Samstag, 11. Februar 2023

Die verlorenen Seelen

 

Der Ich-Erzähler bei Proust ähnelt in gewisser Weise Don Quichotte, der einer eingebildeten Gesellschaft dient

Leidenschaften und Begierden

Der Mensch ist verzweifelt auf der Suche nach dem Menschen. Wo findet er ihn, wo verliert er ihn wieder? Marcel Proust sucht in der Vergangenheit. Er rekapituliert, was es mit der menschlichen Gesellschaft auf sich hat. Mit dem Blick des kranken, bettlägerigen Autors durchdringt er nach und nach die Oberfläche des Beziehungsgeflechts und stößt in den darunter liegenden Schichten auf den eigentlichen Antrieb des Menschen: seine Leidenschaften und Begierden. Es ist das Unerhörte, in dem der Mensch den Menschen findet und wieder verliert.

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kommt so monumental, so verwirrend wie die Gesellschaft selbst daher. Was sollen die überlangen Sätze und die verschachtelte Struktur? Anfangs bleibt das Werk eher unverständlich. Doch je weiter der Leser sich vorwagt, ohne Geduld und Mut zu verlieren, desto mehr begreift er den Zusammenhang zwischen Sprache und Erzählung, zwischen den Bildern der Handlung und eigenen Gedanken, die er sich über Orte und Figuren macht. Er taucht ein in die Welt, fremd und fern, doch seltsam vertraut. Die Welt der menschlichen Gesellschaft.

Die Vergangenheit beschreibt die Gegenwart

Zwar ist bei Proust die Welt in den französischen Adelskreisen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt. Doch das Buhlen um Anerkennung, Freundschaft und Förderung, die Angst vor Ausgrenzung, Ablehnung und üblem Gerede ist auch heute allgegenwärtig. Selbst wenn sein Roman inzwischen mehr als einhundert Jahre alt ist, beschreibt Proust de facto jede menschliche Gesellschaft. Denn das Spielen von Rollen, die Verleugnung des wirklichen Lebens, das Herumscharwenzeln, um sich gegenseitig doch zu erkennen und das Fallen von Masken in manchen Situationen, sind auch den Menschen im Hier und Jetzt bestens vertraut.

Wenn der Ich-Erzähler sich danach sehnt, in die adlige Gesellschaft seiner Zeit aufgenommen zu werden, wird der Leser gewahr, wie sehr er selbst darum kämpft, dazuzugehören. Es ist fast ein persönlicher Erfolg, als der Autor es endlich schafft, eine Einladung in einen bekannten Salon zu erhalten. Staunend tritt er ein und der Leser staunt mit ihm.

Es eröffnet sich eine geheimnisvolle Welt, die bisher hinter undurchdringlichen Türen fest verschlossen war. Der Erzähler wird in diese Welt eingeführt und verweilt von nun an in ihr. Es ist ihm ein großes Vergnügen und er ist stolz von den Menschen, die er bewundert, anerkannt zu sein. Eine Weile genießt er den Umgang und der Leser mit ihm.

Bald setzt jedoch Ernüchterung ein. Was sind das für Gespräche? Worum geht es eigentlich? Die Herzogin von Guermantes, die der Erzähler angehimmelt hat und deren Erscheinen auf der Straße er lange nicht hatte abwarten können, entpuppt sich als charmante, aber auch ein wenig langweilige Gastgeberin. Die Empfänge in ihrem Salon sind Rituale, die feste und erstarrte Regeln befolgen. Gespräche sind eine Aneinanderreihung leerer Floskeln. Besonders deutlich wird dies später im Roman bei der Diskussion über die Dreifuß-Affäre. Ausgetauscht werden Allgemeinplätze. Jeder vertritt eine Meinung, auf der er beharrt. Es gibt keinen großen Unterschied zu einer Stammtischdiskussion über die Politik der Gegenwart.

Die Leiden der Eifersucht

Proust entwickelt sich immer mehr vom Teilnehmer zum Beobachter der Gesellschaft. Er hat sein Ziel erreicht, bald werden seine Besuche in den Salons zur verpflichtenden Routine. Selbst am Strand in Combray holt ihn die Last seiner Bekanntschaften ein. Wobei er mit Baron de Charlus auf eine interessante Persönlichkeit trifft, die im weiteren Verlauf des Romans eine herausragende Stellung einnehmen wird. Denn dieser Charlus ist nicht das, was er vorgibt zu sein. 

Doch zunächst lernt der Ich-Erzähler die Leiden der Eifersucht kennen. Er versuchte seine Geliebte Albertine einzusperren, damit sie immer bei ihm ist. Geht sie aber aus, ist er unruhig und vergeht vor Phantasien, mit welchen anderen Männern sie sich vergnügt. Sehen sie sich wieder, macht er ihr bittere Vorwürfe. Sie hält es nicht lange mit ihm aus, während für Proust die Eifersucht ein tiefes Gefühl ist.

Wo finden wir einen Menschen, wo verlieren wir ihn wieder? Für Proust sind es die Leidenschaften, die Menschen zusammenbringen oder trennen. Wie bei Swann, der aus Eifersucht unstandesgemäß geheiratet hat und dafür von der Gesellschaft missachtet wird.

Baron de Charlus geht einen anderen Weg. Er spielt die Rolle des männlichsten Mannes. Bis er in einer Schlüsselszene des Romans einer zufälligen Bekanntschaft sein wahres Ich enthüllt. Die beiden schwulen Männer erkennen sich und verschwinden in einer Wohnung im Hinterhof.

Ein langer Weg für Autor und Leser

Es ist der Schein, den Proust nach und nach aufdeckt. Selbst langjährige Freundschaft ist in der Gesellschaft nichts als Schein. Denn als der todkranke Swann einen letzten Besuch bei seiner Freundin, der Herzogin von Guermantes, macht, wird er aus Zeitgründen hinauskomplimentiert. Allerdings hat die Herzogin genug Zeit, um die Schuhe zu wechseln, damit sie zu ihrem Kleid passen. Diese roten Schuhe der Herzogin von Guermantes sind das Symbol schlechthin für die Oberflächlichkeit in den Beziehungen der Menschen. 

Tatsächlich ist es die Zeit, die alternde Gesellschaft, die sich selbst entblößt. Als der Ich-Erzähler nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt zurückkehrt, ist er entsetzt über das greise Aussehen seiner Bekannten. Bis er zufällig in einen Spiegel blickt und sich selbst im Alter erkennt.

Vielleicht lehrt die Zeit den Menschen, dass er nie auf der Suche nach anderen ist, sondern immer nur nach sich. Die Gesellschaft mag zerfallen, wie bei Proust durch den Ersten Weltkrieg. Der Autor hat aus diesem Grund sein Werk um einen weiteren Band fortgeführt. Nur, um die von ihm beschriebene Gesellschaft endgültig zu zertrümmern. Der alternde Baron de Charlus verliert im Sado-Maso Club den letzten Rest seiner Würde. Die Unzulänglichkeiten der Gesellschaft treten in aller Brutalität zu Tage.

Es ist ein langer Weg für Proust und seine Leser vom neugierig tastenden Eintritt in die Gesellschaft über das genaue Kennenlernen und die spürbare Langeweile bis zu ihrem Untergang durch Alter, Krieg und Tod.

Der Mensch jagt auf der Suche nach Menschen an ihm vorbei. Denn es sind nur Vorstellungen, um derentwillen er sein Leben führt. Und diese Vorstellungen erweisen sich allzu oft als Chimären. Während am Wegesrand die eine oder andere Blume erblüht, an der die Menschen meist achtlos vorübergehen.

Erst im Rückblick erkennen sie, was sie hatten und was sie übersehen haben. Es sind die eigenen Unzulänglichkeiten, an denen sie scheitern und die sie in die Gesellschaft tragen, die schließlich nur das Produkt all der Menschen ist, die sie ausmacht. Allein durch die menschlichen Schwächen ist die Suche nach Menschen vergebens. Denn sie suchen nach vollkommenen Menschen und finden doch immer nur Teile, während anderes sie abstößt oder ihnen Schwierigkeiten bereitet.

Der Erste Weltkrieg ist der alles entscheidende Wendepunkt

Exemplarisch macht Proust das in der Person des Baron des Charlus deutlich. Er tritt als arroganter alles beherrschender Mann auf und ist hinter der Maske seiner Rolle doch mehr als unglücklich. Folgerichtig reißt ihm der Erzähler am Ende des Romans die Maske vom Gesicht und es bleibt nur noch ein alter, viel zu dick geschminkter Mann, der sein Leben damit verschwendet hat, sich zu verstecken und aus seinem Versteck heraus nach Menschen zu suchen, denen er sich zu erkennen geben durfte. Der Gesellschaft untergeordnet, die er selbst mitbegründet hat.

Dadurch wird deutlich, dass nicht der Mensch im Mittelpunkt steht sondern die Intuition, die Gesellschaft als solche. Oder mit anderen Worten: die Masse. Der einzelne Mensch genießt nur manchmal ihre Gunst. Für einen kurzen Moment wird er zu ihrer Inkarnation, zu der Gestalt, die von der Masse gewollt ist. Ein wenig später sind die fünf Minuten seines Ruhms auch schon wieder vorbei.

Bei Proust ist der alles entscheidende Wendepunkt der Erste Weltkrieg. Er verändert alles. Die Gesellschaft huldigt neuen Günstlingen. Der Adel geht als führende Schicht unter und verharrt in starren Ritualen und Erinnerungen. So enden nicht nur individuelle Leben. Eine ganze Epoche findet einen jähen Abschluss im Untergang des alten Europa.

Nur eines ändert sich nicht: Der Mensch ist noch immer verzweifelt auf der Suche nach Menschen.

Wo findet er ihn in der heutigen Gesellschaft? Wo verliert er ihn wieder? Die Fragestellungen bleiben dieselbe. Insoweit ist der Roman von Marcel Proust auch in unserer Zeit sehr aktuell. Er löst die Fragen natürlich nicht. Aber er gibt Hinweise. Und das auf eine sehr tiefgründige, lesenswerte Art. Hat der Leser sich erst an Prousts Stil gewöhnt, sind die rund viertausend Seiten „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ein wahrer Genuss und keine – verlorene Zeit.

Dienstag, 7. Februar 2023

Werte geben Halt und Struktur

 

Eine Gesellschaft ähnelt einer Stadt mit schiefen Häusern, haltlos ohne Werte, aber auch verbogen von Werten

Werte verlängern Krieg

In beiden Weltkriegen galten hohe Werte: Treue, Loyalität, Ehre, Vaterlandsliebe, Selbstaufopferung, Kameradschaft, Gehorsam und so weiter. Es waren Werte, die zu Kriegen gehören und sie befördern. Sie waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der Gesellschaft implementiert. Davon zeugt zum Beispiel der Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann. Der Staat war hierarchisch organisiert und auch die Zivilgesellschaft hatte eine militärische Attitüde. Die Werte wuchsen Jahrzehnte in Frieden heran und wurden nicht für einen Krieg geschaffen. Sie führten in den Krieg, weil sie langfristig dafür geeignet waren.

Auch wenn der Kriegsbeginn letztlich von Regierungen vollzogen wurde, jubelte doch auch das Volk. Die Grausamkeiten entbehrten zu Beginn jeder Vorstellung und als sie offenkundig zu Tage traten, griffen die oben genannten Werte, um den Krieg um jeden Preis fortzuführen.

Werte sind stärker als jede Vernunft

Es ist eine komische Sache mit den Werten. Fast scheint es, als seien sie der Geist, der Gutes will und Böses schafft. Sie geben den Menschen Halt und Struktur, aber sie führen sie auch in den Abgrund. Das war noch mehr im Zweiten Weltkrieg der Fall, denn er wurde als Vernichtungskrieg angelegt. Nicht nur Soldaten gingen in den Tod, sondern auch Millionen von Zivilisten, die ermordet wurden. Und auch hierfür gab es Werte, die angenommen und befolgt wurden. Einer der obersten Werte hieß Pflichterfüllung. In seinem Namen machte die Masse den Wahnsinn mit. Jeder einzelne hat in seinem Umfeld dazu beigetragen. Dieser Wert der Pflichterfüllung war so stark, dass noch Jahrzehnte nach dem Krieg Deserteure verunglimpft wurden, obwohl sie im Kleinen dazu beigetragen hatten, den Krieg ein wenig früher zu beenden. Dennoch galten sie lange als Vaterlandsverräter.

Manchmal sind Werte stärker als jede Vernunft. Das ist schwer zu ertragen, weil Werte grundsätzlich als positiv angesehen werden. Doch das ist nur die menschliche Sichtweise. Tatsächlich sind Werte, wie schon erwähnt, neutral. Sie sind Container für menschliche Vorstellungen von wünschenswertem Verhalten. Wenn die Menschheit in ihre Ansicht schwankt, so schwanken auch die Werte.

Eventuell sind die Werte eine Maßzahl für den Zustand der menschlichen Gesellschaft in einem bestimmten Augenblick ihrer Geschichte. An ihr lassen sich Denken und Handeln der Menschheit ablesen. Allerdings ist dabei Vorsicht geboten, denn was heute als schrecklich gilt, war zu seiner Zeit vielleicht eine neue Errungenschaft.

Container menschlichen Verhaltens

Werte kommen aus der Zeit und gehen in die Zeit. Selbst die beständigsten verändern zumindest ihren Habitus, selbst wenn sie vom Grundsatz bleiben. Werte sind opportunistisch und launisch. War es lange üblich, dass Männer Krawatte tragen, ist es im Moment eher die Ausnahme. Doch genauso gut kann sich dies in absehbarer Zeit auch wieder ändern. Dann wird plötzlich schief angesehen, wer keine Krawatte trägt.

Es ist schwer, den Werten zu folgen. Wer weiß schon in jedem Augenblick, was richtig oder falsch ist. Ob ein Werte gilt und falls es gilt, wie schlimm ein Verstoß gegen ihn ist. Manche Werte werden nie für einen Moment hochgehalten, um dann wieder fallengelassen zu werden. Andere dulden keinen Widerspruch. Meist ist das Vergehen nicht der Verstoß gegen einen Wert, sondern sich dabei erwischen zu lassen. Überhaupt sind diejenigen, die Werte besonders preisen, meist auch diejenigen, die sie in unbeobachteten Momenten mit Füßen treten. Aber unter Umständen macht erst die Möglichkeit des Verstoßes Werte wirklich stark.

Wenn Werte Container menschlichen Verhaltens sind, stellt sich die Frage, auf welche Weise sie bepackt, gestapelt, transportiert, umgestellt und schließlich ausgepackt werden. Wie gelangen Werte aus dem kollektiven Strom in die Container, in Umlauf und schließlich in Gebrauch? Welche Kräfte wirken, wie tragen Menschen dazu bei?

Jeder Mensch besitzt einen Container voller Werte. Er enthält eine Mischung aus allgemeinen und veränderlichen Werten, wobei es selbstverständlich Überschneidungen gibt. Alle diese Werte stammen aus dem kollektiven Strom. Der Unterschied zwischen Ihnen ist die Verinnerlichung durch die einzelnen Menschen. Es ist individuell, wer welchen Wert besonders lebt, andere akzeptiert und viele mehr oder weniger außer Acht lässt.

Erfahrung ist ein Treiber für den Wertewandel

Da der Mensch zum Träger und Übermittler seiner Werte wird, beeinflussen sich die Wertcontainer über die Menschen gegenseitig. Freunde und Familie teilen oft Werte und sind sich deshalb besonders nah. Andererseits entstehen aus unterschiedlichen Werten Zwistigkeiten und Streit.

Zurück zu den Containern. Sie sind nicht ein für alle Mal gepackt. Es findet ein ständiger Austausch zwischen ihnen statt. Das führt manchmal zum Ausspruch: „Ich erkenne dich gar nicht wieder!“, wenn Menschen sich verändert haben. Veränderung hat sehr viel mit einem persönlichen Wertewandel zu tun.

Einer der stärksten Treiber für den Wertewandel ist Erfahrung. Je mehr Einflüssen ein Mensch ausgesetzt ist, desto mehr unterschiedliche Werte lernt er kennen. Manchmal passt er seine Werte darauf hin an, ein anderes Mal lässt er sich von neuen Werten überzeugen. Vielleicht ernährt er sich nur noch vegetarisch oder engagiert sich aktiv in einer Partei. Ganz gleich was es ist, im Laufe des Lebens ändern und ergänzen sich die Werte eines Menschen immer wieder. Das führt zu neuen Freundschaften, während andere enden. Übrigens wird als Langweiler bezeichnet, wer ein gleichförmiges Leben führt. Dieser Mensch hält an denselben Werten fest und verändert unumstößlich nichts.

Manche Container werden also einmal gepackt und sind dann auf immer geordnet. Andere quellen förmlich über von einer bunten und oftmals neuen Mischung von Werten. Es ist, als hätte einer seinen Container fest verschlossen und den Schlüssel weggeworfen, während einige seiner Mitmenschen gar nicht erwarten können, immer wieder umzupacken.

Dienstag, 31. Januar 2023

Die Masse kreiert Werte aus dem kollektiven Strom

 

Einer Discokugel nicht unähnlich, fließt der kollektive Strom durch eine Gesellschaft und transportiert seine Werte
Werte bilden das Gerüst eine Gesellschaft. Aber eines, dass oft erweitert und umgebaut wird. Dadurch ist es nur bedingt verlässlich. Deshalb prallen verschiedene Generationen aufeinander. Sie leben nach unterschiedlichen Werten. Sicher gibt es Überschneidungen, aber ebenso gewaltige Unterschiede. Die sind auf die Trends zurückzuführen, kreiert von der Masse aus dem kollektiven Strom.

Die Kulturindustrie ist ein wichtiger Partner bei der Vermittlung von Werten

Auch Massen sind zu differenzieren. Sie setzen sich fortlaufend neu zusammen. Dabei gibt es zwei Hauptgruppe von Massen: welche, die sich bewusst zusammen finden und Massen, die sich zufällig ordnen. Oft erfüllen Massen auch beide Voraussetzungen. So sind die Mitglieder einer Partei eine organische Masse, auch wenn sie sich nicht immer einig sind. Doch sie agieren nach einheitlich Regeln und Werten. Dagegen sind die Besucher eines Konzerts zwar eine Masse, die sich zu einem bestimmten Zweck zusammengefunden hat, aber sie haben außer dem Musik Geschmack nichts gemeint. Nur im Konzert selbst agieren die Besucher als Masse, die schon in der Pause zerfällt.

Das Wesen der Masse ist ihre Unbeständigkeit. Das liegt daran, weil die Masse selbst keine Werte vertritt. Sie ist Empfänger und Übermittler von Werten, die ihren Angehörigen vertraut sind. Zum einen schöpft sie aus dem kollektiven Strom, darüber hinaus nimmt sie Werte einzelner Menschen auf und verbreitet sie innerhalb der Gruppe. Dabei ist wiederum die Kulturindustrie ein wichtiger Partner bei der Vermittlung von Werten. Sie ermöglicht es, dass kleine Gruppen und sogar einzelne Werte setzen können, solange sie sich bei ihr Gehör verschaffen. Doch auch diese Werte fallen natürlich nicht vom Himmel, sondern sind Fundstücke aus dem kollektiven Strom.

Erinnerung ist eine wichtige Eigenschaft des kollektiven Stroms. Er bewahrt, was war, über einen sehr langen Zeitraum. Seine Speicher sind Aufzeichnungen, fossile Ablagerungen, klimatische Rückstände, mündliche und kulturelle Überlieferungen, Bilder, archäologische Funde, Kunst und Experimente. Das Zusammentragen der menschlichen Herkunft schärft den Blick auf Werte und dokumentiert deren Entwicklung. Besonders in der Bestrafung bei Überschreitung von Werten blickt der Mensch auf sich selbst. Denn häufig sind es nicht die Werte, die sich verändern, sondern der Umgang mit Wertverlust. Diebstahl, Raub und Todschlag wurden schon immer bestraft. Doch heute werden Motivation und Verfassung des Täters berücksichtigt. Es gibt Hoffnung für ihn. Auch hier zeigt sich der gesellschaftliche Blick auf Minderheiten, der Gründe für Nachsicht und Förderung sucht. Früher wurden Randgruppen auf die ein oder andere Weise aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Im Moment geht es um Schutz und Integration.

Heute ist Gewaltfreiheit ein hoher Wert

Dieser Wertewandel war ein langer Prozess, der viele Opfer gekostet hat. Auf das Extrem des Völkermords folgt ein Schutzrecht für alle Menschen. Gerade kommen so wenig Menschen die noch nie in der menschlichen Geschichte gewaltsam ums Leben. Bedeutet das, Werte wandeln sich von einem Ansatz, den Menschen zu zähmen und zu züchtigen, ihn regelrecht zu bekämpfen, um seine Seele zu retten, zu einer lebensbejahenden Freiheitlichkeit, die den Menschen per se als wertvolles Wesen betrachtet?

Der Mensch ist Nutznießer einer Entwicklung, die erst fast unmerklich, dann drastisch sein Leben verändert hat und weiter verändert. Das betrifft vor allem die Notwendigkeit des Lebens: die Arbeit für den Lebensunterhalt. Diese Arbeit macht heutzutage bei vielen nur noch einen Bruchteil der tatsächlichen Arbeitszeit aus. Selbst Geringverdiener arbeiten einen beträchtlichen Teil für Güter, die nicht unbedingt notwendig sind. In vielen Teilen der Welt können sich die Menschen über ihren notwendigen Lebensunterhalt hinaus viele Dinge leisten. Der Warenaustausch ist global organisiert, so dass die Verbraucher relativ gleichmäßig davon partizipieren. Damit entfällt ein wichtiger Grund für Gewaltanwendung. Wem genug zum Leben und darüber hinaus zur Verfügung steht, muss sich Dinge nicht gewaltsam beschaffen. Im Gegenteil: Gesellschaften, in denen die meisten Menschen immer weniger für ihren notwendigen Lebensunterhalt arbeiten müssen, erheben Gewaltfreiheit zu einem sehr hohen Wert, weil sie Sicherheit in der Dingwelt bietet, die alle Besitzer schützt.

Wieso kommt es trotzdem zu Gewalt? Abgesehen von grundsätzlich gewaltbereiten Menschen, die es in jeder Gesellschaft gibt, ist für einige Gewalt Teil ihrer für den Lebensunterhalt notwendigen Arbeit. Es lockt Reichtum, zum Beispiel im Drogen – oder Menschenhandel. In diesen Nischen besteht Nachfrage, entsprechend aktiv sind auch Lieferanten.

Werte müssen akzeptiert sein

Darüber hinaus entsteht Gewalt hauptsächlich aus ethnischen, religiösen sowie politischen Gründen. Ebenso zählt das Bestreben von Staaten dazu, Territorien und Einflussbereiche zu erhalten oder zu erweitern. Im weitesten Sinne sind auch dein Verteilungskämpfe, die sicherstellen, dass es innerhalb einer Gesellschaft ausreichend Güter und Arbeit gibt. Dementsprechend ist Gewalt Ausdruck ungleiche Verteilung auf verschiedenen Ebenen. Selbst ethnische und religiöse Konflikte zeigen Ängste innerhalb einer Gesellschaft vor Verlust der lebensnotwendigen Dinge. Gewalt dokumentiert Ungleichheit. Sie stellt einen Verlust von Werten dar, beziehungsweise ihre Anpassung an eine gewaltbereite Umgebung.

Werte erhalten ihre Gültigkeit durch die Akzeptanz der Menschen. So gesehen kann auch Gewalt einen Wert darstellen. Die Masse setzt die Werte durch ihr Verhalten.

Doch obwohl es möglich ist, Werte frei zu wählen, gibt der kollektive Strom nur diejenigen Werte frei, die der Entwicklung einer Gesellschaft nützlich sind. Das ist schwer zu verstehen. Ganz besonders mit Blick auf die beiden Weltkriege. Millionen Menschen starben und es gab unglaubliche Gräueltaten. Wie konnte es zu diesem Wertewandel kommen?