlichen Produkte. Natürlich werden sie nicht in Geschäften oder an der Börse gelistet. Auch haben sie keine regulären Preise. Doch folgen Werte ebenso einem Lebenszyklus wie auch andere Waren.

Ja, Werte sind Waren. Selbst wenn nicht direkt mit ihnen gehandelt wird, so doch zumindest in untergeordneten Teilbereichen. Der Wert Klimaschutz ist im Moment vielleicht unverhandelbar, nicht jedoch CO2 Zertifikate sowie die Laufzeit von Kohlekraftwerken. Es gibt Erfordernisse, die mehr gewichtet werden. Die sichere und möglichst günstige Energieversorgung zum Beispiel.

Der oberste Wert der Menschen ist ihr Wohlergehen. Dazu gehören ausreichend materielle Ressourcen sowie die Sicherheit ihrer dauerhaften Verfügbarkeit. Alle anderen Werte gruppieren sich um diesen Zentralwert herum.

Selbstverständlich gilt das für den Durchschnitt der Menschheit, die Masse der Menschen. Extreme finden sich in beiden Richtungen: Personen ohne gesellschaftliche Werte und Personen, die Werte über ihr eigenes Leben stellen. Ein Beispiel für letzteren Typus ist die französische Philosophin Simone Weil. Sie hat für ihr „Fabrik Tagebuch“, in dem sie die Arbeitsbedingungen von Frauen in einem Industriebetrieb detailreich beschreibt, lange selbst unter schwierigsten Umständen in einer Fabrik gearbeitet. Darüber hinaus lebte sie in selbst gewählter Armut, kämpfte im spanischen Bürgerkrieg und emigrierte später als Jüdin nach England, wo sie im Alter von nur 34 Jahren an Tuberkulose starb. Ihr Weg war der politisch engagierte, spirituell geprägte Pfad der Erkenntnis zu einer höheren Einsicht. Werk und Leben sind bei ihr eins. Diese Authentizität verleiht ihr eine hohe Glaubwürdigkeit.

Dagegen gibt es keine Person ohne Werte. Da alle Menschen sich in Gruppen organisieren und diese Gruppen sich zwangsläufig Werte des Zusammenhalts geben. Allerdings mögen einige Gruppen unter Umständen außerhalb aller anderen einzelnen und gesellschaftlichen Gruppen stehen und nur ihre eigenen Werte akzeptieren. Sie gelten den anderen dann als „wertlos“, also ohne Werte, weil die Werte nicht übereinstimmen. Ein Zusammensein ist unmöglich. Übrigens auch mit Menschen, die gesellschaftliche Werte zwar akzeptieren, sie aber übersteigern. Sie sind zumindest anstrengend, oft unverständlich in ihrem rigorosen Verhalten. Denn jemand wie Simon Weil beharrt auf der bedingungslosen Einhaltung von Werten. Doch das führt eine Gesellschaft genauso in die Katastrophe, wie die Ablehnung ihrer Werte.


Sonntag, 18. Dezember 2022

Werte werden auf dem Markt gehandelt

 

Menschen finden sich zusammen, um bildlich mit Werten auf einem Markt zu handeln
Die Werte einer Gesellschaft sind festgelegte Regeln in Form von Gesetzen oder auch ungeschrieben, die jedes Mitglied kennen und befolgten sollte. Sie sind die rechtliche und ethische Grundlage des Zusammenlebens. Doch sie befinden sich in ständigem Wandel. Was heute gilt, kann morgen schon vergessen sein. Zum Beispiel: Die Jüngeren grüßen die Älteren und die Älteren bieten das "Du" an. Wer kennt das noch? Na, jedenfalls hält sich niemand mehr daran.

Wie kommt das? Welche Werte gehen und welche bleiben bestehen? Wer bestimmt darüber und warum?

Anscheinend gibt es eine Macht, die genügend Einfluss hat, mit der Zeit gewisse Anpassungen vorzunehmen. Adam Smith nannte sie die "unsichtbare Hand des Marktes". Für Karl Marx war es die Arbeitskraft. Hannah Arendt wies darauf hin, dass es wohl immer irgendeiner mystischen Erscheinung bedürfe, um alle Entwicklungen der Menschheit zu erklären. Ist das so oder gibt es bisher einfach kein schlüssiges Wort dafür?

Kollektive Strömung

Die "unsichtbare Hand" oder die „mystische Erscheinung“ sind sind nichts anderes als die Menschheit in ihrer Gesamtheit als sehr große Gruppe und möglicherweise auch regional unterteilt. Heute gibt es den Begriff „Schwarmintelligenz", wenn das Verhalten vieler zu einem sichtbaren Ergebnis in einem speziellen Bereich führt. Doch er trifft nicht den Kern der Veränderungen, die ständig in einer Gesellschaft vorgehen. 

Vielmehr ist es das gemeinsame Resultat jeder Arbeit, allen Handelns und jedes Gedankens, das sich in einer Tätigkeit äußert. Mit anderen Worten: Jedes Wirken eines Menschen führt im Zusammenspiel mit dem Wirken jedes anderen Menschen zu einem Impuls innerhalb der Gesellschaft. Die Vielzahl der Impulse steuern und formen nicht nur die Regeln des menschlichen Miteinanders, sondern sind auch Smith's "unsichtbare Hand des Marktes", Marx's "Arbeitskraft" und Arendt's „mystische Erscheinung“. Sie sind eine kollektive Strömung. Ihr verdanken die Menschen jede Entdeckung und Erkenntnis, jeden Fortschritt und Wagemut, leider auch jede Eroberung und jeden Krieg. Die kollektive Strömung - einer Rückkopplung gleich - beeinflusst umgekehrt auch wiederum ihrerseits das menschliche Denken und Handeln.

Doch bezieht sie auch die von der Menschheit erschaffene Dingwelt sowie die ungezähmte Natur mit ein. Alles und Jedes, bis zum Haustier, einem kleinen Insekt und der Blume auf einer Wiese, üben Einfluss auf Menschen und damit auf die kollektive Strömung aus.

Die Menschheit als kollektives Wesen

Sie unterteilt sich in Ästelungen und Verzweigungen. Zahlreiche Pfade enden bald und verlieren ihren Einfluss. Andere verstärken sich im Laufe der Zeit und bestimmen mit die Richtung, in die die Menschheit voranschreitet. Später nimmt ihre Bedeutung ab und neue Vorstellungen treten an ihre Stelle. Ein ständiges Aufflackern, Leuchten und Abdunkeln. Vielleicht lässt es sich vergleichen mit den vielen Lichtpunkten auf der Erde bei Nacht vom Weltraum aus betrachtet. Netzlinien aus Licht, eine fortwährende Veränderung. Mal schneller, mal langsamer, aber immer im Wandel.

Sollte es so einfach sein - die Menschheit steuert sich selbst durch ihr Tun und setzt dabei ihre Werte ganz nebenbei? Sie wären dann sozusagen ein Abfallprodukt. 

Oder funktioniert es genau umgekehrt: Die Werte entstehen im kollektiven Strom und daraus resultieren Arbeit und Handeln, Herstellung und überhaupt das ganze Sein der Menschen. Ist die Menschheit gar ein kollektives Wesen, ohne sich selbst als solches zu empfinden? Gerade die Menschheit, die sich viel darauf zugute hält, aus selbständigen Individuen zu bestehen.

Nun, es ist nicht auszuschließen, dass die Spezies analog zum digitalen System existiert. Statt An oder Aus, Null oder Eins, ordnet sie ihre menschlichen "Bits" und "Bytes" nach der Prämisse "Richtig" oder "Falsch". Wobei beides keine Konstanten, sondern Variablen sind, die durch den kollektiven Strom definiert werden. Er hat also nicht die Aufgabe, Ideen und Vorstellungen zu generieren, sondern Ideen und Vorstellungen, das Arbeiten, Handeln und Herstellen der menschlichen Individuen als "Richtig" oder "Falsch" zu bewerten. Das erklärt, weshalb nichts in der Gesellschaft je endgültig feststeht, sondern einem fortwährenden Wandel unterworfen ist. Jede kleinste Regung eines einzelnen Menschen wird begutachtet und bewertet. Ein Werden und Vergehen, das nur den einen Zweck hat: Die Menschheit sich alle Möglichkeiten aneignen zu lassen, die ihr Heimatplanet und später vielleicht das Universum ihr bieten. Niemand ist bisher in der Lage, dahinter einen Sinn zu erkennen, ohne auf einen mystischen Glauben zurückzugreifen. Es ist keinem Menschen möglich, sinnvoll über die Grenzbeziehung von Möglichkeiten und Sinn zu sprechen. Oder, wie Ludwig Wittgenstein schrieb: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."

Doch über den kollektiven Strom zu sprechen, ist durchaus möglich. weil er vor aller Augen existiert. Er gibt der Menschheit durch Ausschlussverfahren eine Richtung. Das erklärt auch, weshalb sich Gut und Böse nicht eindeutig definieren lassen. Die Begriffe sind nur eine Hilfsbewertung menschlichen Verhaltens, um ein Wertesystem implementieren zu können. Gut ist, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer festgelegten menschlichen Gruppe als gut angesehen wird. Das gleiche gilt für den Begriff Böse. Aus diesem Grund kann das Töten von Menschen einerseits unter Strafe stehen, zum anderen aber hoch angesehen sein und belohnt werden, wenn beispielsweise Staaten Krieg führen.

Gemeinsamkeiten bilden den Wertekanon

Das menschliche Verhalten passiert in einem Koordinatensystem der Gesetze, Regeln und Werte. Hält er sich daran, ist der Mensch geachtet. Verstößt er dagegen, wird er bestraft. Moral ist die Instanz, die über die Einhaltung der Werte wacht. Sie stellt keine eigenen Regeln auf, sondern wendet sie auf Individuen und Gruppen an.

Wie werden Werte in der Gesellschaft ausgehandelt? Wie jedes menschliche Produkt: Durch Nachfrage und Vergleich der Wertigkeit mit anderen Gütern. So war zum Beispiel der Missbrauch von Kindern im kirchlichen Umfeld nur deshalb über Jahrzehnte möglich, weil der Kirche ein hoher Wert zugemessen wurde und sie deshalb nahezu unantastbar war. Das übertrug sich auch auf ihre Mitarbeiter. Erst als Religion in der Gesellschaft eine geringere Rolle zu spielen begann und ihr Stellenwert allgemein abnahm, bröckelte die Unantastbarkeit und die Diskussion über Missbrauchsfälle begann. Jedoch nur zaghaft, was noch immer auf einen relativ hohen Wert von Kirche hinweist.

Es sind die Gemeinsamkeiten der Menschen, die den Wertekanon der Gesellschaft bilden. Weshalb das Konsumieren den höchsten Wert einnimmt. Denn das ist die Tätigkeit, die über Generationen, Geschlechter, Rassen und Nationalitäten hinweg die größte Gemeinsamkeit der menschlichen Spezies darstellt. Shoppen bereitet den meisten Menschen Freude, nur die Vorlieben für verschiedene Produkte unterscheiden sich.

Zurück zu den Werten. Im Grunde werden sie gehandelt, wie Aktien an der Börse. Genauso sind sie Trends unterworfen. Eine deutliche Schwankung ist beispielsweise bei der Bewertung von Homosexualität zu beobachten. Lange strafrechtlich verfolgt, mit vielen Versuchen, Betroffene medizinisch zu "heilen", gilt es heute als geradezu schick, schwul zu sein. Die Werte haben sich diesbezüglich fast in die entgegengesetzte Richtung verschoben. Die Minderheit von Homosexuellen und Transgender ist in der öffentlichen Wahrnehmung eine bedeutende Gruppierung, weil Gleichberechtigung heutzutage einen hohen Wert verkörpert. Deshalb setzen Unternehmen auf diese Zielgruppe und greifen sie in ihrer Werbung auf. Auch in Büchern und Filmen kommt sie verstärkt vor. Sie hat einen Wert, auch weil sie als einkommensstark mit hoher Kaufkraft gilt. Gesellschaftlich ging dieser Akzeptanz ein langer Kampf um Anerkennung voraus.

Der Blick der Anderen

Der Wertewandel ist ein Zusammenspiel gesellschaftlicher Kräfte. Ausgelöst durch Notwendigkeit. Die Emanzipation der Frau wurde von der Tabakindustrie gefördert, weil sie die selbstbewusste Frau als Kundin für sich entdeckt hast, was die Größte des Marktes auf einen Schlag verdoppelte. Sie schuf mit ihren Werbekampagnen neue Werte für Frauen, die sich bald darauf auch in Filmen und Magazinen niederschlugen. Eine frühe Parallele zum heutigen Aufstieg von Homosexuellen und Transgender zu gesellschaftlichen Ikonen.

Doch die Zeit muss reif für einen solchen Wandel sein. Was heißt das? Die kollektive Strömung transportiert bereits länger entsprechende gedankliche Fragmente. Der Blick der Anderen darauf ist der entscheidende Schlüssel für die Entwicklung einfachen Gedankenguts, das wie Treibholz zufällig dahin schwimmt, zu einer relevanten und schließlich gesellschaftsverändernden Idee. Denn bereits Sartre beschreibt eindringlich, dass ein Mensch, der durch ein Schlüsselloch blickt, vollkommen frei und nur er selbst ist. Doch sobald er sich durch den Blick eines anderen beobachtet fühlt, nimmt er sich selbst anders wahr, nämlich im Blick des anderen und beginnt vielleicht seine Schuhe zuzubinden, um diesem anderen nicht als Voyeur zu gelten.

So sondert der Blick der Anderen auch aus dem gedanklichen Treibholz des kollektiven Stroms allein durch seine Aufmerksamkeit einige Bruchstücke aus, die dadurch an Kraft gewinnen und im gesellschaftlichen Umfeld relevant werden. Wobei der Blick der Anderen der Blick jedes einzelnen Menschen ist, der nur im Verhältnis zu einem selbst nicht ein fremder ist. Der Blick eines anderen ist auch immer der eigene, der sich vom Sein des Selbst ab- und dem Außen zuwendet. Deshalb ist jedes Sein sowohl ein Ich als auch ein Anderer.