Montag, 31. Oktober 2022

Eine Maschine mit Charakter

Eine stilisierte Schreibmaschine, auf der ein Text in fremder Sprache hervorgehoben ist

Nachtrag zu "Das Fließband im Privaten"

Eine Schreibmaschine hatte den unbestreitbaren Vorteil, der Welt Worte deutlich hörbar einzuhämmern. Sie hatte nur diese eine Aufgabe - und sie bewältigte sie gut.

Der Schreiber war gezwungen, sich ganz auf seine Sprache einzulassen. Es gab nur ihn und die Schreibmaschine. Keine Ablenkung. An der Schreibmaschine war nichts umzuschalten. Sie hämmerte ausschließlich Buchstaben auf Papier. Man musste sich vollständig auf sie einlassen und auf sie konzentrieren, sonst war man verloren. Sie war eine Maschine mit Charakter.

Heutige Computersysteme mischen sich in die Sprache ein. Sie besetzen die Sprache, indem sie Vorgaben machen und den Schreiber korrigieren. Was als praktischer Nutzen daherkommt, mischt sich in Wirklichkeit ein. 

Uns kommt die Sprache abhanden. Noch Schimmer: Sie wird uns entzogen.

Zum Text Das Fließband im Privaten


Foto: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=100769

Sonntag, 30. Oktober 2022

Das Fließband im Privaten

Ein fliegender Bot gleitet durch die Luft - er erinnert an eine Mücke oder ein ähnliches Insekt
Das Fließband ist eine Errungenschaft der Produktivität. In großem Stil vor mehr als einhundert Jahren eingeführt, vergrößert es bis heute den Ausstoß an Waren enorm. Gleichzeitig macht es die Arbeiter zu willfährigen Handlangern, die ihr berufliches Dasein bei immer denselben Handgriffen fristen. Humorvoll dargestellt im Film Moderne Zeiten von Charles Chaplin.

Natürlich gibt es für die Menschen am Fließband auch Vorteile. Zumeist vergleichsweise gute Bezahlung, Sicherheit im Umgang mit den an sie gestellten Anforderungen und keine Notwendigkeit, eigenständig zu denken. Viele Arbeiter sind mit diesen Bedingungen mehr als zufrieden. 

Die digitale Technik verlagert nun die Reflexe der Fließbandarbeit in das Private. Ein "Pling!" und einstudierte Handgriffe werden zur Anwendung gebracht: Greifen, Wischen, Tippen. Ein "lol" hier, ein Emoji dort. Ein Selfie, ein Foto vom Essen, eine kurze Sprachnachricht. Millionenfache Wiederholungen weltweit. Zufällig und austauschbar die Menschen, denen die verkümmerte Aufmerksamkeit gilt.

Nachrichten werden abgearbeitet. Oder vielleicht sogar: Das Leben wird abgearbeitet in den Nachrichten. Gibt es überhaupt ein Leben, ohne die Mitteilungen darüber? Die Frage ist wichtig: Inwieweit formt das Fließband des gewaltigen Stroms an Worten unser Leben? Ist es eventuell ein Malstrom, in dem die Menschen zerrieben werden?

Die Ressource Mensch wird ausgebeutet

Die Transparenz eines jeden Lebens für die Öffentlichkeit ist ein neues Phänomen. Noch vor einem Jahrzehnt blieb das Private auch privat. Die wenigsten Menschen waren in den Medien präsent. Der Austausch von Neuigkeiten beschränkte sich auf das Festnetztelefon und persönliche Kontakte. Selbst Familie und Freunde bekamen nicht alles von einem Menschen mit, weil vieles in Vergessenheit geriet, bis es hätte geteilt werden können. Jeder hatte eine wirkliche Privatsphäre. Deshalb war auch die Volksbefragung 1987 ein großer Streitpunkt. Die Bürger befürchteten damals, zu viel von sich preisgeben zu müssen.

Heute geben die Menschen freiwillig weitaus mehr Informationen heraus. Im Akkord. Die Digitalindustrie hat einen Weg gefunden, die Ressource Menschen auszubeuten, ohne dass es zu Protesten kommt. Im Gegenteil: Die Nutzer sind glücklich, sich der Welt mitteilen zu dürfen. (Nachzulesen bei Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus Verlag 2018)

Kaum eine Zeit, in der nicht nach dem mobilen Gerät gegriffen wird, um zu tippen. Gleich nach dem Aufwachen, beim Frühstück, mitten in Gesprächen, während der Arbeit und beim Sport. Alles ist wichtig, muss sofort gelesen und beantwortet werden. Der Computer ist das Mittel zum Tratschen.

Das verwundert nicht. Schließlich haben die Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach die Sprache entwickelt, um sich darüber auszutauschen, wer mit wem befreundet oder verfeindet ist. Ob gerade ein wildes Tier die Gruppe angriff, war weniger entscheidend, als die sozialen Kontakte untereinander. (Siehe dazu Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, Deutsche Verlags-Anstalt 2013, Seite 35 ff.)

Die Angst, ausgeschlossen zu sein

Das Bedenkliche ist also nicht der Klatsch und Tratsch via Internet. Es ist die Banalität der groben Fließbandarbeit, zu der ein Austausch zunehmend verkommt. Jemand steht vor der Tür und postet: "Ich bin gleich da." Die Antwort erfolgt prompt: "Wie schön!" Da schellt auch schon die Klingel. Beim Essen dann: "Das muss ich mal kurz lesen." Es geht um den Sport am Abend, eine Zutat zum Kochen, den Kommentar zum neuesten Foto. Das alles würde einen Aufschub dulden. Aber nicht im Kopf des Empfängers, der wie ein Pawlowscher Hund reagiert, sobald das "Pling!" ertönt.

Es gibt keine ruhige Minute mehr am Tag. In der Bahn, auf öffentlichen Plätzen, selbst in Geschäften werden pausenlos Mitteilungen ausgetauscht. Eine permanente Inanspruchnahme, zumal der Absender eine baldige Reaktion erwartet. Deshalb sofort der Griff zum mobilen Gerät. Die Angst, Entscheidendes zu verpassen - schlimmer noch: ausgeschlossen zu sein.

Die Welt des mobilen chattens - so wird suggeriert - ist eine große Gemeinschaft. Wer nicht dabei ist, bleibt allein. Das möchte niemand. Jeder will am Leben der anderen teilhaben. Von der Geburt bis zum Tod wird alles digital erfasst. 

Doch Stück für Stück entgleitet uns dabei das Leben. Schon, weil die ständige Onlineverfügbarkeit sehr viel Zeit kostet. Sie zieht die Aufmerksamkeit auf sich und damit von anderen Beschäftigungen ab. Ein schnelles Telefonat, eine kurze Nachricht - kein Problem. Doch vervielfacht auf zahlreiche Menschen, ergibt das Stunden der Ablenkung. Das Leben wird vom digitalen Fließband diktiert. Vieles findet nur wegen oder durch den mobilen Computer statt. Mittlerweile ist es die Inszenierung für andere, die zählt, weniger ein Erlebnis an sich.

Abgrenzungen verwischen

Ziehen wir allerdings in Betracht, die Nutzer möchten diese digitale Fließbandarbeit, dann ist dagegen nichts einzuwenden. Oder muss man die Menschen vor sich selbst schützen? Vielleicht schon. Doch keiner wird das in diesem Fall wagen. Zu groß sind die wirtschaftlichen Interessen. Vor allem: Wer so mit sich selbst beschäftigt ist, wie der digitalisierte Mensch, stellt die Interessen von Politik und Wirtschaft nicht infrage. Ebensowenig, wie die Arbeiter nie den Akkord am Fließband grundsätzlich infrage gestellt haben.

Es bleibt das ungute Gefühl, dem gesellschaftlichen Fließband, das mehr und mehr ins Private greift, nicht entkommen zu können. Denn auf den mobilen Computer zu verzichten, ist kaum möglich. Beruflich wird die Verfügbarkeit rund um die Uhr stillschweigend erwartet. Die Abgrenzungen verwischen. Noch abends auf dem Fußballplatz wird gearbeitet, während im Büro schnell die Familienzeit in Planung ist.

Das Fließband läuft 24 Stunden auf Hochtouren, 365 Tage im Jahr. Selbst im Schlafen schrecken die Menschen auf. Den es macht "Pling!" Und es könnte wichtig sein.

Nachtrag zum vorliegenden Text Maschine mit Charakter

Samstag, 29. Oktober 2022

Die Wiederentdeckung des Füllfederhalters

 

Stilisierte Handschrift auf einer weißen Banderole auf schwarzem Hintergrund
Überhaupt die Wiederentdeckung der Handschrift. Ohne Autokorrektur und in einem ganz eigenen Stil.

Welch weiten Weg sind wir seit der Erfindung der Schrift gegangen: Von Ton und Stab über Papyrus und Federkiel, Bleistift und Füllfederhalter bis zum mobilen Computer, der uns die Rechtschreibung vorschreibt und das Denken abnimmt.

Kulturkampf per Fingertip

Viele Schüler sind heute schon nicht mehr daran gewöhnt, ohne Unterstützung zu schreiben. Ihre Texte bestehen oft aus unverständlichen Wortneuschöpfungen, die einen Sinn schwer entzifferbar machen. Dafür beherrschen sie das Tippen mit zwei Daumen in Perfektion und verwenden spielend eine unüberschaubare Zahl von Emojis.

Kulturelle Fertigkeiten verschieben sich. Eltern, die als Kinder Ärger bekamen, weil sie Comics lasen, erleben heute, wie ihre eigenen Kinder und Enkel per Bildchen kommunizieren. Und natürlich per Video. Neulich wurde eine Schule weltweit bekannt, weil ein muslimisches Mädchen von der Toilette aus ohne Kopftuch ein Modevideo gepostet hat. Kulturkampf per Fingertip.

Zurück zur Handschrift. Was geht uns alles verloren, wenn wir nur noch in mobile Geräte tippen? Die Handarbeit. Das sinnliche Erleben des Übergangs von gestaltlosen Gedanken zu einem greifbaren Eintrag auf einem Stück Papier, handgeschöpft vielleicht, das sich glatt, fest und doch zugleich empfindlich anfühlt. Das einen Geruch hat und eine Oberfläche, die den Fluss der Tinte aufnimmt und Gedanken damit ein Aussehen verleiht, eine Erscheinung in Form einer ganz eigenen, einmaligen Handschrift.

Genau genommen ist eine handschriftliche Textseite auch ein Bild. Jede einzelne Seite ist ein Bild. Diese Bilder erzählen Geschichten. Ein Leser muss sich nur die Mühe machen, sie zu - lesen. 

Literatur löst kaum noch Debatten aus

Schrift ist beständig. Noch nach fast 5000 Jahren wissen wir von der historisch ersten Autorin, die ihr Werk namentlich gezeichnet hat: En-hedu-ana, Hohepriesterin des Mondgottes Nanna in der südmesopotamischen Stadt Ur. In sehr persönlichen Texten trägt sie mit viel Leidenschaft ihre Gefühle vor, darunter trübe Gedanken über Leiden und Schicksal, über menschliches Tun und göttliche Vergeltung.

Was für ein Unterschied zu den vergänglichen 24 Stunden von Snapchat. Heutige Geschichten sind dagegen bloße Wegwerfprodukte. Sie werden konsumiert, kaum aufgenommen und nicht diskutiert. Literatur löst keine hitzigen Debatten mehr aus.

Nur, weil die Handschrift verlorengeht? Na klar, wir verlieren den direkten Bezug zu unseren festgehaltenen Gedanken. Die Mitteilung ist zur digitalen Massenware geworden. Leser können nicht sicher sein, die originalen Worte eines Mitmenschen zu lesen. Selbst der kleine Eingriff der Autokorrektur verändert alles. Es gibt keine Streichungen mehr, keine Gelegenheit, Veränderungen im Text nachzuvollziehen. Ganz abgesehen von den zum Teil sinnentstellenden Neuworten. Gedanken werden zensiert. Möglicherweise noch nicht mit der Absicht einer Zensur, aber doch ist es ein Eingriff, der verfälscht. 

Gedanken in der Hand behalten

Wir leben also in einer Zeit der massenhaften Verfälschung. Der Sinn menschlicher Gedanken wird ständig entstellt - und die Nutzer finden das vollkommen normal. Sie wollen es sogar ausdrücklich. Denn sie ersparen sich die Auseinandersetzung mit ihren eigenen Texten. Damit aber auch mit ihren ureigensten Gedanken. Sie lassen zu, von einem Algorithmus bevormundet zu werden.

Es ist auch nicht nur die Autokorrektur. Längst werden ganze Texte von Computern geschrieben und Videos von künstlicher Intelligenz produziert. Die Menschen lassen sich im wahrsten Sinne des Wortes ihre Gedanken aus der Hand nehmen. 

Deshalb ist die Handschrift wichtig. Um die eigenen Gedanken in der Hand zu behalten.

Die unverwechselbare Signatur des Schreibens

Gut, es gab bereits die Entwicklung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Schon dadurch wurde Literatur zur Massenware. Aber sie blieb wenigstens Handarbeit. Selbst die Zensur musste mit eigener Hand eingreifen. 

Das Unheimliche heute ist das Heimliche. Ohne Handschrift keine sichtbaren Veränderungen. Ob Mensch oder Computer: Bei einem getippten Text ist die Typografie dieselbe, jede Handschrift dagegen einzigartig. Die unverwechselbare Signatur des Schreibers. 

Also kehren wir zurück zum Füllfederhalter, der geschmeidig in unserer Hand liegt und mit dem Fluss seiner Tinte unseren Gedanken schwungvoll Kontur verleiht. 

Der Charme der Handschrift ist ihre Unvollkommenheit. Die Streichungen im Geschriebenen, die verschmierte Tinte irgendwo, der Knick im Papier. All das sind wir, das ist authentisch menschlich. Der glatte Text, fehlerfrei durch moderne Technik, korrekturgelesen und hinterfragt von einem Algorithmus, ist es hoffentlich nicht.